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VII.

Estrid und ich hatten mit unseren Vorbereitungen zum Umzuge alle Hände voll zu tun; wir freuten uns außerordentlich auf die heiteren Sommertage, die wir im Schutze schattiger Buchenwälder an den Ufern des Sundes zubringen würden. Meine Sehnsucht nahm mit jedem Tage zu, und ich zählte ungeduldig die Tage, welche noch bis dahin vergehen mußten. Endlich brach der selige Morgen, an dem die Sommerferien begannen, an. Das Wetter war frisch und klar, keine dunklen Wolken drohten mit Regen. Unsere Sachen wurden auf einen kleinen Umzugswagen geladen, der sie unter Annas majestätischer Aufsicht nach dem Zollhause fahren sollte; Estrid und ich verschlossen sorgfältig alle Türen und stiegen dann in die Pferdebahn, um gleichfalls nach dem Zollhause zu fahren. Hier trafen wir alle mit löblicher Pünktlichkeit zusammen, Ole Jensen lag mit seinem Boote da, Onkel ging auf dem freien Platze auf und nieder, und Anna kam mit den Sachen. Nun schifften wir die Ladung ein und begaben uns selbst an Bord, während Estrid und Anna mit dem Dampfer abfuhren, damit sie vor uns dort anlangten und uns in Empfang nehmen könnten. Estrid war beim Abschied ziemlich bewegt, ich tröstete sie und bat sie, guten Mutes zu sein, wir würden die Reise schon gut überstehen.

Ich sprang in das Fischerboot, das segelfertig war. Wir stießen ab und spannten das Segel aus; eine frische Brise brachte uns schnell vorwärts. Während ich mich, im Boote stehend, an dem Anblick der Langen Linie freute, an der wir vorbeifuhren, hörte ich hinter mir etwas poltern; es war Sören, Ole Jensens Bursche, ein manierlicher, ehrlicher Junge, der aber sicherlich auch noch nie »mit Herrschaften umgezogen« war, denn er hatte eben seine Holzpantoffeln so unsanft auf einen kleinen Spiegel gesetzt, daß dieser jetzt nur noch aus Scherben bestand. Ole Jensen gab dem Jungen sofort eine tüchtige Kopfnuß als Lohn für diese Tat, aber dadurch wurde der Spiegel nicht wieder heil.

Das Boot hüpfte munter über die schäumenden Wellen hin; Ole Jensen steuerte es mit großer Geschicklichkeit zwischen den vielen kleinen und großen Fahrzeugen hindurch. Ich freute mich über die Geschwindigkeit unserer Fahrt und sagte zu Onkel: »Wenn es so beibleibt, kommen wir zugleich mit dem Dampfer in Vedbaek an.«

Doch als wir uns außerhalb der Dreikronenschanze befanden, wurde der Seegang viel stärker, und es kam mir vor, als machte das Boot reichlich hohe Sprünge. Schwiegermutters Warnungen begannen mir schwer auf dem Herzen zu liegen, und ich wünschte aufrichtig, daß ich mehr Rücksicht darauf genommen hätte. Der Wind pfiff unheimlich durch das Takelwerk.

»Es hat doch keine Gefahr?« fragte ich Ole Jensen.

»Nicht die allergeringste, Herr, Sie können ganz ruhig sein; die Jolle ist nur ein bißchen lustig, das ist alles. Aber der andere Herr sieht aus, als befinde er sich nicht gut.«

Ich warf einen Blick auf Onkel, – er sah richtig nach schlechtem Befinden aus. Sein Gesicht war kreideweiß, und er hielt die Augen starr auf die weißen Wirbel in der See gerichtet.

»Wie geht's, Onkel? Dir ist doch nicht schlecht?«

Onkel nahm sich zusammen und antwortete mit unsicherer Stimme: »Ich habe es hier ganz gut; wenn das Boot nur – – nicht schaukelte, so – –« aber die mit dieser Rede verbundene Anstrengung brachte das Übel vollständig zum Ausbruche, so daß es sich nicht länger verheimlichen ließ.

Bei diesem Anblicke begann Sören laut zu lachen, aber Ole fuhr ihn an: »Was hast du zu grinsen, du Schafskopf!« – und es war für den Burschen gut, daß der Fischer mit dem Steuer unausgesetzt zu tun und folglich keine Zeit und keine Hand übrig hatte, um ihm die Ohren zu bearbeiten.

Die Seekrankheit hat etwas Ansteckendes; als ich den elenden Zustand, in dem Onkel sich befand, sah, verspürte ich auch allerlei seltsame Empfindungen. Ein heftiger Windstoß ließ das Boot sich stark auf die Seite legen, und hätte Sören sich nicht besser auf Segel, als auf Spiegel verstanden, so hätten Schwiegermutters trübe Ahnungen in Erfüllung gehen können. Nun richtete sich die Jolle wieder auf, aber gleich darauf ließ eine Sturzsee uns – nicht zum Frommen unserer Sachen – ziemlich viel Wasser zurück.

»Der Wind ist nach Nordosten herumgegangen«, sagte Ole Jensen mit einem prüfenden Blicke auf die unruhigen Wellen, die unser armes Schiffchen mit ungezügeltem Ungestüm hin und her warfen.

»Wann können wir in Vedbaek sein?« fragte ich.

»Das läßt sich nicht gut sagen, Herr, aber vor Mittag wird nichts daraus.«

»Wohin steuern Sie jetzt? Wollen Sie nach Schweden hinüber?«

»Wir müssen gegen den Wind kreuzen, das geht mit kleinen Rucken.«

Ein Endchen ging es nun in die See hinein; als aber das Boot über Stag wendete, rollten ein paar Stühle mit großem Gepolter herunter, wurden jedoch rechtzeitig festgehalten, bevor sie ins Wasser fallen konnten.

Ich bereute bitterlich, daß ich so eigensinnig auf meinem Entschlusse, zu Wasser umzuziehen, bestanden hatte, und ich sah ein, daß Estrid nicht unrecht gehabt, als sie zwischen Poesie und Wirklichkeit einen Unterschied hatte machen wollen, denn der gegenwärtige unselige Zustand schien mir lauter Prosa, ohne den kleinsten Schimmer von Poesie zu enthalten. Und die Prosa wurde um so drückender, je weniger Aussicht darauf vorhanden war, daß sie bald aufhören würde.

Wieder näherten wir uns der Küste. »Was ist das dort für eine Mühle?« fragte ich.

»Die Schwanenmühle«, lautete die Antwort.

»Sind wir noch nicht weiter? Sie liegt ja da, wo der Strandweg beginnt.«

»Es geht nur langsam; auf See muß man Geduld haben.«

»Können wir nicht für eine Stunde anlegen? Vielleicht flaut der Wind inzwischen ein wenig ab«, sagte ich.

»Land!« stöhnte Onkel.

»Der Wind nimmt eher zu, als ab«, erwiderte der Fischer.

Das war uns nur ein schlechter Trost. Die Aussicht auf die nahe Küste war so verlockend, daß ich nach einer kleinen Weile, als wir wieder nach dem offenen Sunde hinsteuerten und uns aufs neue von ihr entfernten, noch einmal diese Frage an den Fischer richtete.

»Ja, wenn der Herr es wünscht, können wir ja gern einen kleinen Abstecher nach der Schwanenmühle machen.«

»Lassen Sie uns das tun«, antwortete ich, nur danach trachtend, der gegenwärtigen Not zu entrinnen, und gar nicht daran denkend, was nachher werden solle.

Mit kräftiger Hand drehte Ole das knackende Steuer, das Boot wandte sich und flog, da es jetzt den Wind von hinten bekam, wie ein Pfeil auf das Land zu. Kaum hatten wir an dem kleinen Stege, der hier in die See hinausgebaut war, angelegt, so erkletterte Onkel ihn schleunigst, und ich war nicht faul, seinem Beispiel zu folgen.

»O wie gut ist es, wieder festen Boden unter sich zu haben!« rief er aus. Die Seekrankheit und der überstandene Schrecken hatte eine feierlichere Stimmung in ihm hervorgerufen, so daß er jetzt im Heldensagenstile redete. »Nicht bin ich ein so großer Tor, daß es dir gelingen könnte, mich wieder auf die tückischen Fluten hinauszulocken. Lieber will ich barfuß nach Vedbaek pilgern, als meinen Leichnam noch einmal dem vermaledeiten Boote anvertrauen.«

Ich hatte auch keine Lust, wieder an Bord zu gehen, und schlug daher dem Fischer vor, er solle mit seinem Burschen unsere Sachen nach Vedbaek bringen, wir würden sie dort abholen.

»Jawohl, Herr«, antwortete Ole, »aber – –«

»Was denn?«

»Bei diesem Winde werden sich die Sachen schwer an Land bringen lassen; er treibt die See stark gegen die Küste.«

»Sie können ja an der Vedbaeker Dampferbrücke anlegen.«

»Das ist zu weit vom Hause.«

»Was hatten Sie sich denn eigentlich gedacht?«

»Ich hatte gedacht, wir wollten unten bei mir anlegen und mit den Sachen an Land waten, aber sehen Sie, das läßt sich bei so unruhiger See, wie wir heute haben, nicht gut ausführen, denn die Betten könnten leicht naß werden, und das wäre doch nicht gut.«

»Ja, was tun wir dann?«

Ole kratzte sich nachdenklich den Kopf, antwortete aber nicht.

»Hör' einmal«, sagte Onkel, »ich glaube, es ist wahrhaftig das beste, daß wir die Sachen hier ausladen lassen und einen Wagen holen, der sie weiterbefördert. Diesmal sind wir und die Sachen noch mit heiler Haut – wenn ich den Spiegel ausnehme – davongekommen, darum ist aber noch nicht gesagt, daß es uns das zweite Mal ebenfalls glücken wird.«

Es war ein saurer Apfel, in den ich beißen mußte, aber mir blieb kein anderer Ausweg. Der Umzug zu Wasser, den ich so hoch gepriesen, endete damit, daß ich Landfuhrwerk nehmen mußte. Der Fischer erhielt seine versprochene Bezahlung und ging wieder in die See, Onkel blieb, einem Schiffbrüchigen gleich, am Strande sitzen, um aufzupassen, daß uns nichts von den Sachen gestohlen würde, und ich lief umher, um einen Wagen aufzutreiben, was mir nach längerem Umherlaufen – gegen gute Worte und gute Bezahlung – auch gelang. Die Sachen wurden aufgeladen, wir nahmen gleichfalls Platz, und dann rollten wir in ebenem, langsamem Schaukeltrabe nach dem Strandwege hinunter. Onkel ließ den Blick mit Wohlbehagen auf den weißschäumenden Wellenkämmen des dunkelblauen Sundes ruhen; er war seelenfroh, der See und den salzigen Wogen entronnen zu sein, ich dagegen ziemlich niedergedrückt, weil meine Pläne einen so prosaischen Ausgang genommen hatten und die Prosa obendrein durchaus nicht mit Ersparnis verbunden war.

Unser Herumstreifen zu Wasser und zu Lande hatte lange gedauert, der Nachmittag näherte sich stark seinem Ende. Je mehr wir uns unserem Ziele näherten, desto höher stieg Onkels Freude und meine Verlegenheit; ich grübelte nach, wie ich Estrid unsere mißglückte Seereise darstellen sollte, denn ich hatte ja offenbar eine Niederlage erlitten und jetzt galt es, mir einen einigermaßen ehrenvollen Rückzug zu sichern, um mich nicht selber zum Gelächter zu machen.

»Biegen Sie, bitte, in den Weg zur Linken ein«, sagte ich zum Kutscher, doch als ich in demselben Augenblicke dem Sunde, dem wir jetzt den Rücken kehrten, noch einen Abschiedsblick zuwarf, sah ich Estrid unten am Ufer stehen und, die Hand schützend über die Augen gelegt, unverwandt auf die See hinausblicken. Schnell sprang ich vom Wagen, bat Onkel, dem Kutscher das Haus zu zeigen und eilte zu Estrid hinunter. Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß ich mich ihr unbemerkt von hinten nähern und sie in die Arme schließen konnte. Mit einem lauten Aufschrei fiel sie mir um den Hals und brach dann in krampfhaftes Weinen aus.

»Aber liebste Estrid, – süßester Basilisk – was ist dir? – Es war auch dumm von mir, mich so heranzuschleichen und dich zu erschrecken.«

»O, das ist es nicht«, schluchzte Estrid, »aber – –«

»Um Himmels willen, es ist doch kein Unglück geschehen?«

»Nein, durchaus nicht«, antwortete Estrid, die sich jetzt wieder beruhigte und ihrer Erregung Herr wurde. »Du weißt nicht, welche Herzensangst ich deinetwegen ausgestanden habe. Als ihr zu Mittag noch nicht da waret, überfiel mich die Unruhe. Ich glaube, ich lief beinahe alle fünfzehn Minuten hierher, um nach euch auszuschauen. Dann fiel mir ein, daß Mutter uns erzählt, es seien hier schon so viele Boote verunglückt. Schließlich mußte ich ganz hier bleiben, ich war wie festgezaubert und hätte es in meiner entsetzlichen Angst und Not auch sonst nirgendwo aushalten können. Während der letzten Stunden hatte ich keine Hoffnung mehr, dich je wiederzusehen, ich war fast bewußtlos und starrte ganz mechanisch jedem vorbeisegelnden Boote nach.«

Mir war es gar nicht eingefallen, daß Estrid die Sache so ansehen würde, und ich drückte sie mit innigem Danke für ihre zärtliche Liebe an die Brust.

»Doch ich verstehe gar nicht, wie du von der Seite kommen kannst«, begann sie wieder. »Wo hat das Boot denn angelegt?«

Jetzt mußte ich alles eingestehen und erzählen, daß unsere Segeltour schon bei der Schwanenmühle aufgegeben worden und wir den übrigen Weg gefahren seien.

»Das ist schön!« rief Estrid aus. »Es war wirklich zu gut von dir, daß du auf die Segeltour verzichtetest, – dafür danke ich dir von Herzen.«

Ich fühlte mich über diesen Dank, den ich in keiner Beziehung verdient hatte, beschämt und gestand daher ein, daß ich mir diesen Plan doch nicht gründlich genug überlegt gehabt.

»O, jetzt wollen wir gar nicht mehr davon reden! – – Gott sei gelobt und gepriesen, daß ich dich wieder habe!«

Arm in Arm wandelten wir nach dem Rosenhause hinauf, wo Onkel und Anna uns empfingen. Onkel erzählte die Ereignisse der Fahrt sehr ausführlich, machte eine fürchterliche Beschreibung von dem »Sturme«, wie er es nannte, und schilderte unsere Landung bei der Schwanenmühle in dem Tone eines weitgereisten Mannes, der allerlei merkwürdige, ungeheuerliche Begebenheiten erlebt hat.

Unsere Sachen wurden jetzt vom Wagen abgeladen und in die Zimmer gebracht, wo Estrid es so gemütlich und hübsch einzurichten verstand, daß die Wohnung mir wie der reizendste Feenpalast erschien. Die beiden unteren Zimmer wurden als Wohn- und als Schlafstube eingerichtet; unter ihren Fenstern lag ein kleiner Garten mit Krauseminze, Goldlack und einer süßduftenden Rosenhecke. Das dritte, eine Treppe höher liegende Zimmer wurde Anna angewiesen; es war recht eng, aber vor dem Fenster winkten die schönsten grünen Bäume freundlich mit ihrem schattigen Blätterbehange.

Der Abendbrottisch wurde gedeckt, die rote Kupfermaschine funkelte lebhaft in den matten Sonnenstrahlen; Butter, Käse, Eier und frisches Feinbrot, hübsch auf dem weißen Tischtuche aufgestellt, waren angenehm anzuschauen. Den wünschenswertesten Appetit hatten wir alle, da wir ja kein Mittagessen bekommen hatten.

»War der Tag voller Unruhe und Mühsal, so ist der Abend doppelt so schön«, sagte ich, mir eine dampfende Tasse Tee einschenkend. »Wäre Schwiegervater hier, so würde er sein Latein et haec menimisse juvabit anbringen.«

»Ich aber rede dänisch«, begann Onkel, »und sage: Seeluft macht hungrig. Heute vormittag, als ich wie ein vom Winde verschlagener Schiffer auf der salzigen Flut hin und her geworfen wurde, war mein Mut sehr gesunken, jetzt ist er wieder gestiegen, und ich bin nun der Mann dazu, es mit mächtigen Brotschnitten aufzunehmen.«

»Eßt, liebe Freunde, eßt!« sagte Estrid. »Wir haben noch ein ganzes Roggenbrot draußen in der Küche.«

Wir streckten die Hände nach der nahrhaften Speise aus und sättigten uns gründlich. Eine Weile plauderten wir noch, dann wurde auf dem Sofa ein Bett für Onkel zurechtgemacht. Er machte einen Abendspaziergang, um sich die Umgegend anzusehen, während Estrid und ich uns auf die vor der Rosenhecke stehende Bank setzten. Mit untergehender Sonne hatte der Wind sich gelegt, alles atmete Frieden und Ruhe. Wir betrachteten, Hand in Hand dasitzend, die sich gegen den klaren Nachthimmel scharf abzeichnenden dunklen Laubmassen. Feierliche Gefühle durchdrangen uns, die schweigenden Wälder und Wiesen erzählten uns leise flüsternd von Frieden und Seligkeit. So saßen wir, von unaussprechlichen Ahnungen durchbebt, lange da, bis wir Schritte hörten und Onkel wieder zurückkehrte. Dann standen wir auf, sagten ihm gute Nacht und legten uns schlafen.

Zwitschernder Vogelgesang und muntere Sonnenstrahlen weckten uns am nächsten Morgen. Anfangs lag ich noch halb im Traume da und konnte mich nicht recht besinnen, wo ich mich befand, bis mir plötzlich das frohe Bewußtsein kam, daß ich ja auf dem Lande war. Und nun rief ich auch Estrid. »Wir sind auf dem Lande und müssen früh aufstehen, um den Morgen in seiner ganzen Frische zu genießen!« Dann steckte ich den Kopf in die Wohnstube, um auch Onkel aus seiner Koje zu jagen, fand aber, daß er schon aufgestanden war.

Es dauerte nicht lange, bis wir in dem kleinen Garten waren. Welch lebhaft erquickende Luft konnte man dort einatmen! Sie gab dem Körper doppelte Kraft und stimmte die Saiten der Seele zu selbstloser Freude. »Jetzt weiß ich, was Nektar und Ambrosia ist«, sagte ich zu Estrid, »es ist solche paradiesische Morgenluft gewesen – o, man kann sie beinahe schmecken –« und ich sog sie, wie um mich daran zu sättigen, mit vollen Zügen ein.

»Aber für uns Menschen ist sie doch eine zu luftige Speise«, antwortete Estrid, »und es wird daher wohl das Beste sein, daß ich gleich für unseren Morgentee sorge.«

Als der Tee fertig war, stellte auch Onkel sich ein. »Du bist heute früh aufgestanden«, sagte ich. »Das Sofa war reichlich hart, ich bin früh aufgewacht.« Estrid sprach ihr Bedauern aus, ich aber sagte: »Ei was, auf dem Lande muß man vorlieb nehmen, solch kleine Unannehmlichkeiten sind gerade die Würze der Freuden des Landlebens.«

»Ja, aber ich träumte immerfort, ich sei auf dem Wasser, und das war durchaus nicht angenehm. Mir war immer, als liege ich in einer Schiffskoje; schließlich mußte ich aufstehen und ausgehen, um mich zu überzeugen, daß ich wirklich auf dem Trocknen war.«

»Das waren die Nachwirkungen der Segelfahrt. Aber jetzt bleibst du heute wohl bei uns und wirst dann sehen, daß sich das Gefühl gibt.«

»Schönen Dank, aber ich muß notwendig mit dem ersten Dampfer nach der Stadt und habe keine Zeit länger zu bleiben.«

Wenn Onkel fort wollte, war es seine stehende Entschuldigung, er habe keine Zeit, während es für uns anderen ein ständiges Problem war, womit er eigentlich seine Zeit tot schlug. Wir wollten ihn jedoch nicht wider seinen Wunsch festhalten und sagten ihm deshalb Lebewohl, nachdem wir ihm für die geleistete Hilfe gedankt, ihm unsere herzlichsten Grüße an Mutter und die Schwestern aufgetragen und ihn gebeten hatten, ihnen zu sagen, daß wir uns sehr danach sehnten, sie bei uns zu sehen.

»Und nun sind wir allein, Estrid!« rief ich aus, als Onkel fort war.

»Und nun hast du Sommerferien«, antwortete Estrid, mir mit ihrer kleinen weichen Hand über die Stirn streichend, »nun brauchst du nicht mehr so angestrengt arbeiten und nicht in den heißen Mittagstunden durch die Stadt gehen, sondern kannst dich im kühlen Waldesschatten ausruhen.«

»Nun, ist es nicht schön, daß wir aufs Land gezogen sind? Und das war meine Idee!« sagte ich mit Selbstgefühl.

»Freilich, du hast ja alle guten Ideen«, meinte Estrid lächelnd.

»Ausgenommen die letzte, den Umzug zu Wasser, aber dafür habe ich jetzt die vorzügliche Idee, daß wir gleich in den Wald gehen und untersuchen wollen, was für verborgene Schätze er enthält.«

So gingen wir denn in den Wald. Wir blieben nicht auf dem breiten Fahrwege, der ihn durchschnitt, sondern schlugen einen Seitenpfad ein, der sich zwischen den hohen Buchenstämmen hinschlängelte und außerordentlich einladend aussah.

»Wie still und feierlich ist es hier!« rief Estrid aus, nachdem wir eine Weile gegangen waren. »Sieh, wie gedämpft das Sonnenlicht durch die dichten Zweige fällt und seltsame Ahnungen erweckt; man könnte beinahe glauben, daß hier wirklich Schätze verborgen sein.«

»Und das ist auch so«, dachte ich, sagte es aber nicht laut, »denn du bist hier, und du bist der süßeste und reizendste aller Schätze der Welt!«

Bald verließen wir auch den Fußpfad und gingen auf gut Glück in den Wald hinein. Das dürre Laub raschelte unter unseren Füßen, hin und wieder entfloh eine Eidechse oder ein anderes Tierchen, das unsere Schritte aufgescheucht hatten. Der Boden wurde stark hügelig und wir gelangten in einen Hohlweg, auf dessen beiden Seiten sich dicht mit Buchen und Erlen bewachsene Abhänge erhoben. Obwohl es mitten am Vormittage war und die Sonne hoch stand, war es hier ganz dunkel.

»Sieh, nun sind wir mitten im dunklen Walde«, sagte ich.

»Ich fange an, mich ordentlich zu fürchten«, erwiderte Estrid, sich umsehend.

»Warum? Du bist doch wohl nicht bange, daß wir hier jämmerlich verhungern müssen? Das ist nicht zu befürchten, solange wir uns auf seeländischem Grund und Boden befinden.«

»Aber, gesetzt, daß wir uns nicht wieder aus diesem Walde herausfinden.«

»Ich glaube nicht, daß der Wald größer ist als eine halbe Stunde Wegs weiter in dieser Richtung. – Siehst du, hier fängt es schon an, heller zu werden, – jetzt öffnet sich der Wald, und dort ist schon wieder die Landstraße. Komm, wir wollen uns auf diesen Eichenstumpf setzen und uns ein wenig ausruhen.«

Wir setzten uns; dicht neben dem Baumstumpfe wuchsen Vergißmeinnicht, die Estrid abpflückte.

»O, wie ist es doch schön, allein zu sein!« rief ich aus, indem ich meinen Hut abnahm, um meine heiße Stirn zu kühlen. »Denk nur, Estrid, wenn es außer uns beiden nun gar keine Menschen gäbe und man nicht mehr all die Dummheiten und Verdrießlichkeiten, mit denen die Menschen sich und andere totquälen, anzuhören brauchte, vom Unterrichte in der Schule befreit wäre, von allem, worüber die Zeitungen lärmen, nichts ahnte und von all dem Gezänke im Reichstage nichts mehr hörte, – denn dann gäbe es ja keinen Reichstag, keine Zeitungen, keine Schule und keine Menschen außer uns beiden, – o, wie wäre es dann schön und friedlich!«

»Aber dann existierten die Eltern, meine Schwestern und deine Brüder ja auch nicht«, wandte Estrid ein.

»Ja, die könnten gern leben, – und auch Onkel – und ein paar gute Freunde, aber keiner weiter. Noah und seine Familie müssen es doch im Grunde gut gehabt haben, als sie aus der Arche kamen und alle Mastodonten, alle Unruhstifter und alle Wichtigmacher ertrunken waren und keinen Ton mehr von sich gaben, – denk' nur, wie friedlich und ruhig es damals auf Erden zugegangen sein muß.«

»Es dauerte jedoch nicht lange, bis Unruhe und Unfrieden wieder eintraten«, meinte Estrid.

»Das ist wahr; das Böse wurzelt viel zu tief in der menschlichen Natur, als daß es auf die Weise hätte ausgerottet werden können. Viele würden vielleicht mit sich selber Streit anfangen, wenn keiner da wäre, mit dem sie sich zanken könnten; da wollen wir doch lieber mit anderen in Unfrieden und mit uns selber in Frieden leben. – Ich fange schon an zu wünschen, daß es außer uns beiden doch zum mindesten noch einen Menschen geben möchte, damit wir ein bißchen zu essen und zu trinken erhielten, denn ich bin sehr hungrig und durstig geworden.«

Wir gingen wieder weiter und fanden, nachdem wir reine Weile umhergestreift waren, am Rande des Waldes ein Bauernhaus, in welchem wir Milch und Brot und zugleich eine genaue Beschreibung des Weges erhielten.

»Die Frau hatte doch ein gutes Gesicht«, sagte ich im Weitergehen, »ich fange an, mich mit den Menschen wieder auszusöhnen. Es wird wohl am besten sein, wenn wir sie leben lassen und versuchen, uns nach Möglichkeit mit ihnen zu vertragen.

In sehr heiterer, vergnügter Stimmung kehrten wir gegen Mittag heim. Auch Anna war guter Laune und sprach ihr Zufriedensein mit dem Landaufenthalte aus.

Die folgenden Tage verbrachten wir damit, die nächste Umgebung abzustreifen und gründlich kennen zu lernen. Alle Wege und Stege wurden sorgfältig untersucht, damit wir später wüßten, wohin sie führten, und dabei stellte sich heraus, daß Estrid sich besser als ich zurechtzufinden verstand, da sie für jeden einzelstehenden Baum und andere derartige Kennzeichen einen viel schärferen Blick hatte. Wir hatten kürzlich in Kapitän Parrys Reisen in den Polargegenden zur Entdeckung der Nordwestpassage gelesen, wie er oft Sunde und Straßen zugefroren und durch Eisberge so versperrt gefunden, daß er unverrichteter Sache hatte umkehren müssen. Uns ging es auf unseren Wanderungen ähnlich, denn es kam ziemlich oft vor, daß ein Weg, dem wir lange gefolgt waren, in ein Torfmoor hineinführte oder ein Pfad sich plötzlich im hohen Grase verlor, und wir mußten dann wie Kapitän Parry einen anderen Durchgang zu finden suchen.

Unser erster Gang am Morgen war nach der See hinunter, um gleich einen freien, weiten Ausblick zu haben. Leichte Morgennebel verhüllten gewöhnlich die schwedische Küste, so daß wir uns die Aussicht weiter denken konnten, als sie war. Glänzend heller Sonnenschein lag über der See, auf der die Schiffe langsam hinglitten, und es belustigte uns, die auf ihnen wechselnde Beleuchtung zu beobachten, denn sobald eine kleine Wolke über sie hinzog, sahen die Segel schwarz aus, bis das Sonnenlicht wieder auf sie fiel und sie schwimmenden Schneebergen glichen. Oft mußten sie vor Gegenwind aufkreuzen, und dann schien ein großer Dreimaster gerade auf uns loszusteuern, bis er plötzlich wendete und wieder ins offene Meer ging.

»Ach, käme er doch nur und nähme uns mit! Dann könnten wir weit reisen und Italiens und Griechenlands Kunstschätze sehen!« rief ich aus.

»Wenn du mich nicht hättest, könntest du es sehr gut«, seufzte Estrid.

»Was hülfen mir alle Kunstschätze der Welt, wenn ich dich nicht hätte? Du bist mir mehr als Rom, Athen und Konstantinopel zusammen mit all ihren Herrlichkeiten.«

Estrid legte ihren Kopf an meine Schulter und sah unbeschreiblich glücklich aus.

Am Sonntagmorgen standen wir früh auf; Estrid pflückte Feldblumen, band Sträuße von Mohn, Kornblumen und weißen Ringelblumen und schmückte unsere Zimmer damit, um ihnen ein recht festliches Aussehen zu geben. Dann gingen wir zur Kirche; sie lag ziemlich weit entfernt, und wir mußten uns daher rechtzeitig auf den Weg machen. Nachdem wir eine Strecke gegangen waren, gelangten wir an einen schmalen Pfad, der sich zwischen wogenden Weizenfeldern hinzog. Die schweren goldenen Ähren schlugen uns entgegen, und wir trennten sie, wie das Schiff die Wogen teilt. Estrid ging voran, ich hinterdrein; bald betrachtete ich die vielen roten und blauen Blumen, die aus dem Korn hervorlugten, bald Estrid, freute mich über ihren leichten Gang und schlanken Wuchs und dachte, sie sei doch im Grunde die lieblichste aller Blumen. Als wir aus dem Korn herauskamen, erstiegen wir einen Zauntritt, auf dem wir einen weiten Ausblick über das waldumkränzte, fruchtbare Land hatten. Hier und dort erblickten wir die Strohdächer eines Dorfes oder eines einzelnen Gehöftes. Gerade als wir die schöne Aussicht betrachteten, begannen die Kirchenglocken zu läuten. Festlich schwangen sich die ernsten Erztöne über den gleichsam in stiller Andacht lauschenden Wiesen und Feldern zum Himmel empor.

Estrid blieb lauschend stehen, bis das Geläute verhallt war, und sagte dann: »Sonntagmorgen und Kirchenglocken sind doch auf dem Lande viel heimischer als in der Stadt. Entsinnst du dich des kleinen Kirchenliedes, das mit den Worten:

Kirchenglocke, nicht für große Städte
Goß man dich, nur für das kleine Dorf

beginnt?«

»Wenn Gamling jetzt hier wäre«, erwiderte ich, »so würde er dir eine ernste Vorlesung halten, mit der er mich schon einmal beglückt hat, als ich eine ähnliche Ansicht aussprach.«

»Warum denn?«

»Er würde sagen, es sei dies eine Verwechselung des Ästhetischen und des Christlichen, welche sich die Leute nur zu oft zu schulden kommen lassen. Der Sonntagmorgen mit weit über Feld und Wald hinschallendem Glockengeläute ist Stimmungen und Ahnungen erweckende Ästhetik, aber Gottes in seinem Evangelium geoffenbarte Gnade ist Christentum. Und das Evangelium soll nicht den stummen Bäumen und Sträuchern, sondern den lebendigen Menschen verkündet werden, und deshalb gehören die Kirchenglocken gerade in die großen Städte, wo sie die geschäftige Menge von Arbeit und Mühe zu Andacht und Feiertagsruhe rufen. Ich muß übrigens auch sagen, daß mir ein Sonntagsmorgen in Kopenhagen mit den volltönenden Kirchenglocken und dem in die Kirchen strömenden Volke sehr gut gefällt, denn Gott will nicht von den Bäumen und Blumen des Feldes, die weder erkennen noch verstehen, sondern in seiner Gemeinde von lebenden Menschenzungen gepriesen werden.«

Als wir, nachdem wir eine gute Predigt gehört und in den Gesang eingestimmt hatten, nach Hause gingen, sagte Estrid: »In dem, was du vorhin sagtest, hast du recht, und jetzt verstehe ich besser, was es heißt, daß Gott in seiner Gemeinde gepriesen werden will; aber auf dem Lande wohnen doch auch Menschen, welche die Glocken zusammenrufen müssen.«

»Das habe ich ja auch nicht bestritten, sondern nur gesagt, sie hätten ebenso guten Klang in der großen, von Menschen wimmelnden Stadt, da der Sonntag um der Menschen und nicht um der Natur willen da sei.«

Den übrigen Teil des Sonntags verlebten wir still für uns, teils in unserem Gärtchen, teils im nahen Walde, in eifriger, teils ernster, teils scherzender Unterhaltung.

Ich hatte in dem Gedanken, auf dem Lande ungestört studieren zu können, und mit dem festen Vorsatze, sehr fleißig zu sein, eine ganze Kiste voll Bücher mitgenommen. Doch bald merkte ich, daß sowohl aus dem einen wie aus dem anderen nichts werden würde. Meine Gedanken waren nun einmal in Unruhe geraten und fühlten sich fort von der stillen Gedankenwelt in die sommerfrische Natur hinausgezogen. Wohl legte ich die Bücher vor mich hin, oft drei oder vier auf einmal, aber kaum hatte ich mich hingesetzt, so zog eine Wolke vor die Sonne und ich mußte dann nachsehen, ob Regen drohte, oder ich hörte Estrid draußen im Garten und mußte wissen, was sie dort tat, – dabei versank ich in Gedanken und allerlei Träumereien, und das Ende davon war gewöhnlich, daß Estrid erschien, um mir zu erklären, ich solle nicht über den Büchern hocken, dazu sei ich nicht aufs Land gezogen und das könne ich noch immer in Kopenhagen tun. Ehe ich mir dessen richtig bewußt wurde, befand ich mich wieder im Garten oder im Walde, und dann wurde für diesmal nichts aus dem Studieren.

Besser ging es mit dem gemeinschaftlichen Lesen, d. h. mit dem, was Estrid und ich uns vorlasen. Dazu hatten wir Holbergs dänische Geschichte, mit der man, da sie aus drei dicken Quartbänden besteht, lange auskommen kann und von der wir noch nicht einmal den ersten Band zu Ende lasen. Ferner die alten Schlachtgesänge und Ritterlieder aus dem Mittelalter, die wir am liebsten draußen im Walde lasen, wo wir die Drossel schlagen und den Kuckuck den Takt dazu rufen hörten, während wir den Blick mit Entzücken auf der sommerfrischen Wiese ruhen ließen, denn es heißt ja in einem jener Lieder:

»Der Sommer und die Wiese passen zusammen so gut ...«

Homers Odyssee dagegen lasen wir unten an der See, denn dabei mußten wir notwendigerweise die blauen Wogen vor uns haben, um die vielen Irrfahrten des Griechenkönigs richtig verstehen zu können. Und besonders gute Dienste leistete uns dabei Hven mit seinen gelben, steilen Ufern, bald stellte die schwedische Insel das meerumflügelte Eiland der Circe, bald das glückliche Land der Phäaken vor und zuletzt wurde sie das felsige Ithaka, wo der zurückgekehrte König fürchterliche Rache an den Freiern nimmt. Und selten fehlte es uns an einem Schiffe, auf dem sich der göttliche Dulder Odysseus befand.

Auf diese Weise vergingen die Tage in Ruhe und Heiterkeit, aber dennoch wage ich nicht zu behaupten, daß sie ganz ohne Sorgen verronnen seien. Als die wichtigste und größte Sorge muß ich die finanzielle bezeichnen. Denn wir waren kaum ein paar Tage dort, als wir uns schon gründlich davon überzeugt hatten, daß das Landleben keineswegs so billig war, wie ich es mir gedacht, und von einer Aussicht, die 60 Kronen Wohnungsmiete durch sparsameres Wirtschaften wieder einzubringen, überhaupt gar keine Rede sein konnte. Das Rosenhaus lag ziemlich einsam, und die Händler benutzten dies, um uns eine kleine Extrasteuer auf die Lebensmittel aufzuschlagen. An und für sich waren es nur ein paar Öre, aber die tägliche Mehrausgabe betrug doch ein hübsches Sümmchen. Und wenn wir Einspruch erhoben, drohten sie, ganz fortzubleiben. Besonders wurde über den Schlächter geklagt, der obendrein noch geradezu grob gegen Estrid gewesen war.

»Grob ist er gewesen?!« rief ich entrüstet aus. »Na, laß ihn bloß wiederkommen, dann werde ich ihm schon höfliche Manieren beibringen!«

»Was denkst du, Nicolai? Du wirst dich doch nicht mit ihm einlassen? Vielleicht finge er an zu schimpfen oder legte sogar gewalttätig Hand an dich!«

»Davor wird er sich schon hüten, solange ich auf meinem eigenen Grund und Boden stehe, denn das ist vom Gesetze streng verboten.«

Estrid bat mich inständig, es zu unterlassen, da man nicht wissen könne, wie weit die Achtung des Schlächters vor dem Gesetze gehe. Ich ließ mich in meinem Vorsatze nicht erschüttern, aber hinterher fiel mir zum Glück noch rechtzeitig ein, daß unser neues Strafgesetz sich in hohem Grade durch Freiheitssinn und Menschlichkeit auszeichnet und infolgedessen es dem Schlächter vielleicht erlaubt wäre, mich, wenn er Lust dazu verspürte, braun und blau zu schlagen, ohne daß ihm Unannehmlichkeiten daraus erwüchsen. Diese Erwägung wirkte stärker auf mich als alle Ermahnungen, und ich versprach Estrid, mich ruhig zu verhalten. Dennoch sorgte ich dafür, daß ich beim nächsten Besuche des Schlächters zugegen war; ich sagte freilich nichts, machte aber ein finsteres, drohendes Gesicht, das wahrscheinlich seinen Eindruck nicht verfehlt haben wird, denn der Schlächter war sehr höflich, und ich hörte auch nie wieder über ihn klagen.

Eine Landplage in des Wortes eigentlichster Bedeutung, da ich sie in der Stadt nie gekannt hatte und sie auf dem Lande erst kennen lernte, waren die Fliegen. Sie traten in so ungeheuren, wimmelnden Massen auf, daß wir über sie erschraken. Sobald das Essen auf dem Tische stand, fielen sie in großen Heerscharen darüber her und zwangen uns, es mit Tassen, Tellern und Tüchern zuzudecken. Doch war es bei Tage arg, nachts wurde es noch schlimmer. Kaum hatte ich die Gardinen vorgezogen, lag im Bette und wollte mich, müde von den Wanderungen des Tages, dem süßen Schlummer hingeben, so weckte mich ein dumpfes Summen, – eine große Schmeißfliege machte ihre Runde durch die Schlafstube. Und ihr schien die Aufgabe geworden zu sein, die übrige Mannschaft an den Wänden ringsumher in Bewegung zu bringen, denn jetzt begann auf einmal ein unablässiges Summen und Brummen, Surren, Murren und Rascheln, das nicht zum Ertragen war. Dann fuhr ich in die Höhe, ergriff ein Handtuch und schlug nach rechts und links um mich, so daß alles, was sich bis jetzt noch ruhig verhalten hatte, jetzt auch noch in Bewegung geriet, und das Konzert ganz unerträglich wurde. Erst nach Stunden, wenn ich ganz vor Ärger und Müdigkeit erschöpft war, schlief ich ein.

Um dies zu vermeiden, mußten wir alle Fliegen sorgfältig hinausjagen, ehe wir uns schlafen legten. Dies mußte jedoch mit großer Behutsamkeit geschehen, wenn es gelingen sollte, und ich erfand zu diesem Zwecke verschiedene Methoden, die mir schließlich den ersehnten Frieden verschafften.

Kaum hatten wir dieser Unannehmlichkeit abgeholfen, so stellte sich eine neue ein, für welche nicht so leicht Abhilfe zu finden war, und diese bestand in Regenwetter, – nicht zwei oder drei Stunden, was uns nach der langen Dürre sehr willkommen gewesen wäre, sondern volle vier Tage Platzregen.

Jeden Abend trösteten wir uns damit, daß dem Regen am nächsten Morgen schönes Wetter folgen werde, und jeden Morgen erwachten wir von demselben eintönigen Tropfen auf die Blätter der Bäume. Ging man aus, so mußte man stets einen Regenschirm über dem Kopfe haben und kam trotzdem halb durchnäßt nach Hause. Mein weißer Sommeranzug wurde an den Nagel gehängt, da ich wärmeres Zeug anziehen mußte; mit Wehmut betrachtete ich ihn, der mir jetzt wie das Leichenkleid des warmen, hellen Sommers vorkam. Erst drei Tage waren verlaufen, und dennoch war es mir, als seien Wochen verflossen, seitdem ich die Sonne nicht mehr gesehen. In den kleinen Stuben war es eng, ich erschien mir beinahe wie ein Gefangener, als wir nicht mehr in Wald und Feld umherstreifen konnten, sondern innerhalb unserer vier Wände bleiben mußten. Es war so feucht, neblig, naßkalt und regnerisch, daß ich schließlich meine gute Laune einbüßte.

»Estrid«, sagte ich, »ich langweile mich.«

»Hast du denn nicht mich zur Unterhaltung?«

»Allerdings, aber trotzdem ist es eine traurige Wahrheit, daß ich mich langweile.«

»Nimm doch deine Bücher vor und studiere ein wenig.«

»Hier draußen kann ich nicht studieren, ich habe keine Ruhe dazu. Ich bin rein wie behext, ich kann nichts anderes tun, als in den ewigen Gußregen starren und den fallenden Tropfen mit den Augen folgen.«

»Ermanne dich doch und nimm dich zusammen. Wenn man seine Gedanken ganz ernstlich auf einen bestimmten Punkt konzentriert, vergißt man die kleinen Unannehmlichkeiten, die einen quälen und verdrießlich machen.«

Ich befolgte Estrids Rat und ermannte mich. Es ging, wie sie prophezeit; bald war ich in die Prachtbauten des Iktinos vertieft, und in den hellen Marmorhallen vergaß ich die feuchte Regennässe unseres nordischen Sommers vollständig. Doch gerade als ich mit den Bildwerken auf den Parthenonmetopen so recht im Zuge war, wurde ich in höchst unangenehmer Weise dadurch gestört, daß Anna und die Bäuerin, der das Rosenhaus gehörte, mit lautem Schimpfen, das zu der idealen Schönheitswelt, in der meine Gedanken weilten, einen schneidenden Gegensatz bildete, in unserer Stube erschienen.

Schon längere Zeit hatten diese beiden Großmächte wegen der gemeinschaftlichen Küche auf gespanntem Fuße gelebt. Denn Anna verlangte dort den ersten Platz, den die Bäuerin ihr durchaus nicht einräumen wollte, und es war schon wiederholt zu groben Reden zwischen ihnen gekommen. Estrid hatte sie mit großer Mühe wieder versöhnt und Anna vorgehalten, wie notwendig Nachgiebigkeit sei, wenn nicht unsere ganze Freude an dem Landaufenthalte durch beständige Zankerei verdorben werden sollte. Anna wurde nun freilich das Nachgeben entsetzlich schwer, und sie war daher außerordentlich brummig; Estrid bestrebte sich vergebens, sie durch alle möglichen Freundlichkeiten milderen Sinnes zu machen. Jetzt brachte das Regenwetter Annas Zornesbecher zum Überlaufen; die Bäuerin blieb ihr die Antwort nicht schuldig und plötzlich wurde der Streit aus der Küche in die Wohnstube verpflanzt, wo beide Parteien einander bei der Herrschaft verklagen wollten. Die »Herrschaft« befand sich zwischen den beiden Feuern in einer ekligen Lage und versuchte vergeblich, zu vermitteln; je mehr wir von Frieden und Versöhnung redeten, desto lauter schrien und lärmten sie. Schließlich verfiel Estrid darauf, Anna zum Möhrenputzen in die Schlafstube zu schicken, und damit hatten wir für diesmal Frieden, aber ich war so erregt, daß es mir nur mit großer Mühe gelang, mich in den Metopen und Triglyphen des Parthenons wieder zurechtzufinden.

Doch hierbei sollte es nicht bleiben. Das Rosenhaus war bei schönem Wetter ein vorzüglicher Aufenthaltsort, aber bei Regen und schlechtem Wetter eignete es sich nicht so gut dazu; es war undicht, und Anna, die oben wohnte, beklagte sich, daß es bei ihr durchregne. Am Morgen des vierten Regentages stand ich, mich fertig ankleidend, im Schlafzimmer und warf einen melancholischen Blick auf den strömenden Regen, während Estrid im Nebenzimmer den Teetisch herrichtete. Auf einmal hörte ich drinnen eine polternde Stimme; Anna meldete voll höchster Erbitterung, es habe über Nacht sogar in ihr Bett hineingeregnet und sie werde nicht länger in diesem unausstehlichen Hause bleiben. Estrid versuchte, sie umzustimmen, aber Anna wurde hierdurch noch unlenksamer; ich hörte sie auf den Tisch schlagen und mit einem teuren Eide versichern, daß sie keine Nacht länger bleiben werde; sie habe sich in der Stadt, nicht auf dem Lande vermietet und werde heute abend noch in die Stadt zurückkehren und wenn der Herr und die Frau nicht ohne sie fertig werden könnten, müßten sie mitkommen.

Bisher hatte ich mich jeder Einmischung absichtlich enthalten und es Estrid und Anna überlassen, ihr gegenseitiges Verhältnis selber festzustellen. Nun aber sah ich ein, daß es nicht länger ging; ich machte mir klar, daß eine Katastrophe unmittelbar bevorstand und es sich jetzt entscheiden mußte, ob Anna oder wir beide künftig das Kommando im Hause führen würden. Ich beendete schnell meine Toilette, riß die Tür auf und erklärte Anna energisch, sie könne sofort abgehen, wenn sie es wünsche; ihren Lohn werde sie bekommen, aber ich behielte sie keine Stunde länger im Hause, – sie solle ihre Sachen packen und in dem strömenden Regen nach Vedbaek gehen. Mein Auftreten kam Anna, die wohl gar nicht bedacht, daß ich Zeuge der voraufgegangenen Unterredung gewesen, so unerwartet, daß sie die kräftige Angriffsstellung, die sie Estrid gegenüber eingenommen hatte, sofort aufgab und unter undeutlichem Gebrumme den Rückzug nach der Küche antrat. Ich war selbst halb erschrocken über die Entschiedenheit, mit der ich aufgetreten war und die ich mir eigentlich gar nicht zugetraut hätte, jedenfalls Anna gegenüber nicht. Dennoch war ich nicht ohne Bedenken, wie es uns gehen würde, wenn Anna uns verließe und wir uns selber überlassen wären. Estrid hatte wahrscheinlich ähnliche Gedanken, doch sie sprach sich nicht darüber aus.

Mittags trug Anna wie gewöhnlich das Essen auf. Daraus sah ich, daß auch sie Bedenken trug, uns zu verlassen, und da der eigene Mut gewöhnlich in demselben Grade wächst, wie der des Gegners sinkt, beschloß ich, den halben Sieg in einen ganzen zu verwandeln. Ich verlangte also, daß Anna sich ihres ungezogenen Betragens halber geziemenderweise entschuldigen solle und sich künftighin größerer Höflichkeit, pünktlichen Gehorsams und der Bäuerin gegenüber anständiger Verträglichkeit zu befleißigen habe. Dies geschah auch, und von nun an war alles in der schönsten Ordnung, denn Anna schien nur der Gewißheit, daß es im Hause einen höheren Willen als den ihren gab, bedurft zu haben und die hatte sie nun ja erhalten. Estrid betrachtete mich mit Stolz, als hätte sie in mir eine geistige Kraft entdeckt, die sie mir bisher nicht zugetraut, und ich selber hatte in stärkerem Grade als bisher das Gefühl meiner Hausherrnwürde.


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