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VI.

Ein Monat, in welchem unser Ehehimmel in ungetrübtem Glanze gestrahlt, war vergangen. Nun zeigte sich das erste Wölkchen; es stieg von dem großen Haushaltungsbuche auf, das ich gleich nach der Hochzeit meiner Frau mit der Bitte übergeben hatte, daß sie darin aufs allergenaueste über die häuslichen Einnahmen und Ausgaben Rechnung führen möge.

Nun saßen wir gegen Sonnenuntergang am Fenster, hatten das große Buch vor uns liegen und rechneten, rechneten. Aber alles Rechnen half uns nichts, denn es war und blieb eine Tatsache, daß im vergangenen Monat 12 Kronen und 63 Öre mehr verausgabt worden waren, als wir hätten ausgeben dürfen. Wie das zugegangen war, konnten wir uns gar nicht erklären. Wir hatten doch beide aufs sorgfältigste Buch geführt. Als allererste Wirtschaftsregel hatte ich meiner Frau eingeschärft, alle Ausgaben gewissenhaft aufzuschreiben, und ich selber befolgte sie aufs strengste. Um meiner Sache sicher zu sein, trug ich stets ein kleines Taschenbuch bei mir, in welches ich jeden Pfennig, den ich ausgab, sofort buchte, um die Ausgabe nachher in das Hauptbuch einzutragen. Kam ein Bettler und erhielt einen Schilling, so wurde dies sofort ins Notizbuch geschrieben und kam dann ins Hauptbuch. Trotz all dieser Vorsichtsmaßregeln war dennoch eine Unterbilanz vorhanden, die bei einem Familienvater wohl ernste Betrachtungen erwecken konnte.

»Aber denk' doch nach, süßer Basilisk, fällt dir denn gar nichts ein, was nicht angeschrieben worden ist?«

Der Basilisk dachte angestrengt nach, konnte aber nichts finden. Manchmal glaubte sie, sich irgend einer Sache zu erinnern, doch beim Nachsuchen fanden wir sie stets schon im Rechnungsbuche angeführt.

»Das ist schlimm, sehr schlimm«, sagte ich. »Es wäre mir doch immerhin eine Beruhigung, wenn wir etwas nicht Angeschriebenes ausfindig machen könnten; – ich wüßte dann doch die Ursache, nun aber kann ich sie mir nicht erklären.« Wir waren alle beide sehr niedergeschlagen.

»Über welche Frage grübelt ihr zwei beiden nach?« fragte Onkel. Er war eingetreten, ohne daß wir, die wir in unsere Berechnungen vertieft waren, es gemerkt hatten.

»Guten Tag! Bist du da? – – O, es ist nichts«, antwortete ich, da ich Onkel hiervon nichts sagen wollte.

»Na, na! Eine kleine häusliche Szene! Die gehören ja dazu, um die Seligkeiten der Ehe zu würzen.«

Ich wurde über diese Deutung mehr als ärgerlich und sagte, es sei wirklich nicht der Rede wert.

»Ich werde deinen Schwiegereltern kein Wort, rein gar nichts davon erzählen. – Ihr könnt euch auf Onkel verlassen, er ist verschwiegen wie das Grab, wenn es gilt, die Schwächen seiner Freunde mit dem Mantel der Liebe zuzudecken.«

»Hier handelt es sich nur um die eine Schwäche, daß wir im vorigen Monat zu viel Geld ausgegeben haben.«

»Aber das ist in einem Haushalte ja gerade die schlimmste aller Schwächen und eine, der ich nicht abhelfen kann. – Nun hört mich an; ich komme als Gesandter von deinen Eltern, Estrid, um zu fragen, ob ihr morgen mit in den Wald wollt. Wir versammeln uns um 9 Uhr auf dem Bahnhofe, wo alles Nähere besprochen wird, und bringen den ganzen Tag im Freien zu.«

»Das ist ja prächtig!« rief ich vergnügt aus, da das Bild des schönen, sommerlich-frischen Waldes die düsteren Rechnungsgedanken sofort aus meinem Kopfe verjagte. »Die Schule hat morgen gerade frei, und ich kann also sehr gut mitkommen.«

»Aber, lieber Nicolai«, – – wandte Estrid ein, indem sie ihre Hand auf meine Schulter legte.

»Was denn?«

Wäre es nicht besser – – – ich glaubte, wir müßten anfangen zu sparen, – und nun wollen wir in den Wald!«

»O, du süßester aller Basilisken! Du meintest also, wir müßten wirklichen Schuldarrestanten gleich in unserem Zimmer Trübsal blasen, während die anderen einen Ausflug in den schönen Wald machen!«

»Wir können es ja auch hier gemütlich haben und nachher einen Spaziergang nach dem Südfelde machen. Das kostet nichts.«

»Danke schön! Als ob das Südfeld uns den Tiergarten mit seinen hohen, schlanken Buchenstämmen und den vielen Punkten, die eine weite Aussicht über den Sund gewähren, ersetzen könnte. Die paar Kronen, die das kostet, sind doch wahrhaftig nicht der Rede wert, – so närrisch werden wir nicht sein, nicht wahr, Onkel?«

»Nein, du hast recht. – Du bist ein prächtiger Bursche!« rief Onkel, mir einen Puff in den Rücken gebend. »Also morgen früh um 9 Uhr; kommt nur nicht zu spät, – ich muß laufen, denn daheim warten sie auf Bescheid« – – und fort stürmte Onkel, seelenvergnügt, daß er den wichtigen Auftrag so gut ausgerichtet hatte.

Estrid seufzte ein wenig und schüttelte bedenklich den Kopf, doch ich umschlang sie, drehte sie im Kreise herum und sagte ihr, sie solle sich nie um Geld aufregen, sondern dies mir überlassen, ich würde schon Rat schaffen. Da sah sie wieder auf, lachte und war ebenso vergnügt wie ich. Das langweilige Wirtschaftsbuch wurde beiseite gelegt, und anstatt nutzlos weiter zu rechnen, überlegten wir nun, welche Teile des Tiergartens wir morgen abstreifen wollten.

Am nächsten Morgen herrschte strahlender Sonnenschein. Singend gingen wir die Treppen hinunter und durch die Allee, die kleinen Vögel in den laubreichen Lindenkronen sangen um die Wette mit uns. Als wir auf die Westbrücke gelangten, blickte ich zum Himmel auf, der sich glänzend klar über uns wölbte.

»Welch ein Wetter, Basilisk!« rief ich aus. »Heute fühle ich mich zu großen Taten aufgelegt!«

»Großen?« fragte Estrid ängstlich.

»Wirklich großen! Was, weiß ich noch nicht, aber wenn solch Wetter ist wie heute, der Himmel so hoch über mir steht und alles vor Leben, Licht und Sonnenschein sprüht und funkelt, dann fühle ich mich stets berufen, etwas Großes auszuführen!«

Estrid meinte, es sei besser, erst an das Kleine zu denken, nämlich an unser rechtzeitiges Eintreffen auf dem Bahnhofe, da wir ziemlich spät von Hause fortgegangen waren.

»Jetzt geht es mit Sturmschritt«, sagte ich, Estrids Arm nehmend, damit wir schneller vorwärts kämen.

Auf dem Zifferblatte der Uhr des Hauptbahnhofes fehlten noch sechs Minuten an Neun, – und noch war die Strecke nach dem Klampenborger Bahnhof zurückzulegen.

Dort stand Onkel. Er winkte uns, als wollte er sich die Arme ausrenken. »Ich habe die Fahrkarten!« rief er, und nun stürmten wir alle drei nach dem Bahnsteige, wurden kopfüber in den Zug spediert, die Tür fiel zu, und wir fuhren ab, ehe ich überhaupt den Schwiegereltern und den Schwägerinnen, die alle in demselben Abteil saßen, hatte guten Tag sagen können.

»Wohin geht die Reise?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Schwiegervater. »Wir segeln mit versiegelten Instruktionen. Frage Onkel, er weiß es auch nicht.«

Onkel machte ein sehr schlaues Gesicht, sagte aber nichts.

»Aber nun, da wir alle versammelt sind, könnten wir ja ein Programm entwerfen«, meinte Schwiegermutter.

»Auf keinen Fall, das ist ja gerade lustig, daß wir durchaus nicht wissen, wohin es geht. Vielleicht gehen wir heute abend in Frederikshavn, dem ehemaligen Fladstrand, wie das Geographiebuch sagt, zu Bett.«

Als wir in Klampenborg ausstiegen, hielt dort ein offener Wagen.

»Seht, da können wir gleich befördert werden. Kutscher, dürfen wir mitfahren?«

»Bitte schön, mein Herr!«

»Wohin geht's denn?«

»Nach Rungsted.«

»Seht, nun haben wir erfahren, daß wir in Rungsted Kaffee trinken werden, – das wußten wir heute morgen noch nicht.«

Wir stiegen ein und rollten fort, unterhielten uns, sangen und bewunderten den herrlichen Sund, dessen blaue Wellen uns entgegenschlugen.

Doch schon wie wir an die alte Skodsborger Krugwirtschaft kamen, stieß Schwiegervater einen Schrei aus: »Meine Freunde, ich bin so hungrig, so hungrig!«

»Ließe es sich nicht einrichten, daß wir hier in Skodsborg ein bißchen frühstückten?« fragte Onkel.

»Onkel, du hast großartige Ideen; die anderen würden mich in ihrer poetischen Begeisterung über Himmel und Meer ruhig verhungern lassen, du aber denkst an das Reelle. Halt, Kutscher! jetzt haben wir von diesem Spaße genug. Wieviel bin ich schuldig?«

»Darf ich diesmal bezahlen?« fragte ich.

»Nicolai, bist du übergeschnappt? Du bist mein Gast, mein Schwiegersohn noch dazu und willst dich gegen mich auflehnen, indem du von Bezahlen redest! Nimm dir an Onkel ein Beispiel! Er bezahlt nie einen Schilling.«

»Aber laß ...«

»Kein Wort mehr. Sofort hinein in den Krug und bestelle Frühstück und Kaffee!« Bald darauf saßen wir in der Laube um den gedeckten Frühstückstisch mit der brodelnden Kaffeemaschine. Der Kaffee duftete aromatisch, frische Seewinde strichen über uns hin, und das Auge folgte entzückt den weißen Segeln auf dem Sunde. »Wir Dänen reden stets von unserem künstlerischen Sinn, und dabei sind wir Dickköpfe, die nie auf etwas Neues und Hübsches verfallen«, sagte Schwiegervater. »Ich bitte um Entschuldigung, daß ich euch Mitgliedern der Nation gerade ins Gesicht Unangenehmes sage, aber es verhält sich wirklich so. In Deutschland, der Schweiz und Italien gibt es nie ein Wirtshaus oder ein Hotel ohne eine Veranda, auf der Oleander stehen oder die mit Rosen berankt ist; das macht es so gemütlich, daß man Lust bekommt, dort einzutreten und zu bleiben. Bei uns sieht man dergleichen nie, selbst da nicht, wo die schönste Gelegenheit dazu vorhanden ist! Seht nur, weshalb kann der Krugwirt nicht statt des Zaunes von ungehobelten Brettern dort an der See eine hübsche, durchbrochene Steinbalustrade und auf ihr Blumenvasen mit Kakteen und Aloen anbringen, dann gliche dieser Platz einer echt italienischen Landschaft mit der Aussicht auf das Mittelmeer.«

»Solch eine Balustrade würde bald ruiniert sein, wenn das Eispressen im Winter losgeht«, antwortete ich. »Überdies sind wir hier nicht in Italien, sondern in Dänemark und brauchen daher keine italienischen, sondern dänische und nordische Aussichten.«

»Richtig, und der plumpe Zaun ist ein gutes Pröbchen echt nordischer Kunst.«

Jetzt würde der alte, nie endende Streit über nordische Kunst wahrscheinlich zwischen Schwiegervater und mir wieder ausgebrochen sein und meiner Schwiegermutter, die jeden Wortwechsel haßt, die ganze Freude am Frühstück verdorben haben, wenn Onkel sich nicht mit dem Vorschlage ins Mittel gelegt, der Krüger könne den Zaun ja hellblau anstreichen lassen, damit es aussähe, als beginne dort schon das Meer. Diesen Vorschlag fanden wir alle beide so barock, daß wir unseren Zwist um die nordische Kunst darüber vergaßen.

»Und nun gehen wir spazieren!« rief Schwiegervater aufspringend. »Auf, ihr Mädchen! Laßt mich sehen, was ihr leisten könnt! Bis jetzt habt ihr noch nichts weiter getan, als fahren, essen und trinken; nun aber kommen die Strapazen der Reise. Wir wollen nun sehen, ob ihr gute Fußgängerinnen seid, die durch den Tiergarten bis Vedbaek gehen können, ohne über Ermüdung zu klagen.«

»Wir können in einer Tour bis Rungsted gehen, ohne müde zu werden«, versicherten Sophie und Johanna.

»Halt, halt, wir wollen bedenken, daß Mutter mit dabei ist und es nicht angeht, sie unterwegs liegen zu lassen. – Allons, Marsch!«

Als wir in den Weg nach dem Tiergarten einbogen, stimmte Schwiegervater einen lauten Jodler an, den das Echo nah und fern wiedergab.

Schwiegermutter bat ihn, dies zu unterlassen, denn was sollten die Leute von uns denken! »Laß sie denken was sie wollen! Es schadet den reichen Philistern, die in den feinen Skodsborger und Vedbaeker Hotels auf ihren Geldsäcken sitzen, gar nichts, wenn sie einmal hören, daß kleine Leute es sich auch leisten können, vergnügt zu sein!«

Und damit schob Schwiegervater sich den Hut in den Nacken, so daß er wie ein Matrose auf Landurlaub aussah, faßte mich unter den Arm und sang, daß es unter den Buchenkronen widerhallte:

»Die Gelder drücken,
Darüber kein Wort!
Schnell in Stücken
Werft sie doch fort!
Jo – didlo – jo didlo – jo – o – o – o – o!«

Und er führte mich in solchem Sturmschritte fort, daß die anderen weit hinter uns zurückblieben.

»Du merkst wohl, daß ich heute vorzüglicher Laune bin«, sagte er. »Ich habe wieder Wind in den Segeln, nachdem ich den ganzen Winter hindurch entweder still liegen oder unter Gegenwind habe kreuzen müssen.«

»Was ist dir denn passiert?«

»Höre nun, ob man das nicht Glück nennen kann. Gestern treffe ich in der Stadt zufällig einen alten Reisegefährten aus Italien, der indessen viel wohlhabender ist als ich, da er ein großes Rittergut in Jütland besitzt. Wir hatten einander viele Jahre nicht gesehen und gingen nun zusammen in ein Restaurant, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Da vertraut er mir an, er habe die Absicht, sein Herrenhaus zu restaurieren und die Zimmer künstlerisch zu dekorieren und er sei jetzt hier, um einen Künstler zu suchen, der diese Arbeiten leiten wolle. ›Ich kenne einen, der Lust und, wie ich glaube, auch die Fähigkeiten dazu hat‹, sage ich. – ›Wer ist es?‹ fragt er. – ›Wer sonst als der, mit dem du redest.‹ – ›Willst du?‹ ruft er erfreut aus. ›Ja, dann wüßte ich keinen, den ich lieber nehmen würde.‹ Und damit schlugen wir beide ein, und nächste Woche reise ich dorthin. Mutter ist freilich ein bißchen betrübt über die lange Trennung, aber ich tröste sie damit, daß es ja nur drei Monate sind, und für die Finanzen ist es doch eine gute Hilfe!« Ich gratulierte Schwiegervater von ganzem Herzen, und wir überlegten nun aufs eifrigste, in welcher Weise diese Aufgabe sich am besten lösen lasse. Hierüber vergaßen wir den Tiergarten vollständig, bis wir auf einmal vor einer roten Pforte standen.

»Wo sind wir jetzt?«

»Jetzt verlassen wir den Tiergarten, – hier liegt Aggershvile.«

»Aber wir haben ja Mutter, die Mädchen und Onkel ganz verloren, – halt, da hinten kommen sie, – ja, dann werden sie uns wohl nicht aus dem Gesicht verlieren.«

Wir schlugen einen Feldweg ein, der uns nach den Frydenlund und Enrum umgebenden Wäldern führte. Hier hatten wir einen weiten, großartigen Überblick über fruchtbare Felder, Wiesen und den dunkelblauen Sund, auf dem die steilen, gelben Ufer der Insel Hven und die schwedische Küste in dem grellen Sonnenlichte scharf hervortraten.

»Wie schön!« rief ich aus, einen Augenblick stillstehend, um all diese Herrlichkeit zu betrachten.

»Nein, jetzt wollen wir von der Kunst sprechen und die Natur sich selber überlassen«, sagte Schwiegervater, der jetzt ganz von seinen künstlerischen Ideen erfüllt war. Dann fuhr er mit einer gewissen Heftigkeit fort: »Wir sprechen ja von Kunst und Handwerk. Dabei stoßen wir wieder auf eines jener echt chinesischen Vorurteile, mit denen unsere Köpfe trotz unserer vielgepriesenen Freiheit und Aufklärung vollgepfropft sind. Denn ich weiß wirklich keine Stelle auf Erden, wo man zwischen Kunst und Handwerk eine solche chinesische Mauer errichtet, wie in unserem kleinen Philisterlande. Lasse einen armen Handwerker sich nur unterstehen, ein Wort von Kunst mitreden zu wollen, sofort werden ihm unsere Künstler mit niederschmetternder Verachtung entgegentreten. Oder lasse einen von diesen, der bei der edlen Kunst in Not geraten ist, ein wenig Handwerk treiben, um sich das tägliche Brot zu verdienen, – weh dem Unglücklichen, die Künstlerkaste stößt den Paria aus. Keiner kennt ihn mehr. Im Mittelalter war es anders, da sah man nur auf die Tüchtigkeit, nicht auf den Stand; Kunst und Handwerk gingen ineinander über, ohne daß jemand hätte sagen können, wo die eine aufhörte und das andere anfing; die Künstler hörten gern auf einen tüchtigen Handwerker, wenn er Talent und Geschmack hatte, und fragten ihn öfter um Rat, und kein Mensch nannte sich ›Kunstmaler‹, um die Mitwelt darauf aufmerksam zu machen, daß sie ihn um Himmels willen nicht mit einem gewöhnlichen Türen- oder Wändeanstreicher verwechseln dürften. Deshalb aber hat auch wohl das Mittelalter eine ganz andere feine und edle Kunst hervorgebracht, als unsere industrielle Zeit mit ihren Kunstausstellungen und Zeitungskritiken es kann.«

Ich nahm mir die Freiheit, Schwiegervaters Rede dadurch zu unterbrechen, daß ich ihm ein reizendes Häuschen mit einer rosenumrankten Veranda zeigte.

»Und dort ist wahrhaftig eine Sommerwohnung zu vermieten, sieh nur den Zettel im Fenster«, sagte Schwiegervater, »obschon ich wissen möchte, wie man Platz darin finden könnte; aber die Kopenhagener nehmen gern mit einer Hundehütte vorlieb, wenn sie nur ihren Bekannten erzählen können, daß sie in die Sommerfrische gehen. Wie kann man nur bloß darauf verfallen, seine gute, geräumige Wohnung zu verlassen und sich in solch einer kleinen Pagode, wo man in den Hundstagen vor Hitze erstickt, einmieten!«

»Lass' uns hineingehen und die Wohnung besehen!« bat ich.

»Es ist wahrhaftig nicht der Mühe wert.«

Ich zog ihn aber doch mit hinein; eine biedere Bäuerin in den besten Jahren empfing uns, sie wohnte seit dem Tode ihres Mannes mit ihrer halbwüchsigen Tochter hier, da ihr Sohn das Gehöft in Tröröd übernommen hatte. Sie zeigte uns die drei Stübchen, die sie vermieten wollte.

»Das eine davon kann man eigentlich nur ein Loch nennen«, murmelte Schwiegervater. »Und wo ist nun die Küche?« fragte er.

»Die müssen wir gemeinschaftlich benutzen«, lautete die Antwort.

»Und der Preis?«

»Dreißig Kronen.«

Schwiegervaters Gesicht bekam plötzlich ein ganz anderes Aussehen, er warf noch einen prüfenden Blick auf die kleinen Stuben und sagte dann zu mir: »Weißt du, ich glaube beinahe, daß ich sie mieten werde.«

»Du? und eben noch nanntest du sie Pagode und Hundehütte und machtest sie schlecht.«

»Hm! es war nicht so böse gemeint! Doch da ich nach Jütland reise, will ich dir sagen, möchte ich Mutter und die Mädchen, denen es sehr gut sein wird, hier auf die Weide schicken.«

»Ja, das ist eine gute Idee, über welche sie sich gewiß freuen werden.«

Doch Schwiegermutter freute sich durchaus nicht, als ihr dieser Plan mitgeteilt wurde, sondern hatte mancherlei dagegen einzuwenden; das Haus lag ihr zu einsam, es war zu weit von Kopenhagen entfernt, die Wohnung war zu klein, aber der eigentliche, schüchtern ausgesprochene Grund war, daß die dreißig Kronen, ihrer Meinung nach, besser auf andere Weise im Haushalte verwendet werden konnten.

»Du mußt auch immer an deine langweilige Wirtschaft denken!« sagte Schwiegervater verdrießlich über das Scheitern seines gutgemeinten Planes. Arme Schwiegermutter! Sie hatte sicherlich ihre guten Gründe, an ihre Wirtschaft zu denken! Schwiegervaters Zureden, Johannas und Sophies Versicherungen, wie wunderschön es sich hier wohnen würde, Onkels und meine Beweisgründe nützten nichts, Schwiegermutter blieb standhaft. So mußte denn der Sommerwohnungsgedanke aufgegeben werden, und wir gingen weiter, alle natürlich ein wenig niedergeschlagen. Erst als wir in den herrlichen Enrumer Park in Vedbaek gelangten, machten uns die neuen Schönheiten, die unserer hier warteten, wieder fröhlich.

Ich ging mit Estrid voraus, wir sahen über blühenden Flieder und Goldregen auf das blaue Meer hinab, auf dem gerade ein großer Dreimaster mit schwellenden Segeln vorbeiglitt. Ringsumher ertönte munterer Vogelgesang.

»Es gleicht dem verzauberten Meere der Sage«, sagte ich, von meiner Begeisterung über die Schönheit des Platzes hingerissen. »Wie kann deine Mutter so unvernünftig sein, in dieser herrlichen Gegend mit solchen zauberhaften Stellen in der Nähe nicht wohnen zu wollen!«

»Mutter ist nicht unvernünftig«, antwortete Estrid, »aber sie soll Rat schaffen, wenn kein Geld im Hause ist, daher ist es kein Wunder, wenn sie ein wenig an die Zukunft denkt. Vater ist so gut und liebevoll, doch sobald er ein wenig Glück hat, vergißt er sofort, in welcher Verlegenheit er vorher gewesen ist.«

Ich dachte ein wenig nach und rief dann aus: »Estrid, ich habe eine Idee!«

»Was für eine?«

»Wir mieten selbst das Haus«, erwiderte ich mit Stolz.

»Ach, liebster Nicolai, wir können es ja noch weniger. Denke doch nur daran, wie betrübt wir gestern darüber waren, daß wir nicht besser gerechnet hatten.«

»Ich bin fest überzeugt«, antwortete ich, »daß es außerordentlich sparsam sein wird, wenn wir hier herausziehen. Milch, Butter und Fleisch bekommt man ja viel billiger auf dem Lande als in der Stadt. Und dann brauchen wir kein Geld auszugeben, um in den Wald zu fahren, denn wir sind ja im Walde. Estrid, wir sparen die dreißig Kronen überreichlich ein, sage ich dir. Du wirst sehen, es wird gewissermaßen eine Finanzspekulation. Und wenn deine Mutter dann in diesem Jahre die Kunst von uns gelernt hat, wird sie schon Lust verspüren, es nächstes Jahr ebenso zu machen.«

Estrid wollte antworten, doch ich schloß ihr mit einem Kusse den Mund. »Nun kein Wort mehr, mein süßes Mädchen, jetzt ist die Sache klipp und klar!« Und zugleich wandte ich mich den anderen zu, die gerade ankamen, und sagte triumphierend: »Wir werden jetzt die Wohnung in dem kleinen Hause mieten.«

»Bravo! das mag ich leiden!« rief Schwiegervater. »Hurra!« schrie Onkel und Johanna und Sophie stimmten ein. Schwiegermutter sah aus, als wollte sie einen Einwand erheben, aber die allgemeine Freudensalve brachte sie zum Schweigen.

Darauf gingen wir wieder zurück und verabredeten alles Nähere mit der Bäuerin. Stühle, Tische, Sofa und Kleiderschrank waren da, aber zwei Betten mit Zubehör, Küchengerät und noch allerlei anderes mußten wir selber mitbringen.

Wir begaben uns dann wieder in die Umgegend von Vedbaek, wo wir den Rest des Tages zubrachten. Wir waren alle außerordentlich munter, auch Schwiegermutter, da ja die Sommerwohnung nun einmal eine unumstößliche Tatsache war, an der alles Dagegenreden nichts mehr änderte. Die Wohnung, der wir den Namen »das Rosenhaus« gaben, war das Lieblingsthema, zu dem unser Gespräch beständig zurückkehrte. Ich hatte eine Menge Pläne, welche ich meinem Zuhörerkreise, der sich mit Eifer und Interesse an der Diskussion beteiligte, ausführlich auseinandersetzte. Die drei Stübchen erweiterten sich in meiner Phantasie zu drei großen Sälen, worin außer uns noch Estrids Mutter und drei Schwestern, sowie Onkel wunderschön Platz finden konnten, so daß die ganze Familie von der Sommerwohnung profitieren würde.

Abends fuhren wir mit dem Dampfschiff nach Kopenhagen zurück. Es war ein stiller, zum Träumen einladender Sommerabend, der Sund war spiegelglatt, und sogar der nördliche Himmel glänzte im Widerschein der in goldigem Rot untergegangenen Sonne. Estrid und ich suchten uns einen einsamen, unbeachteten Platz im Achtersteven des Schiffes und betrachteten von dort den glänzenden Himmel, die glänzende See und die Furchen und Schlagwellen, die das fahrende Schiff in der goldigen Meeresfläche hervorrief. Bald aber begannen wir auch hier vom Rosenhause zu sprechen und schmiedeten allerlei schöne Pläne für die Sommerferien; wir überboten einander in prachtvollen Beschreibungen der Herrlichkeit des Häuschens, und als wir endlich an der Besenhausbrücke anlegten, glaubten wir beide, Aladins wundervolles Zauberschloß gefunden zu haben.

Als wir gegen Mitternacht durch die Westbrückenstraße heimwärts wanderten, sagte ich zu Estrid: »Weißt du noch, wie ich heute morgen sagte, ich sei zu großen Taten aufgelegt? – Nun habe ich etwas Großes ausgeführt, ich habe uns eine Sommerwohnung gemietet!«

Doch mitten in der Freude gab es einen dunklen Punkt, der uns ängstigte. »Was würde Anna dazu sagen?« Ich kannte die Gesindeordnung nicht genau genug, um zu wissen, ob ich sie auf meiner Seite hatte. War ein Mädchen, das ich an einem Orte gemietet hatte, auch verpflichtet, mir zu dienen, wenn ich nach einem anderen zog? Und selbst wenn dem so war und Anna verpflichtet war, mit uns zu ziehen, – wenn sie nun keine Lust hatte, im Sommer auf dem Lande zu wohnen, konnte sie uns viel Schererei verursachen und uns dadurch die Freude zum großen Teil zerstören. Estrid und ich sprachen deshalb darüber und hatten beide keine geringe Angst. Estrid hielt es für das beste, vorsichtig zu Werke zu gehen und unter der Hand zu erforschen, wie Anna darüber dachte; ich dagegen wollte lieber, daß es Anna gleich ohne weitere Umschweife gesagt werde, wünschte aber, daß Estrid es ihr sage, und nicht ich. Unter diesen Umständen war es uns beiden eine große Erleichterung, als Anna mit ruhiger Würde erklärte, sie habe nichts dagegen, daß wir im Sommer aufs Land zögen, vorausgesetzt, daß sie dort ein ordentliches Zimmer bekommen werde.

Es dauerte noch etwa vierzehn Tage, bis die Ferien anfingen und ich schulfrei war. Schwiegervater reiste nach Jütland, um seinen Auftrag auszuführen. Doch mit jedem Tage wuchs meine Ungeduld, die Stadt zu verlassen; die Hitze wurde immer drückender, die Westbrückenstraße war mir ganz unerträglich. Um doch einen Vorgeschmack der ländlichen Freuden zu haben, kaufte ich mir eines Tages einen ganz weißen Anzug, weißen Rock, weiße Weste und weiße Beinkleider – hätte ich auch weiße Stiefel haben können, so würde ich sie mir ebenfalls gekauft haben. In diesem Anzuge kam ich nach Hause und stellte mich Estrid vor, die über meinen Anblick beinahe wie über den eines Gespenstes erschrak.

»Liebster Freund, was bedeutet dies?« fragte sie.

»Es bedeutet, daß wir aufs Land ziehen werden.«

»Brauchst du dazu einen besonderen Anzug?«

»Das tue ich allerdings; es ist ein vorzüglicher Anzug bei Hitze und Staub«, sagte ich, mich befriedigt im Spiegel betrachtend.

»Er wird aber so leicht schmutzig«, wandte Estrid ein.

»Dann lassen wir ihn waschen.«

»Darüber wird Anna sich schwerlich freuen.«

»Dann mag sie verdrießlich sein, mir ist es einerlei«, antwortete ich, dem in dem neuen Anzuge um so mehr der Kamm schwoll, als Anna nicht in der Stube war und ihre Ansichten über diesen Kauf aussprechen konnte.

»Wieviel hast du denn dafür gegeben?«

»Nur zwanzig Kronen! Ist das nicht der reine Ramschpreis? Ich glaube wirklich, daß dem Kaufmann die Sache leid war, aber der Kauf war abgeschlossen, und ich wollte ihn nicht wieder rückgängig machen.«

»Hast du zwanzig Kronen dafür bezahlt, so hat der Handel den Kaufmann nicht gereut, dessen kannst du sicher sein. Hättest du es mir nur gesagt, so wäre ich mit dir gegangen, und du hättest ihn für einen annehmbaren Preis bekommen.«

Meine Freude über den neuen Anzug erhielt einen Dämpfer, doch ich tröstete Estrid damit, daß er bei der Sommerhitze unbezahlbar sei und wir – in betreff der zwanzig Kronen – sehr sparsam, ach so sparsam leben würden, wenn wir erst auf dem Lande wären, und dann die Ausgabe bald wieder gedeckt hätten. Und als Estrid sah, wie fröhlich ich war, lachte sie auch und wurde wieder vergnügt.

Nun aber kam eine sehr wichtige Frage, die uns alle beide beschäftigte, nämlich der Umzug selber. Denn Möbel fanden wir freilich zum Teil dort vor, aber Betten und sonst noch allerlei Gegenstände mußten wir selbst mitbringen, und dieser Umzug durfte uns nicht zu teuer werden. Wir redeten hin und her, aber ohne eine befriedigende Lösung dieses Problems zu finden. Plötzlich durchschoß es mich. »Estrid«, rief ich aus, »ich habe eine Idee!«

»Du hast immer Ideen, ich nie.«

»Aber du hast Verständnis für meine Ideen und hilfst mir sie ausführen, das ist allein schon dankenswert«, tröstete ich sie.

»Was für eine Idee ist dir jetzt aufgestiegen?«

»Daß wir zu Wasser umziehen werden.«

»Die Idee kann ich noch nicht recht verstehen.«

»So werde ich sie dir erklären. Sieh, von hier nach dem Zollhause können unsere Sachen auf einem kleinen Wagen gebracht werden, das kann unmöglich viel kosten.«

»Das glaube ich auch, aber das ist ja auch erst der kleinste Teil des Weges.«

»Nun wirst du hören, was ich mir ausgedacht habe. Ich treffe eine Abmachung mit einem der Vedbaeker Fischer, daß er unsere Sachen mit seinem Boote nach Vedbaek befördert, und von dort tragen wir sie selber nach dem Rosenhause hinauf; Onkel hilft uns gewiß dabei. Ist das nicht eine gute Idee?«

Darin konnte Estrid mir nicht beistimmen, sie fürchtete, daß sowohl ihre Betten wie das übrige vom Spülwasser leiden könnten.

»Der Fischer muß aufpassen, daß dies nicht geschieht«, sagte ich. »Und natürlich muß es den Tag schönes Wetter sein. Es ist sowohl die billigste Art, dorthin zu gelangen, da der Fischer ja nur eine Kleinigkeit fordern wird, wie auch die poetischste und romantischste. Du mußt doch zugeben, daß ein Schiff, das hurtig die eilenden Wogen durchschneidet, ein viel posiereicheres Beförderungsmittel ist, als ein schwerer Umzugswagen, der langsam wie eine Schnecke auf der Landstraße dahinfährt; singt ja auch der Dichter:

»Langsamkeit ist 'ne häßliche Last,
Wagen gehen langsam, Schiffe in Hast,
Drum soll das Schiff man auch ehren!« (Oehlenschläger.)

»Das mag für die Welt der Dichtung wahr sein, paßt aber nicht für die Prosa des Alltagslebens, in der wir leben und nach der wir uns richten können«, wandte Estrid ein. »Basilisk!« rief ich entsetzt. »Was muß ich hören? Du wirst doch wohl nicht gar ein Ketzer oder ein philisterhafter Schwätzer werden, der zwischen Glauben und Wissen, Poesie und Wirklichkeit einen Unterschied macht und behauptet, dies seien absolut ungleichartige Prinzipien, die nichts miteinander zu tun haben? Im Gegenteil, diese Mächte sollten einander stets durchdringen, tragen und stützen, denn erst dadurch entsteht ein echtes, volles, großes Menschenleben!«

Durch kluge Überführung der Streitfrage von dem rein praktischen auf das philosophische Gebiet entwaffnete ich Estrid, die, wenn sie mir auch bisweilen anfangs überlegen war, schließlich doch immer besiegt wurde. Doch wollte sie nicht gern ganz nachgeben, sondern schlug vor, daß wir die Ansicht ihrer Mutter erst hören wollten; Schwiegervater war ja fort, und an ihn zu schreiben, hätte die Angelegenheit zu sehr verzögert. Schwiegermutter war natürlich ganz Estrids Meinung, was ich gar nicht anders erwartet hatte. Sie fürchtete nicht allein für das Hausgerät, sondern auch – und zwar hauptsächlich – für mein teures Leben, da man gar nicht so selten höre, daß auf dem Sunde Fischerboote gekentert seien. Onkel dagegen war mir ein treuer Bundesgenosse, er fand den Plan vorzüglich und versprach mir seine Hilfe und seinen Beistand bei der Ausführung, was er auch gern tun konnte, weil er nichts darüber versäumte.

Der Gedanke, zu Wasser umzuziehen, gefiel mir derartig, daß ich ihn durchaus nicht aufgeben wollte. Ich fuhr daher während der nächsten Tage unermüdlich fort, Estrid all die großen, damit verbundenen Vorteile vorzustellen, so daß sie schließlich nachgab und auch Schwiegermutter das Abreden einstellte, da sie deutlich erkannte, daß sie damit nichts erreichte und nur Öl ins Feuer goß.

Darauf machte ich einen Ausflug nach dem Rosenhause und redete mit der Frau, die mir Ole Jensen empfahl, einen ehrlichen, strebsamen alten Fischer, der, zehn Minuten Weges vom Rosenhause entfernt, unmittelbar am Strande wohnte. Ole Jensen war gleich bereit, auf meinen Wunsch, der ihm ein paar Kronen Verdienst in Aussicht stellte, einzugehen. Allerdings sei er noch nie mit Herrschaften nach Vedbaek umgezogen, aber er könne es ja gern versuchen und sich dadurch vielleicht noch neue Nebeneinnahmen verschaffen, da es mit dem Fischfange nur kümmerlich bestellt sei. Wir verabredeten einen bestimmten Tag in der nächsten Woche, an welchem er sich mit seinem Boote am Zollhause einfinden solle, aber nur, wenn es nicht schon morgens regnete.


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