Paul Scheerbart
Der Kaiser von Utopia
Paul Scheerbart

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8. Der Volksgeist

An dem ersten Sonntag Vormittag nach dem Frühlingsfeste saß Philander in seinem großen Bibliothekssaale wie ein einfacher Privatmann ohne Greisenhaar vor seinem zehn Meter breiten Schreibtisch und las in der neusten Ausgabe des utopianischen Konversationslexikons unter »Volksgeist« u. A. das Folgende:

»Als es vor vier Jahrhunderten unter Kaiser Kasimir dem Ersten modern wurde, den Volksgeist immer höher einzuschätzen und ihm schließlich eine göttliche Verehrung entgegenzubringen, da dachte natürlich Niemand daran, die einfachen tierischen Instinkte eines unentwickelten Volkes als göttliche Angelegenheit zu bezeichnen und einzuschätzen. Überall – in den ersten wie in den späteren Grundlagen unserer utopianischen Religion, die dem Volksgeiste göttliche Verehrung entgegenbringt, wird der Volksgeist immer als ein »Geist« aufgefaßt, der nicht blos in dem Volke, sondern auch über dem Volke lebt – gleichsam eine ätherische Bildung, die Alles durchdringt und Allem die Richtschnur gibt, ohne die Einzelerscheinungen in ihrem Individualisierungsbestreben wesentlich zu behindern. Der von den Utopianern göttlich verehrte Volksgeist ist im Grunde genommen ebenso gut ein unbekannter allmächtiger Gott – wie die gesamten Götter der Vorzeit. Wir haben überall Volk und Volksgeist als zwei wesentlich von einander unterschiedene Begriffe aufzufassen und zu behandeln.«

Philander hielt mit dem Lesen inne, schüttelte den Kopf und telephonierte nach seinem Zeremonieenmeister Kawatko.

Kawatko kam sofort, der Kaiser bot ihm eine Zigarre an und rauchte selber auch und zeigte dem Kawatko einen Brief, den er an den Oberbürgermeister von Schilda geschrieben hatte.

Kawatko las und lachte und sagte:

»Ja – willst Du denn den Schildbürgern wirklich so heftig auf den Kopf hauen – blos dafür, daß sie einen Titularverein und einen Uniformverein gegründet haben?«

»Ich«, erwiderte Philander, »habe etwas mehr mit den Schildbürgern vor. Ich las hier im Konversationslexikon so viel vom Volksgeiste – und halte es doch für sehr bemerkenswert, daß sich die Schildbürger so kühn vom Volksgeiste emanzipierten, obgleich sie dadurch doch blos Kummer und Elend geerntet haben.«

Kawatko rauchte in langen Zügen und bemerkte dann leise:

»Willst Du vielleicht auch ein Schildbürger werden?«

»Ich werde«, versetzte Philander, »ein Jahr nicht Kaiser sein – und da könnte sich Manches ereignen.«

Da sprang der Zeremonieenmeister auf und drehte sich sechs Mal um sich selbst und schrie:

»Himmel! Wetter! Donner und Hagel! Ich sehe Dich schon – Dich, den Kaiser von Utopia, den die hundert besten Utopianer zu ihrem Kaiser machten – Dich, der Du auch zu den hundert besten Utopianern zähltest – als Oberbürgermeister von Schilda – von Schilda – die Sache kann lieblich werden – lieblich – lieblich.«

Philander stand auf und ging wortlos in seine Privatgemächer; Kawatko starrte ihm wortlos nach und faßte sich langsam an seinen alten Kopf.


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