Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Treppenhaus

Renate hatte, vom Bahnhof und Abschied Magdas zurückkehrend, sich alles aufsparen wollen – alles zu Fühlende und zu Denkende, was sie seit Mittag bis zum letzten Augenblick von Magdas Gegenwart aus sich verdrängen oder in Haltung hatte verwandeln müssen – aufsparen bis zu der Minute, wo sie ihr Zimmer betreten und damit sich allein in ihrem Gehäus haben würde. Jetzt aber, als sie die Treppe aus dem stillen, erleuchteten Hausflur emporstieg, sank eine Last von Schatten dergestalt über sie, daß plötzlich ihre Füße an den Stufen hingen, sich kaum von einer zur andern heben lassen wollten; und weiter als bis zum Absatz, wo die Treppe sich bog, gelangte sie nicht.

Wovon war die Luft denn so schauerlich dumpf im Haus? – Sie glühte mehr im Gedanken, daß es Luft der Seele, Luft des Schicksals sein könne, die sich so drückend auf ihre Brust legte, und schwer atmend öffnete sie ihre Jacke am Halse und schob den Schleier über die Stirne hoch. Dann legte sie die Muffe vor sich auf das Geländer, lehnte sich dagegen, und aus nun vollkommener Bewußtlosigkeit ihrer selbst folgte ihr Auge erstaunt dem weißen Säulengeländer empor zur Galerie und weiter hinunter bis zu der kleinen, gelblich verhangenen Lampe im Eingange des Flurs, an dem ihre Zimmer lagen. Von dort abfallend, glitt ihr Blick wieder hinunter an der weißen Täfelung der Wand, über das Geflügel, Gemüse, Wildbret und die Früchte des großen und dunklen Hondecoeterschen Stillebens, bis sie den hellblauen Läufer am Boden wie einen sehr stillen Bachlauf rinnen sah.

Mit einem Male fiel ihr ein: Weihnachten bekam Magda ein Telegramm von Georg. Und dies Telegramm, ja war nicht es allein schuld, daß Magda Gefühle in Georg vermutete, die vielleicht damals schon nicht mehr vorhanden waren? Dann schrieben sie einander Briefe, sie war glücklich darüber, und er – ich weiß nicht, was er schrieb, vielleicht war er nur zu schwach, nicht zu schreiben, vielleicht bildete er sich ein ... Nun gleichviel, aber an dem Telegramm jedenfalls war Bogner schuld und ich mit ihm. Ach, was hatte doch Magda einmal geschrieben? ein Wort Bogners ... Kein Mensch könne bei irgend etwas, das er geschehn lasse oder ... nun jedenfalls, die Folgen einer Handlung seien nicht zu ermessen, – ja, das war äußerst wahr und einfach, – und doch – dies Telegramm – dies Telegramm ... Es wollte Renate nicht aus dem Kopf, sie grübelte fruchtlos und beschwerlich herum, – langsam, unwiderstehlich fielen ihr die Augen zu.

Kaum aber in dieser Dunkelheit angelangt, wurde sie fortgerissen vom leuchtenden Wirbel der Hochzeit und, ohne die Augen wieder öffnen zu können, glaubte sie zu schwanken wie auf einem Schiff; ein Wirrwarr von Musikrhythmen, deutlich die Stimme des Klaviers, der Geige, Walzer-, Quadrillen-, Polkastücke durchjagten sie, sie fühlte sich unsichtbar umschlungen und davongedreht, dahingeschleift; Lampen, Gesichter, Ballkleider, Säulen schwirrten um sie her, sichtbar auf einmal erschien der rötliche Kopf des Onkels, – er saß rauchend in einem Winkel und schien behaglich zu plaudern. Da stand der Erasmus und sprach mit jemand, ernst und sachlich, Josef schlenderte neben einem jungen Mädchen durch den Saal, Magda schwebte, schmale, lichtblaue Erscheinung, vorüber ... Mühsam riß Renate die Augen auf und erschrak, sich trotzdem im Dunkel zu finden.

Was war denn das? Träumte sie? War sie blind geworden? – – Sie tastete, rückwärts tretend, nach der Lichtkurbel, drehte, – es blieb finster, doch die Finsternis färbte sich alsbald weißlich, es dämmerte, sie erkannte das Treppengeländer, die Wand, – und so merkte sie wohl, daß nur das elektrische Licht plötzlich versagte. Doch auch das schien ihr in diesem Augenblick seltsam und traurig genug – als ob das Haus kein Licht mehr brauche –, um sie davonzutreiben, und hastig, sich aufraffend, erstieg sie in der immer weißeren Dämmrung die zweite Hälfte der Treppe, ging die Galerie hinunter, in den Flur und – zauderte – – jetzt kam etwas – jedoch nur einen Augenblick. Dann bewegte sie sich bis zu ihrer Zimmertür vor, an der linken Seite des Flurs. Die stand weit offen.

Anstatt aber in ihr Zimmer blickte sie in einen weiten Raum, der von einer milchigen, weißen und lichtblauen Dämmerung wie von einem Nebel erfüllt war. Aus ihm, wie er langsam durchsichtig und klarer wurde, löste sich ein Halbkreis von schönen, lichtblauen Säulen, die ganz glatt wie aus sanftem Licht, von innen leuchtend in der weißen Nebelluft, schwebten, und zugleich strömte ihr ein Hauch von Frische mit einem inbrünstigen Narzissengeruch so stark entgegen, daß sie wollüstig aufatmete. Gänge von blauen Säulen schienen in alle Tiefen zu führen, wo eine bläuliche Dämmerung aus ihnen schmolz, wie ein Wald. Da bewegte sich etwas auf der Lichtung vor ihr, und sie erkannte jetzt, leise erschreckend, ein schneeweißes Tier, von ihr abgewandt, kaum größer als ein Reh, unendlich zierlich auf zarten Beinen und Hufen, über die ein langer, schneeweißer, lieblich gewellter Pferdeschweif herabfiel. Den Kopf hielt es gesenkt, so daß er ihr nicht sichtbar war. Jetzt – nun hatte es ihn erhoben. Sie sah betroffen ein großes, braunes, horchendes Auge, das sie nicht zu beachten schien, und sah das lange, wunderschön gedrehte weiße Horn, das von der Tierstirne nach oben ragte. Und nun, während ihr das Herz zitterte über die Lieblichkeit des Tiers, setzte es sich in Bewegung, zog einen langsamen Kreis unter unendlich anmutvollem Heben und Setzen der kleinen Füße – mein Gott, wie jung es noch war! – und ging zwischen den Säulen ruhig davon. Einen Augenblick noch bewegte sich in der Ferne der Silberfall des Schweifes, – es war verschwunden, und langsam begann das Blau der Säulen sich zu verhauchen; es löste sich alles in milchfarbene Nebel auf, und sie stand dicht vor ihrer weißen Zimmertür, im nächsten Augenblick im Zimmer selber, das noch immer von dem starken Narzissenduft über und über erfüllt war.

 

Dunkel

Renate merkte, daß sie auf einem Stuhl saß, und blickte ratlos umher. Noch einmal schwebte das Blau der glatten Säulen hervor, noch einmal mitten im Nebelsee das tiefe braune Auge, die kaum erkennbaren Umrisse des weißen Tiers, und als alles wieder fort war, fühlte sie sich überaus erfrischt und voll Dankbarkeit gegen das Wunder der Erscheinung. – Um sie her hatte ihr Auge es schon hell genug gemacht, um sie alles wieder erkennen zu lassen, allein wie auch Gegenstand um Gegenstand, ein wenig umhüllt nur von Nächtigkeit und Zwielicht, erschien und Art und Namen nannte, fand sie sich in so unbegreiflicher Fremde, daß sie Augenblicke lang glaubte, ein falsches Zimmer betreten zu haben. Nein, die Dinge selber waren unbekannt geworden ... Was war denn das, diese große und starke weiße Säule dort, die einen Granatapfel auf der Kuppel trug? Ihr Ofen – ja, und der weißsamtene Vorhang daneben verdeckte die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Weiterwandernd erkannte sie die weißlackierten Rahmen des Büchergestells an der Wand, die goldenen und mattfarbenen Rücken und auf dem obersten Brett die drei schönen Dinge: die dumpfblaue Vase voll weißer Tulpen, die runde, weißperlmutterne Wölbung der großen Nautilusmuschel und die kleine goldene Statuette des schmalen indischen Gottes. Sie drehte sich ein wenig im Stuhl, da war dicht neben ihr der kleine, eingelegte Tisch aus gelber Birke, die Kristallvase darauf mit groß entfalteten weißen Rosen, – sie erkannte die Stiele im Glas, – mehrere Blätter lagen auf der kleinen, gestrickten Decke darunter und der blanken Politur –, als schon das tiefe Seidenblau des Sofas dahinter ihre Augen erfüllte. Und dann sah sie auf dem Schreibtisch deutlich den fremden Berg weißer Blumen, der still dalag und atmete.

Josef ... dachte sie und rührte sich nicht. Kein Weg strahlte von dem Namen aus. – Nun eilte der leichte Silberschlag der Uhr mit raschem Schritt wie eine geflügelte Botin durch das immer hellere Zimmer, im Vorbeilauf sie streifend, ohne daß sie imstande war, die Stunde zu erhaschen. Doch stand sie langsam auf, nahm Hut und Jacke ab und legte sie auf den Stuhl, wobei ihr auf einmal Ulrika Tregiorni erschien, schwarze Holunderbeeren im dunkelroten Haar, vom Tanzen erblaßt, aber lächelnd, und sie fand sie, deren Wesen ihr nie ganz nahe gekommen war, in diesem Augenblick sonderbar rührend oder – schutzbedürftig. Die gute Ulrika! Da war zum ersten Mal Einer vor sie hingetreten, den es anzuschaun lohnte, ein richtig Fremder, nie Dagewesner, eine Art Weltwunder oder Mondbewohner, der sich wie Cyrano vom Kastanienast in ihr unbesorgtes Mädchenland herabgeschwungen hatte. Herr von Bergerac war nicht wirklich auf dem Monde gewesen, aber er kannte alle Methoden, um hinzugelangen, wie unerhört! – Leise lächelnd nahm Renate Hut und Jacke wieder vom Stuhl auf und trug sie ins Schlafzimmer, wo sie ihr meergrünes Hochzeitskleid noch über dem Bett liegen sah, und im nächsten Augenblick war sie, ohne nachzudenken, dabei, Rock und Bluse aus- und das Kleid anzuziehn. Vor den Spiegel tretend beim Zuhaken, drehte sie vergeßlich die Lichtkurbel, es blieb dunkel, sie erinnerte sich nun und sah sich gleich darauf seltsam fern in der dunklen Spiegelhöhlung stehn, – wie eine gefangene Meerfrau anzusehn, fand sie, leise frierend am bloßen Hals und den Armen.

Wieder im andern Zimmer schritt sie zum offenen Fenster rechts neben den Schreibtisch, die Blumen absichtlich übersehend und was etwa darunter sein mochte, schlug den Vorhang zurück und blickte in den nächtlichen Garten hinunter. Der war geisterhaft still und ergraut, das schwarze Gespinst der Baumkronen hing unbeweglich vor dem Unsichtbaren, Dunklen des Himmels mit wenigen, zittrigen Sternen. Grau lag in der Tiefe der Rasenplatz mit dem grauen Postament der Sonnenuhr. Kühl näherte sich die Luft und küßte sie leise an mehreren Stellen zugleich, Gesicht und Hals. Überdem bemerkte sie, daß sie die Aufgabe hatte, schwere Dinge zu bedenken, alles was mit dem Hause vor sich gegangen war, allein sie vermochte es nicht. Ich kann ja gar nicht denken, murmelte sie vor sich hin. Darauf fiel ihr ein – hatte nicht Shakespeare das gesagt –, nein, eine Frau bei Shakespeare sagte so ungefähr: Weißt du nicht, daß ich ein Weib bin und nur denken kann, wenn ich rede? – Sie lächelte und verlor sich.

Langsam wurde vor ihren Augen alles dunkelblau; in dem Blau entstanden zwei weiße, rechteckige Flecke, und sie merkte, daß sie, über den Tisch gebeugt, auf die dunkelblaue, straffgespannte glatte Seide ihres Sofas hinunterblickte, aber die weißen Flecke waren die Bilder darüber auf der lichtgrünen Wandbespannung, zwei aus den Tänzen Ludwig von Hofmanns, in weißen Rahmen, und während nun ihre Augen von der zarten Woge tief sich verneigender Frauen zur Linken nach dem nackten, weit und luftig daherspringenden Tänzer zur Rechten hinüber und zurück wanderten, schillerte dahinter allmählich wieder der Tanzsaal auf, Ulrika schwebte vorüber, Josef drehte sich wie ein Halbgott voll Seelenfriedens um sich selbst und seine Tänzerin sich um ihn, beseligter als er, das schien gewiß. Sie sah Erasmus auf sich zukommen, gut tanzte er nicht, doch auch nicht schlecht, und nicht unritterlich, aber Georg – er hatte tiefe Augen gemacht, bemerkenswerte Augen, aber – ich mag ihn gern, dachte Renate, er sieht doch richtig aus, wie man sich so einen jungen Prinzen denkt, sein Blick ist gut und ehrlich, ich glaube, daß er nur aus falschem Mitleid an Magda geschrieben hat, – ja, mein Gott! – Zwischen andern alten Herrn erschien ihr der Onkel im Rauchzimmer, wie immer anzusehn, wie immer ... Ihr Herz klopfte plötzlich hart. Was wird nun werden? fragte sie schwer und ratlos. Josef – ah, ich weiß, daß er nicht für immer fortgeht, weil ich ihn halte, ich! – – Überdem wanderten ihre Augen über den Schreibtisch hin zu dem kleinen, weißen Gipskopf des Ech-en-Aton auf dem Pfeiler in der Ecke. Oh wie es blüht, dein Göttergesicht, dachte sie ergriffen. Beschattet, weißer als die Narzissen, schimmerte das zarte Antlitz, der Mund, süß gewölbt, lebte, atmete, die Augen unter gesenkten Lidern blickten verschleiert in unendliche Zeit, die er über sich fortrauschen ließ mit unendlicher Geduld. Ewiger, was siehst du denn? Ewiger! Immer die Sonne, den flammenden Gott, und fühlst seine kleinen, segnenden Hände auf Stirn und Lidern und Mund und glühst unverzehrt durch Jahrtausende ihm zu? – Schweigsam und über die Maßen edel schwebte das kleine Antlitz, sanft emporgehalten vom Hals, nicht lächelnd, ernst – ernst – ernst ... Aber Josef hatte es einmal dorthin gestellt und die Säule, die es trug, war von ihm, – Renate seufzte, ging nun endlich zum Schreibtisch, setzte sich davor und ließ ihre Augen in den rotgeränderten Kelchen der Narzissen umherwandern. Vieles muß nun ausgefochten werden, bestimmte sie, ich werde es – – ja, was denn? Da sah sie den Onkel; allein, obwohl gleich von warmer Liebe und Mitleid überflutet, war etwas an ihm, das sie völlig fernhielt. Ja, allein würde er dies tragen, ganz allein: ihr blieb nichts, als weiterhin zu tun, was immer ihre leichte Aufgabe gewesen war: das Haus im Stande zu halten. Ja, nur eine einzige wärmere, zartere Bewegung von ihr, gerade jetzt, konnte ihn nur schmerzen, nur verletzen. – Ach, und dann Magda! Kaum erlöst, kaum genesen von diesem schauerlichen Winter traf sie der Doppelschlag an einem Tag, von Georg her und vom kranken Vater. – Glühend in trüber Hülflosigkeit dachte sie: Auf einmal bin ich allein. Und nun wird es ja Frühling ... Sie breitete unvermutet die Arme aus, es kam aber nichts, als daß sie sich über die Blumen warf mit beiden Armen, mit dem Antlitz und mit großer, brennender Pein, Wangen, Mund und Stirne badete, und als sie aufsah, war es ihr, als hätte sie geweint.

Ihre Brust schmerzte. Geweint? murmelte sie ungläubig, um wen denn?

Da flammte sie auf. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und zerdrückte etwas im Herzen mit aller Gewalt, das aber, anstatt zu schwinden, mit solchem Triumph wieder hervorbrach, daß ihr schwindelte, daß sie – ratlos für Augenblicke – an ihrem Hals tastete nach etwas, das nicht da war, dann den Narzissenberg zur Seite räumte, den Brief, den sie darunter fand, irgendwohin legte, nun aufstand, ins Schlafzimmer lief, umhersuchte, endlich auf dem Frisiertisch die schwarze Schnur mit dem kleinen Schlüssel fand, wieder zurück eilte, die mittlere Schreibtischlade öffnete und aufatmend das Buch hervorholte, in das sie seit ihrer letzten Reise fortgefahren hatte hier und da eine Eintragung zu machen. Blätternd, bis sie die erste leere Seite fand, tastete sie nach der Feder, tauchte ein und schrieb – die Schriftzüge kamen im Halbdunkel kaum leserlich unter der Feder zum Vorschein – das Wort: Geliebter! groß hin. Dann, fliegend, darunter: Benvenuto ...

Sie wollte weiter, sie hielt ein. Jählings fühlte sie sich eiskalt am ganzen Leibe. Da sah sie ihn stehn, in der Dunkelheit, unter den Bäumen, außerhalb des Gartens; sie verspürte den zitternden Schlag wieder, den sein Anblick ihr versetzte, den fast mit Wut aufspringenden Quell ihres Herzens, den monatelang verdämmten, und zuletzt den schweren Schmerz, den es sie kostete, als sie die ganze Trunkenheit wieder hinunterdrückte unter ihre Füße, um – wie auf einen ringelnden Drachen – daraufzutreten.

Jetzt war er wieder da. Sie las die Worte, die sie geschrieben hatte, beschämt und verwirrt, legte leise das Buch in die noch vorstehende Lade und schob sie zu. Wie lange, wußte sie nicht, aber sie saß angelehnt im Stuhl, als sie sich wieder fand, unaufhörlich aufwärts lächelnd gegen das kleine Königsgesicht, zu sich kommend so müde und so erstaunt, als wäre sie für Minuten selber in eine Narzisse verwandelt gewesen, lodernd von Süße und von Seele.

Sie erinnerte sich des Briefes von Josef, fand ihn auch neben den Blumen, entzündete die Siegelkerze, schlitzte, während die Flamme sich langsam entfaltete, den Brief auf und fand mehrere große Bogen darin nebst einem zweiten gefüllten und versiegelten Briefumschlag, auf dem in Josefs schwarzer und feurig aussehender Schrift geschrieben stand:

»Zu lesen nicht vor meinem Tode; auch dann nur bei Lebensgefahr.«

Matt lächelnd, ohne zu verstehn, faltete Renate die offenen Bogen auseinander und begann zu lesen.

 

Brief

Liebe Renate:

Dein Verstand sagt Dir beim Anblick meiner Handschrift auf dem Briefumschlag, was dies alles bedeutet.

Als wüßte sie es jetzt erst in der Tat, hielt Renate inne und richtete die Augen von dem Geschriebenen in die gelbe Lichtflamme.

Ja, nun war es unheilbar. Er war gegangen, an diesem Tage, in solchem Augenblick. Nein, was man ein Herz nennt – Spittelers Hündlein kam ihr ins Gedächtnis – etwas Weiches, besaß er nicht. Er tat und ließ nach Gedünken. Ihre Gedanken irrten ab, sie senkte die Augen wieder auf das Papier.

... was dies alles bedeutet. Gott segne Deinen Geist, bete aber fleißig, daß er Dir nicht verwirrt werde in diesem geistlosen Lande. Mach Dir keine Sorgen wegen meines Fracks; ich habe, wie Du weißt, Gelegenheit, ihn mit der Reisekleidung zu vertauschen. Dort werde ich auch den Abschied nehmen, der nun einmal bei allen Reisen genommen werden muß, so daß ich mir den unsrigen ersparen kann. Zuvor aber sind einige Worte noch unumgänglich.

Ich möchte, daß Du, wenn nicht den Grund, so den Ernst, die Notwendigkeit meines Fortgehens verstehst, oder, so Du die nicht verstehen kannst, immerhin siehst, daß sie vorhanden sind.

Allerdings ist das nicht leicht zu schreiben, denn wenn ich an sich schon eine Abneigung habe, von mir selber zu reden, mich zu erklären womöglich, finde ich es lächerlich dazu, sich in die Welt zu stellen und zu sagen: Ich passe nicht hinein, gebt mir eine andre! – dies zu sagen, ehe nicht die eigene Zulänglichkeit bis an ihre Grenzen, d. h. bis an die Grenzen der möglichen Welt ausprobiert worden ist. Wohlan, ich mache mich auf den Weg.

Obwohl zu betonen ist, daß ich mich für keinen Abenteurer halte. Ich bin es – fast möchte ich sagen: leider – so wenig, wie etwa Kolumbus einer war. Abenteurergelüste um ihrer selbst willen besitze ich nicht. Mein Wunsch war immer, etwas zu leisten, und noch bin ich überzeugt, daß es etwas giebt, das imstande ist, mich zu fesseln. Uralt gallisches, deutsches und semitisches, innerhalb des deutschen obendrein schwäbisches und preußisches Blut – aus dieser Mischung bin ich, der ich bin. Viele Strömungen und kein Strom – das ist klar. Ich tue aber, was ich kann, werde es auch noch besser tun, als bisher; hierzuland freilich kann ich nicht.

Obgleich erst morgen eine endgültige Entscheidung hier im Haus fallen wird, schreibe ich diesen Brief schon heut, das heißt in der Nacht – besser: am frühen Morgen – vor der, in der Du ihn liesest. Vor einer Stunde trennte ich mich von einigen guten Leuten, unter denen dieser nette, kleine Prinz war, ein Musterbeispiel der heutigen Jugend. Noch einmal versucht ichs – Gelegenheit und Objekt waren so günstig – versucht ich es, über einen Menschen zu kommen, ihn zu: betören, – und nun – er war in meiner Hand, ich hätte ihn in der Folgezeit drin behalten, hätte zum Königsmacher werden können an ihm, jedoch – ich lasse es. Auch er ist eben einer von diesen Innerlich-äußerlichen, diesen ›Impressionisten‹, die von allem einen Eindruck davontragen müssen, aus tausend Eindrücken aber nichts zustande bringen, bei aller Arbeit, was einer kleinen Tat ähnlich sähe. Viel Verstand und wenig Hitze. Alle Gebärde schlägt, eh du dirs versiehst, nach innen zurück. Sich verleiten lassend zu allem, lassen sie sich hinreißen zu nichts. Aber genug von ihm. Er ist jung, wirds auf seine Weise zu was bringen und sollte übrigens ein kleiner Herzog werden, damit für eine Weile der Denkmalsunfug im Lande aufhört oder in andre Bahnen kommt, denn er hat Geschmack und ist belesen.

Die Menschen gehen hierzuland auf eine Weise umher, die überaus aufregend anzusehn ist. Alle sind beschäftigt mit irgend etwas, aber niemand hat einen Beruf. Es verloddern die Seelen scharenweis. Jeder verfolgt etwas, und nicht einer wird verfolgt, nämlich von etwas, das über ihm wäre und Nahrung verlangte aus seiner Seele. Jeder hängt an seinesgleichen, und so wanken sie alle herum. Nein, an etwas hängen sie zudem, an dem Klebrigen, dem Ekligen, am – oh siebentausend Höllenflüche, Du Engel! – am Geld. Wärs noch Gold, gutes, gemünztes Gold, säßen sie noch als leibhaftige Shylocks über eisernen Kästen und fleischlichen Kaufmannsbrüsten, wetzten sie's Messer, brächten sie sich alle miteinander ins Zuchthaus, – man ließe sichs gefallen. Das Geld ist keine Macht, das Geld ist bloß ein Laster dahier. Laster wie Trunksucht, wie – eben solch ein Klebriges, von dem nicht loszukommen ist. Haben oder Mehrhaben, das sind die zwei Losungen. Sahst Du je einen Freien? Sahst Du je einen großen Gelehrten, der nicht den albernsten Redeschwulst, vor einem Kegelklub gehalten, ungedruckt lassen könnte, – weils Geld bringt? Je einen Künstler, der ein Kriegerdenkmal ablehnte, einen Dichter, der seinen Roman unverdramatisiert, – veropert, – verfilmt lassen könnte – wenns Geld bringt? Der Arbeiter will nicht sein Recht haben, sondern sein Geld und vergiftet sich den Tag obendrein, den die Luft der Maschine schon verpestete. Ein ungeheurer Überfluß an Humanität hat diese alte Welt dazu gebracht, den einzigen Wertmesser jeder Leistung, das eigene Leben oder: den Tod, wegzubrechen. Seitdem liegen alle Gegenstände umher, gut eingeschlagen in bürgerliches Stempelpapier, aber das große kaiserliche Siegel fehlt. Es wird nur um Geld gespielt. Über allem aber thront, auf seinem Piedestal von Feuilletonpapier, der ewig nörgelnde Götze sogenannter Kritik. Gott schlug schallend in jeder Neujahrsnacht an die Herzen, und nicht eines gab einen Ton. Keiner fühlt.

Erhalte dir dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben, sagt Salomo. Wohlan, ich bin auf dem Wege.

Ich könnte ja mit dem Flugapparat in die Lüfte steigen und Mut beweisen. Zum Nordpol forschen gehn, Perlentaucher werden, nicht wahr, oder Schutztruppensoldat in Südwest, oder Tiger schießen. Ich sage Dir, es genügt mir nicht, auszulassen, was in mir ist, es wäre mir lächerlich, zu beweisen, was ich habe; ich will: Form.

So rührend schamhaft ist der Norden! Jeder leidet, und keiner giebt es zu. Alle seufzen unter der Unzulänglichkeit, unter der Dumpfigkeit und Entstelltheit ihres rein und schön empfangenen Lebens, aber keiner käme nur auf den Gedanken, nach einem Retter auszusehn. Hast du auch ein Herz? fragt einer vielmehr, und da antwortets: Schrei nicht so laut! ich hab keins, – das heißt – vielleicht, ich will mal sehn, in meiner Frau ihrer Schürze ist so was Dickes, – sagt er. Vor lauter Höflichkeit knüllen sie sich zusammen wie Seidenpapier. Ach, ich gönnte dieser hochwohlgeborenen Bevölkerung eine Pestilenz, ein Schlachtfest des Ares, das sie jahrelang mit den Köpfen gegen den Nabel drückte, bis sie merken, wozu ihr Wahnsinn sie gebracht hat.

Ja, mich ekelts vor dieser Welt der Langweile und Sommersprossen, wo nichts sich erreichen läßt, weil alles vor einem liegt, wo nichts zu führen ist als Schläge ins Wasser, wo alles papieren ist, Bankpapier, Wechselpapier, Geldpapier und Zeitungspapier, wo ein entsetzliches Trägheitsvermögen das ganze schäbige Gesetz des Daseins vorstellt, das jüngste Mark schon würgend, wie dieser kleine arme Prinz mir zeigte, der Sekt aus Eimern trinken muß, weil ihm das gelehrt wurde anstelle der dürftigen Kunst, mit einem halben Glas Haute Sauternes und einigem Sodawasser Hirn und Kehle für eine Nacht geschmeidig zu erhalten. In die unterste Sohle eines Kohlenbergwerks möchte man sich verkriechen, wenn man nur diese unaufhörliche Helligkeit sieht. Es giebt keine Nacht mehr, geschweige denn Sterne, vor dem weichen Antlitz des Dunkels schauderts sie alle, aber nicht vor ihren, vom Kunstlicht entstellten Gesichtern, und es ist nicht herauszukommen aus diesem Gewirr von Bahnhofslichtern, man muß die Augen zukneifen, um einmal zu sehn, wie es leuchtet aus innen bei Finsternis. Nein, ich will nichts mehr von diesem alten Land, wo die Straßen sich tausendfach kreuzen und an jeder links und rechts Laternen und Meilensteine so dicht stehn wie die Spargel im Frühbeet. Kein Weg, den nicht sieben Schwaben breit stampften, kein Wort, das sich nicht vor Scham verkriechen müßte, weil es nach Alter riecht. Wo alles sich befehdet ist, lieblos, unfreundlich, weicht sich doch alles aus, nichts widersteht, nirgend ist ein Feind – –

Nun schon genug, mein Freund, sagte Renate, das Blatt ein wenig von sich schiebend, vor sich hin. Mir scheint, ich habe dich noch nie so viel und so laut reden hören. Freilich – deine Einzigkeit würde nicht darunter leiden, wenn es mehrere von deiner Art gäbe, und das könnte wohl nicht schaden. – Trotz solcher Gedanken fühlte sie sich nicht unversehrt von der Glut seiner Sätze, die sie noch an sich hochspringen fühlte wie eine höchst lebendige Meute. – So neigte sie sich wieder über das Blatt.

Aber was geht all das Dich an? Du weißt ja von alledem nichts. Ich dachte oft: Bäume müssen sich so empfinden wie Du, Pappeln an den Landstraßen, wo alles vorübereilt, aber – der Baum an der Straße spürt das Lärmen um sich her kaum mehr als Du, deren Leben ganz in sich selber vor sich geht. So lebe wohl.

Ich habe nunmehr mein Testament für Dich aufzusetzen.

Zuerst hinterlasse ich Dir meinen Bruder Erasmus. Glaube mir, auch die Felsen der Wüste bedürfen der Pflege. Erasmus, ein Felsen der begabtesten Art – nie klagend oder bettelnd –, wird Dir niemals danken, noch zeigen, daß er Deine Pflege bemerkt, so fest ist sein Charakter. Sei also reine Sonne, die über die Richtigen und Unrichtigen scheint.

Ich hinterlasse Dir zweitens meinen Vater. Hier habe ich nichts hinzuzufügen; dies geht mich allein an.

Ich hinterlasse Dir Bogner, den Mann nach meinem Herzen, ich hinterlasse Dir unsern Freund Saint-Georges. Ich hinterlasse Dir Haus und Garten, Zimmer, Tisch und Stuhl und die tägliche Speise. Nichts, das Dir nicht meine Hand, mit Segen gesalbt, hinterließe. In diesem Augenblick, in jedem Augenblick, wo einer Abschied nimmt, wird er zum Herrn und Eigentümer des Bleibenden und verschenkt es an die Bleibenden. Den Himmel über Dir, die Erde unter Dir, die Luft, die Du atmest, die Sonne, die Dich freut, Regen, der Dir Langmut schenkt, alle Winde und Vogelstimmen – ich lasse sie Dich erben.

Ach Josef, dachte Renate in einiger Wehmut, aber kühl, – verschenken, um zu besitzen, nicht wahr? – Sie sah zum Ech-en-Aton auf über ihr. Dich hat er vergessen, mein zarter Freund, und die Orgel hat er auch vergessen, unser Seelenhaus mit den tönenden Wänden. – Renate nickte und las weiter:

Die Stare lärmen in höchster Munterkeit, die Sonne saugt den Tau von den Blättern, die sanfte Amsel ist schon verstummt. Lebewohl! Ich weiß, daß wir uns in einigen Jahren wiedersehn werden. Meine Hoffnung ist, Dich an Seele und Leib so ungewandelt wiederzufinden, wie ich selber unverändert zurückkehren werde. Ich werde zuerst das anscheinend Sinnverlassenste auf Erden, das Land der Vereinigten Staaten von Nordamerika probieren; vielleicht, daß es schon genügt, Europa in besserem Lichte zu sehn. Dabei fällt mir ein, den Wunsch zu äußern, Du mögest an irgendeinem Tage jedes Jahres – etwa Deinem oder meinem Geburtstag – ein paar Briefblätter mit einem Umriß Deines derzeitigen Lebens füllen, ein paar Farben hinein, ein Licht – keinen Schatten, oh Holde! – und das Ganze unter meinem Namen an das hiesige Konsulat von Costarica schicken, wo ich einen Freund sitzen habe.

Ich danke Dir für diese letzte, imaginäre Berührung Deiner Hand an meinen Lippen.

Josef.

Renate legte die Blätter zusammen und blickte, sie in den Händen behaltend, in das Licht. Langsam begann die Flamme sie zu schmerzen, es kam eine Träne, eine zweite, dann, nach einer Zeit, eine dritte, die sie fließen ließ, ohne danach zu sehn, fast ohne sie zu merken.

Die Uhr vor ihr schlug einmal an, – es war halb eins. Gleich darauf hörte sie die Anfahrt eines Automobils von der Straße her und war im selben Augenblick aufgesprungen und zur Türe geeilt. Sie trat über den Flur in das Nähzimmer und vorsichtig, um von außen nicht gesehen zu werden, in die Nähe des Fensters. So, heftig atmend, gepeinigt vom Verlangen, hinunter zu laufen, von der Furcht, den Onkel zu erschrecken und verletzen, sah sie den großen schwarzen Wagen vor dem Hause halten, sah im Laternenschein den Oheim aus dem erleuchteten Innern steigen, wo der Schatten des Erasmus sich vorbeugte, und langsam durch den Vorgarten kommen. Der Schlag fiel zu, das Automobil rauschte auf und entfernte sich zu Renates Verwunderung mit Erasmus, indem es einen Bogen beschrieb. – Wohin denn fuhr er noch? Ach! Noch einmal zu Josef? –

Ihr fiel ein, den Kurzschluß des Lichts zum Vorwand zu nehmen und mit der Kerze ins Treppenhaus zu treten. Aber sie hörte die Schritte im Hause laut werden und wieder still, dann die Treppe heraufkommen, – es dauerte ihr eine Unendlichkeit, und doch bewegte sie sich nicht. Erst als lange Schweigen war, nichts mehr sich rührte, trat sie wieder in den Flur und hinüber in ihr Zimmer.

Ich kann nicht! dachte sie, dastehend, ergeben. Er verhüllt sich vor mir, wie kann ich ihn anrühren? Alle verhüllen sie sich, – Bogner, Erasmus, und Josef, – oh mein Gott, wenn ich nur sehn könnte, wäre dein Brief eine einzige Lüge! Bis in die Fingerspitzen hab ichs gefühlt! Und wenn jedes Wort drin wahr ist – Wahrheit ist es doch nicht! Und – ach –

Unversehens löschte sie das Licht wie aus Scham.

Dann stöhnte sie auf: Ich will etwas tun! Will handeln, will Wunden verbinden, Steine schleppen, Pfeile auffangen, Gefahr und Not und alles, – aber ich will nicht dastehn, wenn neben mir Unheil hagelt und die Herzen zerschlagen werden, – dastehn und sagen: Ich leide! – Sie aber alle –, keiner läßt mich an sich heran.

Ach du Einer, flehte sie nun im Finstern, sanft aus sich emporgerichtet, gerne blind, – wann kommst du in das Dunkel und leuchtest mit deiner ganzen Seele? – –

Sie seufzte und ging in ihr Schlafzimmer.

 

Reise

Als Georg mit Benno den Bahnsteig betrat, stand da Josef von Montfort. Georg erschrak nicht wenig bei seinem Anblick, denn nun konnte er ja der Cornelia sein Wort nicht halten. Aber wie war zu denken, daß er schon heute ... Sie tat ihm unendlich leid, allein was war zu machen? Überdem ward Montfort ihn gewahr, jeder ehrte aber im andern die heimlichen Gründe, sie grüßten sich nur und blieben getrennt.

Georg, während Benno hinter ihm die erstaunlichen Gegenstände des Schlafabteils betrachtete, stand noch eine Weile am Fenster. Die Begegnung mit Josef hatte ihn unerwartet wieder tiefer gedemütigt. Warum floh er so davon? Oh nein, er mußte, er mußte davon, weit fort, weg aus dieser Umgebung, unmöglich, sich hier zu besinnen, zu klären. Schlaftrunken nahm er noch das Entgleiten der farbigen Lichter über dem Schwarz des nächtlichen Bahndamms auf, das Entgleiten der letzten Häuser und Laternen und gedachte schmerzlich Renates. Benno, der fühlende, lag schon zugedeckt, als er sich endlich wandte; so entkleidete auch er sich gemach, legte sich, versuchte zu schlafen, geriet in ein Wirrwarr verlorener Empfindungen, glitt endlich aus diesem Labyrinth ins Traumgewirr hinüber, während unter ihm Achsen, Räder und Schienen ihre dunkel donnernde Musik machten, gleichmäßig und unaufhörlich.

*

 

Hier enden des dritten Buches neun Kapitel oder dreimal so viel Stunden.

 


 << zurück