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V.

Ich arbeitete dazumal an einer Abhandlung über Thorwaldsens Verhältnis zur Antike und hatte die Erlaubnis erhalten, täglich einige Stunden in dem herrlichen Museum zuzubringen. Wenn diese nicht mit der Besichtigungszeit für das Publikum zusammenfielen, wandelte ich ganz allein unter den schweigenden Statuen umher und hörte weiter keinen Laut als das Echo meiner eigenen Schritte, die in den langen Korridoren und Galerien seltsam widerhallten. Kam ich dann von dem Vogelgesange und dem harmlosen Sommerleben des Frederiksberger Schloßgartens und hatte noch den Klang der munteren Stimme Estrids in meinen Ohren, so erschienen mir die steinernen Hallen und die weißen Marmorfiguren im ersten Augenblicke oft kalt und tot. Dies dauerte jedoch nicht lange, mein Gemüt beruhigte sich bald von den vielen zerstreuenden Eindrücken und versenkte sich in stilles Anschauen der herrlichen Kunstwerke. Außer dem großen Kataloge begleitete mich irgend ein griechischer Schriftsteller und ein Notizbuch, in welchem ich mit Bleistift meine zu Hause auszuarbeitenden Bemerkungen aufzeichnete. Indessen verwandte ich dort drinnen nicht viel Zeit auf Lesen und Schreiben, sondern saß meistens still und betrachtete die Statuen und Reliefs, bis ich mich gewissermaßen in sie hineinlebte und zu innigem Verständnisse des Gedankenganges des Meisters gelangte. Dann zog ich das Skizzenbuch hervor und zeichnete mit schnellen, flüchtigen Strichen eine Kopfwendung, eine Armbewegung oder einen Faltenwurf ab, kurz alles, was mich gerade durch seine Anmut entzückte und was ich deshalb in meiner Erinnerung zu bewahren wünschte. Es war mir, als schärfe sich mein Blick für das Eigentümliche an Thorwaldsen, das ihn entschieden von der Antike trennt, nämlich eine sanfte Anmut und Liebenswürdigkeit, ferner eine züchtige Reinheit und Keuschheit in der Auffassung. Wenn ich mich so recht hierüber freute, fiel mir manchmal wieder ein, was Schwiegervater mir einmal gesagt hatte, nämlich daß es für Thorwaldsen besser gewesen wäre, wenn er nicht Junggeselle geblieben. Damals hatte ich darüber wie über ein schnurriges Paradoxon gelacht, jetzt, da ich selber Ehemann war, schien mir viel Wahrheit darin zu liegen. Und dabei mußte ich wieder an meine eigene glückliche Ehe denken – an meinen süßen Basilisken daheim; ihre schönen Augen standen vor meinen Gedanken und verdunkelten den Glanz von Thorwaldsens Meisterwerken ganz. Das Skizzenbuch sank auf meine Knie herab, der Bleistift entfiel meiner Hand, ich versank in süße Träumerei, – doch, potztausend die Uhr ist über Zwölf, und ich muß von 12 bis 3 Uhr in Herrn Egebergs Knabenschule Unterricht geben. Schnell sammelte ich meine Bücher zusammen, steckte Bleistift und Skizzenbuch in die Tasche, eilte im Galopp aus dem Museum, stürmte wie ein Wirbelwind über die Sturmbrücke nach der Sturmstraße, wo die Schule lag, und langte dort an, als die große Zwischenpause gerade vorbei war und die Luft noch von dem letzten wilden Geschrei auf dem Schulhofe, wo die Knaben gespielt, erzitterte. Dies war wieder eine Stimmungs- und Umgebungsveränderung, die aber nichts weniger als angenehm war. Von den hohen, ätherreinen Regionen der Kunst, von der lichten Idealwelt des Olymps, in der ich eben noch geweilt, war ich in die handgreifliche, massive Wirklichkeit, unter eine Schar rufender, lärmender Buben, die um mich herum wie die wilden Wellen des Meeres tobten, herabgestiegen. Erst nachdem ich ihnen wiederholt gleich Neptun ein donnerndes Quos ego zugerufen, – auch einem oder dem anderen der ärgsten Unruhestifter eine schallende Ohrfeige verabreicht hatte, gelang es mir, die erforderliche Ruhe herzustellen, worauf der Unterricht begann. Es waren drei lange anstrengende Stunden, die mir ebenso langsamen Schneckengang zu haben schienen wie ein in tiefem Sande sich drehendes Wagenrad. Aber sie brachten etwas ein, und darauf mußte ich als Hausvater, der für das tägliche Brot sorgen sollte, ja vor allem bedacht sein. Diese Erkenntnis hielt mich aufrecht und erfüllte mich mit Stolz, so daß ich auf den Direktor Herrn Egeberg sogar mit einer gewissen Geringschätzung herabsah, denn er war ja unverheiratet; weshalb brauchte er all die Arbeit und all den Ärger mit der dummen Schule auf sich nehmen, da er doch nur für seinen eigenen Unterhalt zu sorgen hatte? Ich hatte zwei Lebensaufgaben, die das Leben eines Mannes zur Genüge ausfüllen konnten, die Kunst und die Ehe und ich pries mich glücklich, daß beide auf mein Los gefallen waren, während der arme Herr Egeberg und viele andere mit ihm in trauriger Unkenntnis dieser beiden Hauptpunkte irdischer Glückseligkeit lebten.

Um drei schlug endlich meine Befreiungsstunde, und ich eilte voll Sehnsucht, Estrid wiederzusehen, nach Hause. Nun aber mußte ich die Wahrheit des Sprichwortes:

Wer in Kanaans Land will stehen,
Muß durch Ägyptens Wüste gehen

ordentlich erproben. Ägyptens Wüste war die Westbrückenstraße. Denn hier brannte die feurige Sommersonne mit der vollen Kraft ihrer Strahlen, das Trottoir war ganz warm, bisweilen kam es auch vor, daß aus der Absalonstraße und der Saxogasse ein heißer Chamsin wehte und dichte Staubwolken aufwirbelte, in denen man ganz verschwand. Und weder zur Rechten noch zur Linken war der geringste Schatten zu finden, denn gerade zwischen drei und vier Uhr stand die Sonne vor dem Ende der langen Westbrückenstraße, gerade als hätte sie auf mich gelauert, wenn ich von der Schule zurückkehrte, um mich in die Augen zu stechen und mich mit ihren glühenden Pfeilen zu beschießen, wenn ich ganz wehrlos und schutzlos dagegen war. Wohl hätte ich mich beim Tivoli in die Pferdebahn oder in einen Omnibus setzen und so den tückischen Angriffen entgehen können, doch das wollte ich aus Sparsamkeitsgründen nicht, denn ich hatte fest beschlossen, einen außerordentlich vernünftigen, sparsamen Haushalt zu führen, in dem kein Schilling unnötig ausgegeben würde. Um nicht in Versuchung zu geraten, wandte ich, sobald ich an die Haltestelle der Pferdebahn kam, den Kopf nach der anderen Seite, drückte den Hut tiefer in die Stirn und trabte dann in Staub, Sand, Sonne und Hitze mutig vorwärts, unterwegs meine Phantasie dadurch entflammend, daß ich mir einbildete, einer der Kreuzritter zu sein, die in ihrer schweren eisernen Rüstung durch Syriens glühende Sandwüsten nach dem Heiligen Lande trabten. Dieses Phantasiegebilde hielt gerade so lange vor, bis ich das Eiserne Tor – d. h. die Stelle, wo es einst stand, denn jetzt ist es schon lange verschwunden – erreichte. Dort bog ich in die Frederiksberger Allee ein, wo ich das frische, schützende Laubdach über meinem Kopfe hatte und die eben aufgebrochenen Lindenblüten so schön dufteten: es war wie ein Vorgeschmack von den Freuden des Paradieses. In raschem Marsche ging es nach Hause, wo noch zum Schlusse eine kleine Hochtour meiner wartete, die mich fünf Treppen hinauf in unsere Mansardenwohnung führte. Hier aber hielt Estrid, da sie meine Ankunftszeit kannte, auf dem obersten Treppenabsätze Wache, und ich hörte ihre frische, helle Stimme mir entgegenrufen: »O welch ein müder Mann kommt da die Treppen herauf!«

»Ein müder Mann, ein außerordentlich müder Mann!« antwortete ich, absichtlich mit möglichst schweren Tritten die Treppen ersteigend, damit Estrid recht erkennen solle, daß ich des Tages Hitze und Mühe erprobt hatte.

Wenn ich mich dann mühsam die Treppen hinaufgearbeitet hatte, eilte Estrid mir entgegen, legte ihre Arme um meinen Hals und küßte mich und nahm mir dann den Hut vom Kopfe und die Bücher vom Arm, so daß ich frei und leicht in die Stube gehen konnte, wo ich mich ermüdet auf einen Stuhl setzte.

»Nun werden wir gleich essen«, sagte Estrid, schnell in die Küche eilend, um noch Hand an die letzten Anrichtungen zu legen. Bald darauf kehrte sie zurück, und hinter ihr kam Anna mit dem Mittagessen. Anna trat bei dieser Gelegenheit mit einer Majestät und Würde auf, als sei sie es, die uns aus besonderer Gnade beköstigte, und als müßten wir ohne ihre Güte trockenes Brot essen. Um so bescheidener war Estrid, die sich gewöhnlich entschuldigte, daß das Essen nicht besser geraten sei. Doch ich tröstete sie stets aufs beste.

»Vorzüglich, ganz vorzüglich!« sagte ich mit vollem Munde. »Du kochst ganz ausgezeichnet, mein süßer Basilisk. Ich habe nie so gut gegessen, wie ich jetzt esse. Du mußt mir wirklich noch eine Portion geben.« Und mit freudestrahlendem Gesicht nahm Estrid meinen Teller, um mein Begehren zu erfüllen.

Nur einmal gab es eine Ausnahme. Ich war an jenem Tage verdrießlich über meine neuen Stiefel, die mich gedrückt und mir den Marsch durch die syrische Wüste der Westbrückenstraße sehr erschwert hatten. Und als ich dann die fünf Treppen erklommen hatte, war Estrid wider ihre Gewohnheit nicht zu meinem Empfange bereit gewesen, so daß ich am Heimkehren gar keine Freude hatte. Estrid hatte in der Küche alle Hände voll zu tun, da das Essen, weil am Morgen gebügelt worden, zu spät aufgesetzt worden war. Ich mußte eine halbe Stunde darauf warten, was meine Laune nicht verbesserte. Schmerzende Füße, Müdigkeit, zunehmender Hunger und keine Estrid, der ich meine Not hätte klagen können, das war ganz danach angetan, eine finstere Gemütsstimmung hervorzurufen. Endlich kam Estrid mit vielen Entschuldigungen wegen ihres Ausbleibens. Dies besänftigte mich wieder, doch nun traf es sich so unglücklich, daß das erste Gericht Wasserbrei war, ein an sich ja sehr gutes, gesundes Essen, das indessen in meiner Phantasie stets das Bild einer Krankenstube und des Krankenhauses hervorruft. Dennoch sagte ich nichts, da es zu meinen Grundsätzen gehört, daß ein guter Ehemann sich nicht in Küchenangelegenheiten mischen darf und seiner Frau darin freie Hand lassen muß. Ich verzehrte daher schweigend meinen Wasserbrei und tröstete mich damit, daß ich mich ja an dem zweiten Gange schadlos halten könnte. Darauf wurde der Wasserbrei hinausgetragen, und Anna setzte eine dampfende Schüssel Stockfisch auf den Tisch.

»Was ist das?« fragte ich entsetzt.

»Stockfisch. Kennst du das Gericht nicht?«

Ich kannte es nur zu gut; Stockfisch ist eines von den sehr wenigen Gerichten, von denen ich keinen Bissen essen kann. Aus Grundsatz überwand ich mich freilich, aber schon nach dem dritten Bissen war die Widerstandskraft des Prinzips gebrochen. Ich legte Messer und Gabel nieder und sagte in sehr ernstem Tone: »Dies mag für spanische Katholiken in der Fastenzeit recht gut sein, aber für dänische Protestanten ist es um die Johanniszeit herum wirklich ein schwer verdauliches Gericht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Ich finde, daß, wenn ein Mann den ganzen Tag im Schweiße seines Angesichts gearbeitet hat und erhitzt, müde und hungrig von der Anstrengung nach Hause kommt, es sehr sonderbar ist, ihm Wasserbrei und Stockfisch vorzusetzen.«

Estrid machte ein ganz unglückliches Gesicht über diese Zurechtweisung und war schon dem Weinen nahe. »Aber, liebster Nicolai, wie konnte ich denn wissen, daß du Stockfisch nicht magst. Vater ißt ihn so gern, und daher dachte ich, du würdest ihn auch mögen. Ich selber kann mich nur mit aller Gewalt überwinden, davon zu essen, und habe ihn nur deinetwegen gekauft.«

Bei diesem Geständnisse und der unglücklichen Miene meines Basilisken verflog meine Verstimmung mit einem Schlage, und meine gute Laune kehrte wieder. »Also du kannst ihn auch nicht essen? Das ist doch eine merkwürdige ›Sympathie der Seelen‹. Weißt du, mein Liebchen, der Stockfisch ist es wirklich nicht wert, daß du seinetwegen Tränen vergießest, gib ihn Anna und laß sie ihn aufessen.« Dies geschah auch, und nachher mußte uns Anna vom Bäcker für zwölf Schilling feines Wienerbrot holen, womit wir uns zum Kaffee delektierten. Seit jenem Tage war Estrid stets so vorsichtig, mich jedesmal vor der Einführung eines neuen Gerichts zu fragen, ob es auch meinen Beifall habe, – und Stockfisch ward in unserem Hause nicht mehr gesehen.

Der Nachmittag wurde still verlebt. Alles, was ich am Vormittage im Thorwaldsenmuseum beobachtet und aufgezeichnet hatte, wurde zusammengestellt und sorgfältig ausgearbeitet, womit ich dann ein gründliches Studium der Archäologie verband. Während ich hiermit beschäftigt war, saß Estrid an einem kleinen Tische, wo sie zeichnete oder Blumen malte. An dem heißen Nachmittage standen die Fenster offen, und gelegentlich drang ein erfrischender Windhauch zu uns herein. Estrid verhielt sich mäuschenstill, um mich nicht zu stören; es war so still bei uns, daß man es deutlich hörte, wenn ich ein Blatt im Buche umschlug. Von den Baumwipfeln draußen ertönte munteres Vogelgezwitscher bis in unser Zimmer. So gingen die Nachmittagsstunden hin, bis die Sonne tief am Himmel stand und ihre Strahlen durch die Fenster bis in die hintersten Winkel fielen und mit ihrem scharfen Lichte alles erhellten. Estrid, die gewöhnlich schon vor einer Weile verschwunden war, kam nun wieder, stellte sich neben mich und flüsterte: »Der Tee ist jetzt fertig!«

»Schon? Die Uhr ist ja erst halb acht.«

»Ja, aber wir wollten ja noch einen kleinen Spaziergang nach dem Südfelde machen«, sagte Estrid in ihrem einschmeichelndsten Tone.

»Was wollen wir dort?«

»Die Sonne untergehen sehen.«

»Das sehen wir ja viel besser von unseren Fenstern aus, wo wir den ganzen Westhimmel vor uns haben.«

»Aber es sieht zwischen den Baumzweigen viel hübscher aus. Sei nun ein guter Mann, komm und trinke deinen Tee.«

Ich mußte mich Estrid natürlich fügen und die Arbeit für den Tag beiseite legen. Das Abendessen nahm nicht viel Zeit in Anspruch, und dann wanderten wir schnell durch die Frederiksberger Allee, die Weidenallee, am Schlosse vorbei und nach dem Südfelde. Zwischen den Baumgruppen begann es dunkel zu werden, aber vor uns flammte und glühte ein glänzendes Feuer durch das Laubwerk, die Sonne warf ihre letzten Strahlen auf die sommerfrische Erde. Wir beschleunigten unsere Schritte, um die kleine Bank zu erreichen, die am Rande der Parkanlagen steht und freie Aussicht auf das offene Feld gewährt, und kamen auch noch zur rechten Zeit, um die Sonne wie einen glühenden Feuerball am Horizont versinken zu sehen.

»Wie majestätisch!« rief ich, von dem herrlichen Anblicke ergriffen, aus. »Ich kann es begreifen, daß die Menschen, als sie den einen, wahren Gott vergessen hatten, der prachtvollen Sonne, die das sichtbare Abbild des Gottesglanzes ist, ihre Huldigung darbrachten.«

Jetzt verschwand sie, und leichte, bläuliche Nebelschleier stiegen über den Wiesen auf. In der Ferne hörten wir die Kühe brüllen, während die Heuschrecken ringsumher im Grase ihr zitterndes Zirpen ertönen ließen. Diesen Teil des Südfeldes hatten jetzt alle Spaziergänger verlassen, so daß wir ihn ganz für uns allein hatten.

»Wie ist es hier schön!« rief Estrid, »welch friedliche Ruhe – – spürst du nicht den Heuduft von der Wiese dort hinten? Könnten wir uns nicht meilenweit von der geräuschvollen Stadt und ihrer schwülen Sommerhitze entfernt glauben?«

»Oder glauben, wir seien Adam und Eva im Paradiese, die einzigen Menschen aus der eben erschaffenen Erde.«

Estrid legte ihr Haupt an meine Schulter. »O, wie bin ich glücklich«, flüsterte sie, »unaussprechlich glücklich, – ich kann beinahe gar nicht fassen, daß ich so glücklich sein kann.«

Eine Weile saß sie in Träumereien versunken da, dann richtete sie sich plötzlich auf und fragte: »Magst du das Südfeld lieber als den Frederiksberger Garten?«

»Ich mag meinen Basilisken am liebsten.«

»Ach, antworte mir doch ordentlich!«

»Ist das keine ordentliche Antwort? Soll ich vielleicht sagen, das Südfeld sei mir lieber als du?«

»Ich weiß ja, daß du mich am liebsten magst. Aber kannst du mir nicht eine ordentliche Antwort auf meine Frage geben?«

»Nun, wenn du eine ordentliche Antwort haben willst, soll sie dir werden. Höre nun und gib acht: im Frederiksberger Schloßgarten mit den regelrechteren Anlagen spricht die immanente Objektivität der Schönheit sich in einem zur Doppelreflexion der Kategorien adäquateren Modus aus, während der Südfelder Volkspark dagegen den aufwärts strebenden Lebenspotenzen der Subjektivität idealeren Ausdruck gibt. – Hast du mich verstanden?«

»Kein Wort!«

»Das ist schade, denn ich habe dir gerade ein Pröbchen unserer allerneuesten, modernsten Philosophie gegeben.«

»Können denn die Philosophen nicht so reden, daß andere Menschen imstande sind, sie zu verstehen?«

»Ich glaube, du bist toll. Dann wären sie ja keine Philosophen mehr. Die Kunst zu philosophieren besteht gerade darin, die allergewöhnlichsten Dinge auf die allerunverständlichste Weise zu sagen. Früher waren die Deutschen die größten Meister in dieser Kunst, aber seit den letzten Jahrzehnten geben unsere dänischen Philosophen ihnen nichts mehr nach. Nun aber laß mich hören, ob dir der Frederiksberger Garten oder das Südfeld besser gefällt?«

»Ich glaube«, antwortete Estrid zögernd, »daß ich morgens, wenn die Sonne scheint, die Vögel singen und alles so heiter und fröhlich ist, lieber im Frederiksberger Garten bin. Abends dagegen, wenn die Schatten lang werden, die Vögel zur Ruhe gegangen sind und die Natur still und feierlich wird, gefällt es mir im Südfelde besser.«

»Das war ausgezeichnet gesagt«, antwortete ich, »denn ich bin genau deiner Ansicht!«

»Nein, wirklich? Das ist ja nett!« Und Estrid sah über diese Einigkeit in unseren Ansichten so seelenvergnügt aus, daß ich sie notgedrungen küssen mußte, und damit endete diese ästhetische Diskussion.

An einem schönen Sommerabende schlenkerten wir lange im Südfelder Volksparke umher. Die Sonne war längst untergegangen und die Dunkelheit senkte sich auf die Wiesen und Bäume herab, wenn bei diesen hellen Sommernächten überhaupt von Dunkelheit die Rede sein kann. Wir setzten uns auf eine Bank unter einer mächtigen Buche, die ihre dichtbelaubten Zweige weit über unsere Köpfe hinweg erstreckte. Am hellen Himmel funkelten einzelne Sterne mit mattem Scheine. Tiefer unten nach dem Horizont zu sah man den Halbmond, der beinahe auf dem Rücken über den Baumwipfeln lag, einem Menschen vergleichbar, der sich im Grünen ausstreckt, um sich behaglich an dem schönen Sommerleben zu erfreuen. An diesem Sommerabende konnte man sich auch freuen, die Luft war lau und mild, die Blätter und Blüten regten sich nicht. Die Spaziergänger, die wir vor einer Weile noch in ziemlich großer Zahl gesehen hatten, waren nach und nach verschwunden; statt der großen, lauten Familiengruppen sah man nur noch einzelne schwärmende Pärchen, die bald von einem einzelnen Jüngling, der wohl noch keinen Schatz hatte, abgelöst wurden, schließlich war auch dieser einsame Spaziergänger wohl nach Hause zurückgekehrt. Die Volksmenge war so verschwunden, wie das Wasser fortströmt, anfangs in rieselndem Laufe, dann mit einem feinen Strahle und zuletzt in einzelnen Tropfen. Jetzt war der allerletzte Tropfen ausgelaufen, und wir beide saßen noch allein auf der Bank unter der großen Buche und betrachteten die Sterne und den Halbmond.

»Wir müssen entschieden heimgehen«, sagte ich. »Der Park wird sonst geschlossen, fürchte ich.«

»O, bleibe nur noch eine kleine Minute!« bat Estrid. »Es ist hier zu schön, ich kann mich gar nicht losreißen.«

In demselben Augenblicke ertönte über uns ein lautes, helles Flöten, dem ein jubelnder Triller folgte.

»Die Nachtigall!« riefen wir beide wie aus einem Munde, einander in freudiger Überraschung die Hand drückend. So manchen Abend waren wir vergeblich umhergelaufen, um sie zu hören, und jetzt, da wir es durchaus nicht erwarteten, ließ sie plötzlich ihr Lied über uns erschallen.

Wunderbare, hinreißende, glockenhelle Töne ließ uns der kleine Singvogel hören. Bald waren sie schmelzend wehmütig, dann kam ein seltsames, ich möchte beinahe sagen disharmonisches Gezwitscher, und darauf folgten jene volltönenden Schläge, die das Innerste des Herzens vor süßem Entzücken erzittern ließen. Ich weiß nicht, wie lange wir lauschten, denn wir saßen wie festgezaubert da und dachten weder an Zeit noch Stunde. Erst als der Gesang aufhörte, kamen wir wieder zur Besinnung.

»Jetzt müssen wir uns beeilen!« rief ich, aufspringend. »Sonst müssen wir die Nacht über hier in dem verschlossenen Parke bleiben.«

Mit schnellen Schritten eilten wir nach dem nächsten Ausgange, fanden ihn aber schon verschlossen. Mich überlief es siedend heiß. Allerdings hatten Estrid und ich oft davon geschwärmt, wie schön es sein müsse, eine helle Juninacht im Walde unter freiem Himmel zuzubringen und vielleicht einen reizenden Sommernachtstraum zu erleben, jetzt aber, da alle Aussicht zur Erfüllung dieses Wunsches vorhanden war, fühlte ich mich zu solch einem Abenteuer durchaus nicht aufgelegt.

»Wir müssen nach der nächsten Pforte am Valbywege laufen; vielleicht ist sie noch offen«, sagte ich. Und jetzt gingen wir nicht mehr, sondern liefen so schnell, wie Estrid nur irgend konnte. Das Südfeld schien sein Wesen und sein Aussehen plötzlich verändert zu haben. Statt des feenhaften Zauberglanzes, der eben noch auf ihm geruht, hatte er etwas Unheimliches, Verhextes bekomm; die dunklen Büsche glichen Gespenstern und Spukgestalten, welche lauernd ihre schwarzen Arme ausstreckten, um uns zu greifen, und hinter den Baumstämmen schienen Räuber zu stehen, die nur darauf warteten, daß wir erst an ihnen vorbeigegangen wären, um uns dann von hinten zu überfallen.

Keuchend und atemlos erreichten wir die Valbywegpforte, – sie war verschlossen. Ich rüttelte heftig an der Klinke und stampfte erbittert mit dem Fuße auf, doch das Tor ließ beides kalt.

»Könntest du nicht über den Zaun klettern und dir in dem Wirtshause an der Valbywegecke einen Schlüssel leihen?«

»Und dich um Mitternacht allein im Südfelde lassen, – – nein, mein süßer Basilisk, das ist ein schlechter Plan. – Doch horch – ich höre Schritte auf dem Kiespfade, es kommt jemand, der uns helfen kann.«

Wir lauschten, die Schritte näherten sich, und bald sahen wir einen Bauer den Weg entlang schreiten. Ich wartete, bis er dicht vor uns war, und rief dann mit voller Kraft: »Hallo!«

Ein lauter Angstschrei war die Antwort und der Angerufene lief so schnell, wie ihn seine Beine nur tragen konnten, wieder auf demselben Wege, den er gekommen war, zurück. Ein zweiter Ruf beschleunigte seine Flucht noch mehr, und nun konnten wir ihn nicht mehr sehen.

»Der dumme Kerl hält uns für Spukgestalten und Gespenster«, schalt ich, in meinem Ärger ganz vergessend, daß ich selbst eben noch in dem schweigenden, dunklen Haine unheimliche Gespenstererscheinungen gehabt hatte.

Doch was sollte nun geschehen? Ich dachte ein wenig nach und ergriff dann das Wort:

»Es bleibt uns nichts weiter übrig, Basilisk, als daß wir über das Tor steigen!«

»Über das Tor steigen?!« wiederholte Estrid erschreckt. »Es ist ja mindestens dritthalb Ellen hoch, – das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Doch, es ist mein Ernst. Du bist ja hurtig und gewandt, und ich helfe dir.«

Estrid maß die Höhe der Pforte mit den Augen und schüttelte bedenklich den Kopf.

»Es sieht uns ja niemand«, fuhr ich fort, »und es wird schnell gehen. Tu' jetzt, was ich dir sage, und sei nicht bange! – Lege deine Hand hier auf den Holzrahmen und halte dich gut fest, – jetzt hebe ich dich in die Luft, – so, das geht ja prachtvoll – nun setzest du den Fuß hier auf den Holzrahmen, – richte dich nun auf, – eins, zwei, drei – jetzt hinab – nun, ging es nicht ganz leicht? Jetzt werde ich gleich bei dir sein!« Und mit zwei Sätzen war ich über das Tor und rief triumphierend aus: »Brillantissimo! man darf sich nur nicht verblüffen lassen! Hätten wir in den glücklichen Tagen des schönen Hellas gelebt, so würden wir beide bei den olympischen Spielen mit dem Lorbeerkranze gekrönt worden sein!« Ganz aufgeräumt über unser kleines Abenteuer gingen wir mit schnellen Schritten heimwärts. Doch noch war die Zeit der Prüfungen nicht vorbei. Die Haustür war verschlossen, ich griff in die Tasche nach dem Schlüssel, und – er war nicht da. Ich zog die Glocke und klingelte, als sollte das ganze Haus einstürzen, aber alle lagen im tiefsten Schlafe, und keiner beachtete uns, ausgenommen der Hund des Nachbarhauses, der unser Geklingel mit heftigem Bellen beantwortete. Da ich meinen Zorn an keinem anderen auslassen konnte, schalt ich auf Anna, weil sie nicht aufgeblieben war, um uns zu erwarten.

»Aber das tut sie ja sonst auch nicht, und keiner von uns hat ihr gesagt, daß sie es müsse«, wandte Estrid ein.

»Die dumme Person«, sagte ich zornig. »Muß ihr denn alles erst extra gesagt werden? Jetzt dehnt sie sich droben in ihrem warmen Bette, indes wir hier unten in der Nachtkälte stehen müssen. Aber sie soll nur bis morgen warten, dann werde ich ihr gehörig den Kopf waschen.«

»Könnten wir nicht«, erlaubte sich Estrid in aller Bescheidenheit zu fragen, »in die Stadt hineingehen und dort versuchen, in einem Hotel Unterkunft zu finden?«

»Das wäre ja hübsch, Leute zwischen ein und zwei Uhr nachts herauszuklopfen, – und glaubst du, daß wildfremde Hotelleute, die uns gar nicht kennen, ohne weiteres aufstehen werden, um uns einzulassen, wenn Anna, die dumme Gans, es nicht einmal tut?«

»Dann werden wir doch wohl die Nacht im Freien zubringen müssen.«

»Nein, das will ich auf keinen Fall!«

Estrid getraute sich nicht mehr zu fragen, sah mich aber verdutzt an, als wollte sie sagen: »Was willst du denn eigentlich? Hinein können wir nicht, und draußen willst du nicht bleiben.«

Ich trat ein paar Schritt zurück und blickte an dem Hause, dessen Fenster alle dunkel waren, empor. »Vielleicht ist einer von den Hausbewohnern noch nicht heimgekehrt, und wir können mit ihm hinein!«

Das war doch immerhin eine Möglichkeit, an die man sich klammern konnte, wenn es auch nicht sehr wahrscheinlich war, daß einer unserer Mitmieter nachts um zwei Uhr nach Hause kommen würde. Wir nahmen auf einer unweit des Hauses in der Allee stehenden Bank Platz. Ich begann zu frieren und mußte Armbewegungen machen, um mich ein bißchen zu erwärmen. Der armen Estrid ging es wahrscheinlich ebenso, aber sie beklagte sich nicht, um mich nicht noch verdrießlicher zu machen. Dann wurde ich schläfrig und nickte schon ein, als Estrid mich anstieß und sagte: »Nun ist jemand an der Tür!«

Es war der Student, der im zweiten Stock bei Justizrats wohnte. Ich eilte zu ihm hin, erzählte ihm unser Mißgeschick und bat ihn, uns mit hineinzulassen.

»Mit dem größten Vergnügen!« antwortete er. »Ich gehe der Sicherheit wegen nie ohne Haustürschlüssel aus, man weiß ja nicht vorher, ob man erst am Morgen heimkehren wird. – Bitte sehr!«

Wir dankten ihm und stiegen, hocherfreut, endlich unter Dach zu sein, die Treppen hinauf. Als wir in unserer Wohnstube standen, sagte ich zu Estrid: »Diesmal haben wir nun die Nachtigall gehört, – das nächste Mal werden wir uns schon besser vorsehen!«

Aus dem Anna prophezeiten Donnerwetter wurde natürlich nichts. Als wir ihr unser Mißgeschick erzählten, erklärte sie in scharfem Tone: »Wenn Sie so spät nach Hause kommen, könnten Sie auch daran denken, den Haustürschlüssel mitzunehmen« – und diese Bemerkung fand ich so zutreffend, daß ich mich dadurch ganz entwaffnet fühlte. Anna war ein vortreffliches Mädchen, pünktlich wie eine Uhr und treu wie Gold, was sowohl Estrid wie ich sehr zu schätzen wußten, dennoch aber hatten wir alle beide, wie ich gestehen zu müssen glaube, im geheimen Angst vor ihr. Es lag etwas so Bestimmtes und Selbstbewußtes in ihrem Auftreten, als sei sie das feste Zentrum des Hauses, Estrid und ich aber Gäste, mit deren großer Jugend sie lobenswerte Nachsicht habe. Ich fühlte mich hierdurch ein wenig in meiner Hausherrnwürde gekränkt, wußte aber nicht recht, was ich dabei tun sollte, denn Anna hielt sich mit großer Klugheit innerhalb einer gewissen Grenze und ließ sich uns gegenüber nie eine direkte Unart oder gar Ungehorsam zuschulden kommen. Ich wollte meinen Schwiegereltern nichts davon sagen, ja hütete mich sogar, mit Estrid darüber zu sprechen, da ich fürchtete, es könnte dies als ein Eingeständnis meiner eigenen Schwäche aufgefaßt werden, doch möchte ich glauben, daß Estrid mich durchschaute. Gelegentlich klagte sie ein wenig über Annas großen Eigendünkel; wenn Estrid z. B. mit Rücksicht auf meine Wünsche den Vorschlag gemacht hatte, das Roastbeef rosig zu braten, hatte Anna erwidert: »Roastbeef schmeckt scharfgebraten am besten!« und dabei eine so überlegene Miene aufgesetzt, daß Estrid sofort auf ihre Idee verzichtet und Anna hatte gewähren lassen. Auch kam es gar nicht so selten vor, daß Anna, wenn sie zu Markt geschickt wurde, mehr einkaufte, als ihr auftragen worden war, und auf Estrids Vorstellungen ganz nebenbei bemerkte, so gehöre es sich für einen ordentlichen Haushalt. Ebenso hatte sie eine gewisse Vorliebe dafür, zu große Portionen zu kochen, was ihr annehmbarerweise deshalb so gut paßte, weil es für sie recht bequem war. Wollten wir z. B. Erbsen essen, so kochte sie gleich so viel, daß Estrid und ich die ganze Woche hindurch Erbsen verzehren mußten. Sagte ich ihr ein Wort hierüber, so antwortete Anna gleich, es sei so am sparsamsten. Darin mochte sie wohl recht haben, aber diese Art Sparsamkeit sagte mir nicht zu. Bei solchen Gelegenheiten tröstete ich Estrid damit, daß wir ja, wenn sie mit Anna nicht zufrieden sei, dem Mädchen Michaelis kündigen könnten, und damit gaben wir uns zufrieden, obgleich wir alle beide wußten, daß dies nicht geschehen werde, da keiner von uns den Mut hatte, Anna gegenüber einen so entscheidenden Schritt zu wagen.

Wir lebten in der ersten Zeit unserer Ehe sehr still, waren beinahe ausschließlich auf uns allein angewiesen und waren damit auch sehr zufrieden. Im Juni und Juli befindet sich die Kopenhagener Gesellschaft im Auflösungszustande, man ist mit Reiseplänen beschäftigt, und wer nicht schon abgereist ist, denkt doch stark daran. Meine Freunde, junge Künstler und Studenten, waren meistens schon in die Buchenwälder, Pfarrhäuser und die jütländischen Heiden gewandert; die wenigen noch Zurückgebliebenen glaubten schon, ich hätte an meinem ehelichen Glücke genug und fühle mich nicht mehr zu ihnen besonders hingezogen, – sie hatten, aufrichtig gesagt, darin recht, wie sehr ich ihre Gesellschaft auch sonst schätzte. So waren es eigentlich nur die nächsten Verwandten, die zu uns kamen und die wir wieder besuchten. Estrids Mutter und Schwestern stellten sich regelmäßig ein, doch meistens vormittags, wenn ich nicht zu Hause war; Schwiegervater kam bisweilen abends, um ein ästhetisches Scharmützel mit mir auszufechten. Auch Corpus Juris benutzte gern die Gelegenheit, mir reformatorische Vorschläge hinsichtlich der Umstellung unserer Möbel oder der Vornahme anderer Änderungen zu machen. Diese fanden jedoch nicht immer das verdiente Verständnis; ich betrachtete nämlich seine Einmischung in unsere häuslichen Angelegenheiten mit einer gewissen Eifersucht, da ich beständig fürchtete, er werde seine früheren Ansprüche, mich zu beherrschen, wieder geltend machen wollen, was ich durchaus nicht gestatten konnte. Obgleich ich wiederholt einsehen mußte, daß er mit seinen Bemerkungen recht hatte, widersetzte ich mich ihnen dennoch aufs eifrigste, damit meine Frau nicht glaube, ich müsse mich seinem Kommando fügen. Erst wenn etwa vierzehn Tage darüber vergangen waren und ich annehmen konnte, daß Estrid nicht mehr daran dachte, nahm ich die Verbesserung vor und tat, als sei die Idee in meinem eigenen weisen Kopfe entstanden. Mehr Freude hatte Corpus Juris von seinen politischen Vorträgen, die er uns regelmäßig hielt, und die uns sicherlich von großem Nutzen waren. Da ich nämlich keine Zeitung hielt, lebten wir hinsichtlich der Weltbegebenheiten in fürchterlicher Unwissenheit. Corpus Juris hatte es mehrmals streng als unverantwortlich verurteilt, daß wir in unserem hochgebildeten Jahrhundert in solch mittelalterlicher Barbarei leben könnten, aber ich hatte mir seine Reden nicht zu Herzen genommen. Ich war früher nie ein eifriger Zeitungsleser gewesen und war es jetzt noch viel weniger, da ich, meiner Ansicht nach, viel wichtigere Dinge in meinem eigenen Hause zu tun hatte. Estrid las in der Zeitung nur die Marktpreise, doch diese, hatte ich ihr gesagt, könne sie ja umsonst bei ihrer Mutter im Wohnungsanzeiger nachlesen.

Ein Besuch, der uns durch sein allzuhäufiges Kommen beinahe lästig wurde, war Onkel. Da ihm selber reichlich Zeit zur Verfügung stand, meinte er wohl, mit der Zeit anderer ebenso verschwenderisch wie mit seiner eigenen umgehen zu können. Überdies war Estrid sein erklärter Liebling. »Du bist ein kluger Kerl gewesen und hast die Augen hübsch aufgemacht, als du sie zur Gattin erwähltest«, vertraute er mir einmal an. »Die anderen sind ja auch nette, gute Mädchen, aber sieh, Valborg ist so entsetzlich schwärmerisch und romantisch«, – Onkel betonte die letzte Silbe des Wortes »romantisch« – »und das finde ich nun einmal langweilig; Johanna und Sophie sind zwei Wildgänse, die nur an Narrenpossen und Vergnügen denken. Estrid aber ist die Perle von ihnen allen; sie kann den Haushalt führen, hat auch kochen gelernt und ist immer sanft und freundlich, – ja, ich habe immer deine große Klugheit bewundert, daß du gleich auf sie verfallen bist.« Diese Rede klang meinen Ohren außerordentlich angenehm, und ich versicherte Onkel, er könne kommen, so oft er wolle, in unserem Hause werde er stets ein willkommener Gast sein. Onkel faßte diese Einladung ganz buchstäblich auf und hatte uns nun bereits dreimal in einer Woche des Nachmittags besucht. Seine Besuche waren jedoch nicht gerade immer außerordentlich unterhaltend. Manchmal konnte er sehr gesprächig sein, so daß sein Mund keinen Moment still stand, bisweilen aber sprach er kein Wort, starrte vor sich hin und stieß von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer aus. Ob diese abwechselnde Gesprächigkeit und Schweigsamkeit wie des Meeres Ebbe und Flut unter dem Einflusse des Mondwechsels standen, will ich ungesagt sein lassen; doch glaube ich es kaum, weil der Umschlag oft sehr plötzlich eintreten konnte. So war er den ersten Nachmittag ein wahrer Redewasserfall, den zweiten und dritten aber sehr wortkarg, obgleich ich mich nach besten Kräften bemühte, die Unterhaltung nicht einschlafen zu lassen. Doch als er nun den vierten Nachmittag wieder in unsere Stube trat, riß mir die Geduld, ich stürzte aus der Tür, Estrid einen Wink gebend, daß sie mir folgen solle.

»Was ist dir?« fragte sie ganz erschrocken, als sie die Tür hinter uns geschlossen hatte und mein böses Gesicht sah.

»Onkel bringt mich mit seinen Besuchen zur Verzweiflung«, rief ich erbittert aus. »Drei Nachmittage hat er mir diese Woche schon verdorben, und jetzt kommt der vierte an die Reihe.«

»Soll ich ihm denn sagen, daß er wieder fortgehen müßte?«

»Nein, keinesfalls, das geht nicht an.«

»Aber was willst du denn eigentlich?«

»Ich will dir nur sagen, daß ich verdrießlich, sehr verdrießlich bin und den ganzen Abend schlechter Laune sein werde und daß daran allein Onkel schuld ist.«

»Darum brauchst du doch nicht in solche Aufregung geraten«, sagte Estrid mit ihrer gewöhnlichen Sanftmut, »wir geben Onkel ein Buch zum Lesen, und dann kannst du ungestört arbeiten.«

»Geht das an?«

»Wunderschön. Wir haben es zu Hause immer so gemacht.«

Wir gingen wieder in die Stube hinein, wo Onkel am Fenster Platz genommen hatte und nun ganz ruhig saß, ohne den Aufruhr, den sein Kommen in mir hervorgerufen, auch nur zu ahnen.

»Nicolai hat heute nachmittag viel zu tun«, redete Estrid ihn an, »aber du könntest ja ein Buch zum Lesen bekommen.«

Onkel nickte, sagte aber nichts.

»Du entschuldigst mich wohl«, sagte ich, an meinem Schreibtische Platz nehmend.

Onkel nickte wieder, ohne ein Wort zu sprechen. Er erhielt nun einen Band von Riises Archiv für Geschichte und Geographie, mit dem er sich unterhalten konnte, während ich arbeitete. Hierbei beruhigte sich mein erregtes Gemüt bald wieder, und ich arbeitete unverdrossen fast zwei Stunden, in welcher Zeit ich von Onkel nichts weiter hörte als das Umschlagen der Blätter und ein gelegentliches Räuspern.

»Jetzt ist es acht Uhr!« rief ich aus, indem ich meine Bücher in den Schreibtisch schloß; »wir haben fleißig gearbeitet und können mit Recht Abendessen verlangen, nicht wahr, Onkel?«

Doch jetzt erklärte Onkel, er müsse gehen, da sie zu Hause schon auf ihn warten würden.

Dies wollten Estrid und ich unter keiner Bedingung erlauben, und wir zwangen ihn, bei uns zu bleiben. Der belebend wirkende Tee, Estrids und meine Herzlichkeit und vielleicht auch eine unbekannte Naturmacht, welche Onkels Schweigsamkeit einen Riegel vorschob, brachten es gemeinschaftlich zustande, daß seine Gesprächigkeit plötzlich wiederkehrte, und wir verlebten einen außerordentlich vergnügten Abend, bis Onkel um elf Uhr aufstand und sich verabschiedete.

»Gute Nacht, Onkel, gute Nacht! Komm' bald wieder!« sagte ich, – und das tat Onkel auch. Von jetzt aber kam er nie mehr ungelegen, denn hatte ich keine Zeit oder keine Lust, mich mit ihm zu unterhalten, so gab ich ihm einen Band von Riises Archiv zum Lesen. Ich besaß einundzwanzig Bände von diesem lehrreichen Werke, das ich mir einst auf einer Auktion gekauft hatte, und da Onkel sich beständig an diese Lektüre hielt, müssen seine geschichtlichen und geographischen Kenntnisse durch diese Besuche in nicht geringem Umfange vermehrt worden sein.


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