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Neuntes Kapitel: April

Bogner an Renate

Altenrepen, am 7. April

Gute Freundin:

Zwei Dinge hatte ich gleichzeitig zu bemerken, als ich vorgestern in der Arbeit stecken blieb: Erstlich, daß ich plötzlich keine Briefe mehr von Ihnen bekommen habe seit Dezember, – glaubten Sie, Ihre Schuldigkeit getan zu haben, oder wars ein Ärgernis, daß ich über Ihr letztes ›Wann kommen Sie?‹ stillschweigend hinwegging? Zweitens, daß kein Grund mehr vorlag, weshalb ich nicht die Arbeitsstockung zu einer Reise nach Altenrepen benutzen sollte. Da sitze ich nun am alten Schreibtisch meines Vaters in der alten Nacht, auf dem Sofa hinter mir ist mir ein Bett bereitet, und schreibe Ihnen, in Ihre Schweigsamkeit hinein, nach dem einfachen Gefühl, Ihnen irgend etwas schuldig zu sein, das ich mit der folgenden Beschreibung abstatten will. Morgen vormittag fahre ich zurück, sonst könnte es mündlich geschehn.

Ich kam mit dem Nachtzuge frühmorgens an und ging den ganzen Tag in der Stadt umher. Trotz hundertfacher Veränderung war alles wie dazumal. Davon ist nicht zu reden. Zu sagen höchstens, daß ich selbst als ein so völlig Fremder hier herumgelaufen bin, daß ich kaum noch begriff, weshalb ich kam, und welches Ziel ich hatte. So stand ich erst kurz vor neun Uhr am Abend unter der Gaslampe und vor dem tausendmal gelesenen Porzellanschild tief unten an der Tür, mit dem Namen und Titel meines Vaters. Das Schild: Sprechstunde ... war entfernt, nur die Schraubenlöcher waren noch da und der helle Fleck im Holz, wo es gesessen hatte. Auf mein Klingeln kam lange Zeit niemand. Es war sonderbar, da zu stehn. Endlich hörte ich weiche Sohlen, ein Dienstmädchen auf Strümpfen; ihr Schatten hinterm Glas wurde sichtbar, ein Schlüssel wurde zweimal herumgedreht, eine Kette fiel, die Tür ging auf, ein blondes Mädchen sah mich schläfrig an. Ich sagte meinen Namen, und ob meine Eltern da seien, worauf sich das Mädchen zu der, für alle Fälle geeigneten Antwort entschloß, Herr Sanitätsrat wäre mit Herrn Professor Arnold fortgegangen, aber die gnädige Frau wäre zu Hause. Da trat ich denn – mit Herzklopfen – in den schmalen Flur, hängte Mantel und Hut an die alte Kleiderablage und klopfte an die nächste Tür, vom Eßzimmer. Ich hörte die Stimme meiner Mutter Herein sagen und öffnete. Meine Mutter saß am Tisch, sah mir entgegen; links unter der Hängelampe saß sie, hatte ihr Haushaltsbuch vor sich, eine Hand aufgestützt, in der andern solch einen ganz dünnen, kniffligen Bleistift mit einem kleinen weißen Hornknopf.

Und da war dann doch das, was ich nicht berechnet hatte. Denn meine Mutter war, als ich fortging, 43 Jahre alt, ein ganz blühender Mensch. Nun saß da am Tisch unter der Hängelampe eine alte Frau, grauhaarig, mit verwischten Zügen; eine fremde, eine ganz unbekannte Frau. Das war schrecklich.

Da stand ich und sagte wohl, sie solle nicht erschrecken, ich wär es. Dann schrie sie leicht auf, und ich trat zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. Es war wie vor fünfzehn Jahren: mehr brachte ich auch als Junge niemals fertig.

Dann saß ich auf dem Stuhl vor der schmaleren Kante des Tisches, wo ich als Junge beim Mittagessen saß, ließ meine Hände streicheln und mich mit geröteten Augen ansehn. Sie fragte und fragte. Dann antwortete ich. Was fragte sie doch?

Ach, du siehst nicht gut aus, sagte sie. Hast du soviel gearbeitet?

Grade zuletzt, sagte ich.

Mein guter Junge!

Ja, Mutter.

Es wird dich niemand mehr erkennen.

Ich bin wohl sehr verändert.

Nur die Augen sind dieselben. Dein Haar ist ja ganz glatt geworden, und – mein Gott, es ist ja ganz grau!

Das kommt wohl mit der Zeit.

Und was für Falten du hast! an den Augen und da am Mund! Gott, eben sahst du genau aus wie Herbert! Und ich mußte den Kopf etwas drehen, damit sie sehen konnte, daß ich genau aussah wie Herbert, mein Bruder. Und dann fragte sie erschreckt, ob ich keinen Hunger hätte, ob ich allein gekommen sei, und ob der Herzog nett sei. Ja, hier würde ich viel verändert finden, seufzte sie dann, und ich fragte nach meinem Vater. Ach, sagte sie, er hat sich ja so wunderbar hineingefunden! – Aber da brach sie in Tränen aus und war lange nicht zu beruhigen. – Es habe wohl so kommen müssen, sagte sie. Die Operation hätte nichts mehr genützt, er sähe fast gar nichts mehr, nur auf dem rechten Auge noch einen Lichtschein. Professor Arnold – ein Universitätsfreund – komme abends zuweilen, und sie tränken ein Glas Bier im Döhrener Turm. Eins hätte der Arzt erlaubt. Er müsse jeden Augenblick zurückkommen. – Nun bemerkte sie, daß meine Augen herumgingen, und sagte, ja, hier hätte sich viel verändert, und sie zeigte mir ein Bild an der Wand, das die Frau meines Bruders gemalt hätte.

Glauben Sie mir, ich habe es doch nicht recht begriffen. Keine Veränderung durch ungeheure fünfzehn Jahre. Da war das Büfett mit seinen gedrehten Säulen und Muscheln, Zinnteller darauf, die waren früher nicht dagewesen, aber sie gehörten doch schon lange dazu, und die Stühle hatten Ledersitze bekommen. Ich ging durch die breit offne Flügeltür ins dunkle Wohnzimmer; mit geschlossenen Augen hätte ich hinten am Fenster auf dem dünnbeinigen Schreibtisch voller Sächelchen die winzige Porzellanbüste von Goethe finden können, – Schiller war immer entzwei. Das Laternenlicht fiel von der Straße durch die Vorhänge herein, und ich nahm einen großen Einsteckrahmen mit Photographien, trug ihn zu meiner Mutter und fragte, und ich höre sie noch erklären:

Das? wer ist das? Erkennst du Herbert? Etwas ernst, nicht? Aber so war er immer. Das daneben ist Cora, findest du sie auch so hübsch? Vater konnte die vielen Sommersprossen nicht leiden, – aber nun sieht er sie ja nicht mehr. Das ist ein Bild vom Vater, das letzte, als er noch sehen konnte. Er hat sich ja nie verändert. Nur der Schnurrbart ist weiß geworden. Tante Agnes kennst du, sie ist jetzt in Göttingen. Das da ist Coras Mutter, etwas aufgeschwemmt, nicht? Ja, daß er grade eine Jüdin heiraten mußte, wo Vater ... den hat es doch recht gekränkt, aber die Kinder wollen nun mal ihre eigenen Wege gehn; und er scheint ja sehr glücklich mit ihr zu sein. Das sind Kränzchenfreundinnen von mir, wir haben ein sehr nettes Kränzchen; sonst – Und nun fiel ihr plötzlich ein, wo sie mich die Nacht hintun solle, und ich müßte auf Vaters Sofa schlafen, und da stand sie schon auf. Ich will gleich dem Mädchen sagen, daß sie es bezieht, sagte sie, und ich könnte ihre Steppdecke bekommen; sie hätten noch geheizt heute, es wollte dies Jahr ja gar nicht warm werden. Sie nahm ihr Schlüsselbund und lief hinaus. Sie ist sechsundfünfzig Jahre alt und noch ganz behende.

Hat sie diese Stunde, diese eine Stunde nun so oft vor sich gesehn, daß sie deshalb nicht ein einziges Mal sagte: Du bist ja da! Oder war es wirklich so einfach, einzutreten und da zu sein, daß alle andern Dinge gleich ebenso wichtig waren, ja, das Bett, in dem ich schlafen sollte, wichtiger, als daß ich überhaupt wieder darin schlief?

Während ich sie nun draußen wirtschaften und mit dem Mädchen verhandeln hörte, Türen gingen, Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden, ging ich in den drei, durch offne Flügeltüren verbundenen Zimmern hin und her und dachte wohl dies:

Kindheit, die ich wiedererkenne. Bin ich nun hier zuhause? Bin ich zuhaus? Da ist der alte Geruch, der sich nicht beschreiben läßt, den kein Mensch behalten kann, kein Fremder, aber ich habe ihn wiedererkannt und lieblich gefunden. Was hab ich gemeinsam mit diesen Sesseln und Bildern und Schränken? die Kindheit, die ich wiedererkenne. Es steht wie damals, läßt sich rücken wie damals, – kein Fremder, der sein Gewicht nicht kennt wie ich, würde das so können wie ich. Ein wenig schien mir alles aufgewacht, wie einer, der krank war, nun lange gut schlief und mit halb geöffneten Augen jemand vor sich stehn sieht, ihn halb erkennt und weiterschläft. Mein Vater würde nun kommen und mich nicht sehn, dachte ich, und daß meine Mutter nicht merkte, welch ein Fremder ich hier drinnen war, denn für sie bin ich noch immer der Junge, nur wagt sie nicht recht, es zu zeigen. Bei ihr wäre ich überall zu Hause. Sie aber würde sich nirgend glücklich fühlen, ohne diese Möbel, ohne den Himmel, den sie allabendlich ansieht – ob es auch sternenklar geworden ist –, ohne ihre Küche, den täglichen Mädchenärger, die Einkäufe und kleinen Freuden. Wenn sie vierzehn Tage in einer Stadt, zwei Stunden entfernt, war, wird sie ins Zimmer laufen und sagen: Na, Gott sei gelobt, daß ich wieder da bin! Ach, was ist das für eine sonderbare Güte, die solche Dinge am Herzen hält, die nichts sind, die nie etwas für sie taten, was nicht jeder ähnliche Gegenstand besorgen könnte, die nur durch ihren Gebrauch etwas geworden sind, etwas einziges. Die Erinnerungen freilich ... In diesem Stuhl hatte sie gesessen voll Angst und Unruhe, während mein Vater in der Klinik lag, an diesem Fenster hatte sie gestanden, als der kleine Sarg mit Schwester hinausgetragen wurde, an demselben Fenster hat sie an den Zeugnissonnabenden auf ihre Jungens gewartet, niemals recht erfreut in Herberts Erwartung, weil immer in Sorge, in Hoffnung wieder und immer enttäuscht durch den Andern. Auf diesem Sofa hatte sie ihre Schwiegertochter erwartet, mit dem geheimen Gefühl: Vater mag sie nicht. Aus diesem Fenster hat sie die Jahre lang hinausgesehn, ob keiner die Straße herauf käme, ein ungelenker, ruppiger Bursch, in sich verbissen, kalt und ohne Zärtlichkeit. Hier drinnen ist ihr alles geschehn. Hier hat sie alle Mahlzeiten gerichtet und den Mädchen ihren Lohn gezahlt, auf diesem einen Tisch hat sie ihre Briefe geschrieben, ihre Rechnungen gemacht, ihre kleinen Notizen im Kalender, ihre abendlichen Patiencen gelegt, ihre Wäsche gestopft und Stickereien gearbeitet. Auf diesem Tisch liegen ihre sechsunddreißig Ehejahre aufgehäuft, tausend und tausend mittelgroße Sorgen, Ärgernisse, Widerspänstigkeiten, Hoffnungen, Wünsche, Ergebungen, Tränen, Bangnisse, Sorgen und Sorgen. Wieviel große Schmerzen? Und keine einzige Seligkeit. Sie hat nie Großes empfinden dürfen, sie hatte immer zuviel zu tun! – In drei bis sieben Zimmern, vor acht Fenstern, vor einer Straße.

Am Ende aber von alledem wird sie gerne sagen: Es war nichts Einzelnes, freilich, aber es war doch viel; so viel, daß es gut war, schön war und so, wie es sein muß. – Es hätte alles anders sein können und wäre das gleiche gewesen. Nur ein Mensch war nötig, für den sie sorgen konnte; dann war sie zuhaus.

Das wars wohl, was ich dachte, als ich einen Schlüssel in der Korridortür hörte. Schritte wurden laut, Stimmen zweier Männer, die sich verabschiedeten, dann kam meine Mutter eilfertig, im Eßzimmer – ich stand grade im Wohnzimmer – ging die Tür auf, meine Mutter kam rückwärts herein, meinen Vater führend, und die fünfzehn Jahre und die Feindschaft waren zu Ende.

Gestalt und Haltung war die gleiche wie damals – er ist groß und stark – aber nun hielt er einen Stock vor sich, und das Gesicht war fast unkenntlich durch die grüne Brille; der Schädel war kahl und blank. Es war einen Augenblick still, und sie sprach wohl so feierlich, um die Worte nur herauszubringen: Vater, dein Sohn ist heute wieder gekommen. Dann setzte sie sich eilig an den Tisch, um zu weinen. –

Gewiß, Kind, dein ›Sohn‹ sagte sie.

Ich bin auf ihn zugegangen, habe nach seinen Händen gefaßt und glaube wohl gesagt zu haben, was ich sagen wollte: Verzeih mir, Vater. Er sagte: Benvenuto. Und da ist es wohl dies Wort gewesen, das er sich einmal an einem glücklichen Tage ausgedacht hatte, das ihn jetzt übermannte, so daß er den Stock fallen ließ und den umfaßte, der da vor ihm stand, und den Kopf an seine Schulter legte und so krampfhaft schluchzte, daß meine Mutter hastig ihre Augen trocknete und sich erstaunt umsah. Als er ruhig wurde und die Brille abnahm, ergriff sie sie sogleich und trocknete sie im Taschentuch, während ich ihn um den Tisch führte und er sich setzte.

Dann saßen wir alle Drei beisammen und unterhielten uns. Später fing meine Mutter an zu gähnen und ging in ihr Schlafzimmer, um sich für die Nacht zurecht zu machen. Eine Viertelstunde später holte sie meinen Vater.

Nun, wir sprachen diesen Abend wie alte Freunde und Schlachtkameraden miteinander, die vor langer Zeit zusammen Gefechte, Märsche und Strapazen durchgemacht haben, jeden Wink verstehen und alles aus eigener Erinnerung ergänzen. Er ging auf alles ein, fragte, bejahte fand für alles eine Erklärung, fand alles richtig, erzählte kleine Anekdoten und Züge von Bekannten, erinnerte an historische Männer, die ähnliches durchgemacht, – am Ende wurde er stiller, fast bescheiden, tat noch ein paar Fragen, und dann ging er. Nur einmal kam die alte Sorge zum Vorschein, als er fragte, ob ich auch ordentlich verdiente und zu leben hätte. Ich mußte wohl an meine vier Hungerjahre denken, aber die Summen, die mir bevorstehn, konnte ich ihm doch nicht nennen. Der Name des Herzogs genügte auch, um ihn zu beruhigen. Ja, ja, mein Sohn, sagte er, dafür hast du denn auch jahrelang nichts zu brechen und zu beißen gehabt. Dem Verdienste seine Kronen. Ja, mein Junge, dann können wir wohl schlafen gehn. –

Nun sitze ich an seinem Schreibtisch. – Wenn es gar nicht gehen wollte, dann mußte ich hier meine Aufsätze machen, er stand hinter mir und diktierte, und meine Hand zitterte schon, wenn ich mich hinsetzte, und die Gedanken waren wie weggeblasen.

Was aber ist nun die reinliche Summe? Weib und Kind, das kenne ich nicht, ein Haus brauche ich nicht, kaum daß ich einen Freund habe; ich kann hier oder dort schlafen gehn, ich schlafe gut oder schlecht, und es hängt allein von mir ab. Das Geld liegt dann da, mit dem ich als Siebenzehnjähriger klirren wollte. Die Eltern brauchen es nicht, ich brauche es auch nicht. Und alles das, um hundert oder fünfhundert Jahre länger bei Namen genannt zu werden, als die Andern? Sehen Sie, da fiel mir eine Stelle vom Ruhm ein in Platons Gastmahl; ich fand auch eines zwischen den Büchern meines Vaters, aber es war ein griechisches, und ich konnte es nicht mehr lesen. Ja, so verhält es sich mit dem Ruhm.

Es kommt darauf an, daß einer die gegebenen Kräfte verbraucht, wie es in den soldatischen Befehlen heißt: Es wird verfolgt bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Wer das tut, hat meinen Ruhm und kann überall getröstet schlafen gehn.

Meine Mutter ist nun getröstet, und das macht mir Freude, oh, das macht mir Freude. Fünfzehn Jahre zurück höre ich die Stimme meines Vaters, aufgebracht und zornig: Hast du denn gar keinen Ehrgeiz, Junge? – Nein, Vater, kann ich noch heute sagen, und somit wäre alles in Ordnung.

 

Trassenberg, am 9. April

Als ich so weit geschrieben hatte, ereignete sich etwas, das ich Ihnen vielleicht mündlich einmal erzähle. Zum Schreiben ist nun keine Zeit mehr, auch möchte ich, daß das Geschriebene vorläufig für Sie so bleibt, wie es ist. In vierzehn Tagen hoffe ich, fertig zu sein und Sie in Altenrepen sehen zu dürfen. Nehmen Sie diese Blätter als ein Zeichen der Dankbarkeit und der Ehrfurcht, die Ihnen immer bewahren wird Ihr

Bogner

*

 

Hier enden des zweiten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.

 


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