Paul Scheerbart
Der Kaiser von Utopia
Paul Scheerbart

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43. Der Nachthimmel

Dem Herrn Bartmann fiels plötzlich wie Schuppen von den Augen; der Astronom Haberland kam ihm wie ein Erlöser vor. Und es währte lange, bis sich die Natur des Herrn Bartmann wieder konzentriert hatte; er kam sich so aufgelöst vor – er verglich sich mit einem Knoten, der von der Hand eines Zauberers ganz leicht auseinandergelöst wurde und nun als einfaches schlappes Tau daliegen muß und für Andre kein weiteres Interesse bietet.

Und der sonst so stolze Kaiser Philander verlor in ein paar Stunden sein ganzes Selbstbewußtsein, daß er dem Herrn Haberland mit einer Demut und Ehrfurcht begegnete, die etwas Kindliches hatte und sehr fein berührte.

Und so gingen die beiden Herren eines Abends im Schnee auf dem großen Balkon lebhaft gestikulierend auf und ab; sie hatten dicke Pelze und Pelzhandschuhe an und achteten nicht auf die rot glühenden Schneekuppen der großen Berge ringsum und auch nicht auf die Sterne des Himmels, die nacheinander sichtbar wurden und mächtig funkelten.

»Es handelt sich«, meinte Herr Haberland, »sicherlich immer wieder darum, die unbewußten Empfindungen und Vorstellungsverknüpfungen, die wir auch als Gedankenoperationen bezeichnen müssen, ins bewußte Augen- und Ohrenleben hineinzuziehen; wir müssen uns eben bemühen, immer mehr zu erwachen – um das aber zu können, müssen wir immer lebhafter die Traumzustände und die Tätigkeit der Sinne, die nicht Auge und Ohr sind, aus dem Dunkel der Nacht in die helle Beleuchtung rücken.«

Jetzt funkelte der Nachthimmel ganz hell, und die roten Gluten in den Berggipfeln wurden dunkler und dunkler, und der Herr Bartmann erwiderte erregt:

»Das ist die Beleuchtung dessen, was ich erstrebte; ich habe immer in unsicheren Konturen gefühlt, daß wir hinter die Sinneseindrücke kommen müßten; ich meinte natürlich nur: hinter die Augeneindrücke; die Ohreindrücke beachtete ich noch garnicht. Sie haben mir, Herr Haberland, das Allerwichtigste in meinem Leben gesagt; ich glaube tatsächlich, daß zunächst die Tätigkeit der anderen Sinne dem Augeneindruck einen Hintergrund gibt. Jawohl! Jawohl! Was für uns hinter dem einfachen Augeneindruck lauert – das sind immer die anderen Sinnesvorstellungen, die bei dem Augeneindruck mittätig sind, ohne daß wir ihre Mittätigkeit genau kontrollieren können. Aber nun die anderen Sinne! Glauben Sie nicht, daß wir noch andre Sinne haben können, von deren Dasein wir vorläufig noch keine genauere Vorstellung besitzen?«

Der Nachthimmel leuchtete, und der Herr Haberland erwiderte sehr schnell:

»Sie gehen zu schnell vor! Sie dürfen nicht vergessen, daß es die Idee unsres Schöpfers sein kann, uns allmählich immer wacher zu machen – aber nur allmählich – allmählich – damit wir auch Zeit haben, den ganzen Vorstellungsrausch, den uns das Weltleben bieten kann, in uns aufzunehmen. Es gehört was dazu, Herr Bartmann. Es wäre doch schlimm, wenn Alles so ohne Mühe ins bewußte kleine Augenleben umgesetzt werden könnte – wenn Alles so leicht kontrollierbar wäre – das würde uns doch keine Vorstellung von der Grandiosität des uns sich nähernden Weltlebens bieten.«

»Schon richtig«, erwiderte Herr Bartmann, »aber springen wir doch einmal. Gibt es im Traumzustande unbewußtes Weiterarbeiten der Sonne, so gibt es vielleicht im Todeszustande auch ein unbewußtes Weiterarbeiten der Sinne. Und vielleicht haben wir mal alle unsre Todeszustande ebenso gut in das Tageslicht des kleinen Auges hinüberzuziehen wie unsre Traumzustände. Können Sie sich unkontrollierbare Vorstellungsverknüpfungen im Todeszustande denken? Können Sie glauben, daß die Leiche eigentlich noch weiter lebt – ein anderes Leben?«

Die Sterne funkelten hoch über den beiden Herren, die mit ihren Pelzstiefeln durch den hohen Schnee stampften und sich dabei die Hände in den Pelzhandschuhen rieben, da es sehr kalt war. Und Herr Haberland sagte leise:

»Wie die Sterne leben, wissen wir auch nicht ordentlich. Aber daß sie leben, ist uns nicht zweifelhaft. Oh ja! Der Traumzustand, in dem wir uns befinden, ist für uns richtunggebend – das Leichenleben wird ein ähnliches sein wie das Leben im Traumzustande – ein entfernt ähnliches. Ich glaube, wir werden bald überzeugt sein, daß wir früher schon sehr oft gestorben sind. Ich glaube an eine Materialisation unsres Geistes – der könnte doch eine Ätherkomposition sein, die wir vorläufig mikroskopisch noch nicht wahrzunehmen vermögen. Manche Sterne kommen uns auch wie Leichen vor – wie Knochengerippe – und es ist doch nicht anzunehmen, daß sie tot sind. Ich glaube überhaupt nicht an den Tod.«

Da stürzten dem Herrn Bartmann die Tränen aus den Augen und froren auf der Backe an.

Herr Haberland aber fuhr fort:

»Sehen Sie blos, wie prächtig über uns die Sterne funkeln und blitzen! Was die erst im Traumzustande und im sogenannten Todeszustande erleben müssen! Aber seien wir nicht neidisch! Wir können wahrlich schon genug mit unsern Sinnen empfinden – wachend sowohl – wie träumend. Jawohl! Wir müssen immer weiter aufwachen. Wir müssen auch das Totsein dem Lebendsein immer mehr zu nähern suchen. Vielleicht entdecken wir in uns noch Dinge, die wir in früheren Todeszuständen in uns aufgenommen haben – und vermögen sie, unserm Augen- und Ohrleben anzupassen. Oh, wir können tatsächlich noch viel lebendiger werden – dazu brauchen wir noch garnicht einmal neue Sinne in uns zu entdecken. Es läßt sich doch alles Mögliche für jeden Sinn vernehmlich gestalten. Was da ist, läßt sich auch für jeden Sinn empfindbar machen. Wenigstens sollte mans meinen. Daß das nicht so schnell geht, ist ganz vortrefflich – denn wir haben schon genug des Feinen, wenn wir nur Auge und Ohr genügend schärfen und die anderen Sinne nicht vergessen.«

»Könnten Sie«, bemerkte da Herr Bartmann, »wohl annehmen, daß diejenigen Leute, die sich nicht bemühen, aus ihrem Leben die denkbar größte Fülle eines sogenannten Weltlebens herauszuziehen – daß diejenigen Leute, die zu faul sind dazu, durch längere Todeszustände bestraft werden könnten – oder überhaupt von jedem ferneren Erwachen ausgeschlossen werden könnten?«

»Von jedem nicht«, versetzte Herr Haberland, »denn der Geist, der uns schuf und uns sicherlich immerzu führt, hat ganz bestimmt keine kleinlichen rachsüchtigen Gedanken. Er straft nur, wenn wir ihn nicht empfinden, durch trübe Stimmungen. Aber diese trüben Stimmungen sollen uns nur wieder veranlassen, seine Nähe zu suchen.«

»Also«, rief nun der Herr Bartmann, »ist es jedenfalls ganz richtig von mir gewesen, wenn ich immer sagte, man müsse das Leben überall heftiger sehen; ich wollte ja nur populär ausdrücken, daß wir immer wacher – immer wacher leben sollten.«

»Ja«, versetzte Herr Haberland, »nun stellen Sie sich aber vor, was mir eben einfällt: Sie müßten zu dem Kaiser Philander nach Schilda fahren und ihn wacher machen. Der Kaiser müßte für Ihren Belebungsplan gewonnen werden; er müßte, so wie Sie, Herr Bartmann, überall herumfahren und den Leuten klar machen, daß sie zuviel schlafen und zu wenig dabei die Traumzustände ins wache Augenleben übersetzen. Und sie müßten dem Kaiser Philander sagen: so schlaf doch nicht hier in Schilda – der große Sumpf an der Sturmküste ist in Bewegung. Wer weiß, was daraus wird! Schlaf nicht, Kaiser! Jetzt kannst Du zeigen, daß Du nicht blos zum Spaße Kaiser genannt wirst. Jetzt kannst Du zeigen, daß Du ein Führer der Geister bist – ein Gedankenleser! Einer, der auch des Volkes Gedanken lenkt – so ähnlich wie's der große Geist tut, den wir Volksgeist nennen und als Gott verehren.«

Herr Bartmann blieb stehen. Die Sterne funkelten. Herr Haberland blieb auch stehen, und dann sagte der Herr Bartmann ganz leise und sich scheu umblickend:

»Kann uns hier Niemand hören? Können Sie mir schwören, über das, was ich Ihnen jetzt anvertrauen will, zu schweigen – unter allen Umständen?«

»Ich schwörs!« gab Herr Haberland leise zurück.

»Ich bin«, erwiderte da der Herr Bartmann noch leiser als vorhin, »selber der Kaiser Philander. Aber Sie dürfens Keinem sagen. In Schilda sitzt der Flugtechniker Sebastian und tut so, als wäre er Philander. Der Sebastian schweigt auch, und außer uns Dreien weiß Keiner von dieser Geschichte.«

Der Herr Haberland machte große Augen, sah den Kaiser fest an, reichte ihm die Hand und sagte einfach:

»Das freut mich! Das ist kaiserliche Art! So hätt ichs an Ihrer Stelle auch gemacht.«

Die Herren schüttelten sich die Hände in den Fausthandschuhen, und ein Unterbeamter steckte den Kopf zu einem naheliegenden Fenster hinaus und rief:

»Meine Herren, es sind 45 Grad Kälte! Sie müssen hereinkommen, sonst passiert Ihnen was.«

»Kommen Sie nach Ulaleipu?« fragte der Kaiser.

Aber der Herr Haberland schüttelte den Kopf und sagte leise:

»Ich bin hier dem Nachthimmel so nahe. Ich möchte nicht – wirklich nicht.«

Da gingen die beiden Herren Arm in Arm in die warmen Stuben hinein.


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