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Erstes Buch.
Hochsommertag
oder
Die Kinder

 

Glanz und ruhm! so erwacht unsre welt
Heldengleich bannen wir berg und belt
Jung und groß schaut der geist ohne vogt
Auf die flur auf die flut die umwogt.

Stefan George

 

Erstes Kapitel

Wiese

Ununterbrochen feilten die Grillen.

Georg, zum Abgrunde des Sommers hinabgesunken, lag in der Tiefe des Grillenmeers. Über ihm hoch, in einer schönen Ewigkeit gab es einen Vormittag, Insel der Sonnenfriedlichkeit, und möglicherweise war es doch dort, wo sein Leichnam angenehm ruhte, in jenen farbigen, brodelnden Wiesen, von dem unzählbaren Zirpen des unsichtbaren Getiers dergestalt überfüllt, daß alles von ihm zitterte und schwoll wie von einer unsichtbaren, stampfenden Maschine, oder als brächten zehntausend Sonnenstrahlen an den geschliffenen Spitzen der Gräser dies Geräusch hervor, das fortebbte und erstarb und schon wieder von anderswo sich erhob und überschwoll und wieder hinsank und in Ewigkeit nicht verstummte – grün, grün, grün – und die flirrenden Stimmen. Georg bemerkte, den Kopf hebend, daß er allerdings inmitten jener Wieseninsel lag, sonst überflutet von Glut, und, geblendet vom Licht, gewahrte er durch die Spalte der Lider unendlich fern seine Beine und Füße in braunen Schnürstiefeln mit Messinghaken und Reitgamaschen, eine Art braunen Gebirges, umringt von bebenden Zitterhalmen und roten Sauerampferstauden wie von Zypressen und Kiefern, zu denen, klein vogelgleich, unablässig die roten Fliegen und Perlmutterfalter phantastisch heranflogen. Hummeln summten mit tiefem Geläut dazwischen. Unermeßlich fern und fein sang eine gedengelte Sense. Kühe, die in der Ewigkeit grasten, brüllten von dort herüber, selten nur und mit Seelenruhe. Die See hinterm Deich war nicht zu hören.

Helenenruh, dachte Georg, ach Helenenruh! Wenn ich nur wüßte, ob es auch so schön war, wie ich geboren wurde!

Er legte sich auf die Seite und war an den Grund eines Urwalds geraten. Alle Halme, die Margeriten, Federnelken und Sauerampfer – Georg dachte: Auersampfe, träumerisch – waren zu einer sonnigen Lichtung geworden, wärmedurchrieselt, bebendes Gold in der Himmelsbläue. Er wälzte sich auf den Bauch herum und betrachtete die Stelle, wo sein Kopf das Gras plattgedrückt hatte. Eine Ameise arbeitete sich schwierig daraus hervor, kletterte, immer wieder einbrechend, aber nicht verzweifelnd, darüber hinweg und verschwand. Hinter dem Gräserwald stand der Himmel wie blaues Glas. Dahinter stiegen Käfer auf, schlugen einen Bogen, fielen, waren fort. Grillen schnellten wie abgebrannte Schwärmer in die Höhe, fielen, waren fort. Schön wärs, jetzt durch die blaue Glasscheibe zu greifen, die da ins Gras gestellt war – warum tat man sowas nur niemals? – die ja nicht zerbrechen würde, sondern im Gegenteil, sie würde ganz weich sein, ungefähr wie warme Luft, aber die Hand würde gänzlich blau dahinter aussehn. Jetzt wackelte ein Urwaldsbaum aufgeregt mit dem Wipfel; an seiner Wurzel arbeiteten mit Stricken und Äxten wild aussehende Kerle, mit Waffen bestarrt von oben bis unten, in befransten Leggins, mit Schlapphüten, unter denen sie Tücher um den Kopf gewickelt hatten; ihre Pferde knabberten in der Nähe, legten jeden Augenblick die Ohren zurück, hatten böse Augen und mißhandelte Mäuler von den pfundschweren Gebissen; ihre Sättel waren wie Kamelsättel, nämlich tief, unbeschreiblich tief im kanadischen Urwald. Oder brasilianischen. Oder wars vielleicht der Arkansas, der in der Nähe durch die Schnellen ging? Von Arkansas kam man nach Tennessee und so weiter durch die Staaten, die sich unerhört ausbreiteten. Wie das schon klang, wenn man sagte: Staaten ... Arkansas war auch ein fabelhaftes Wort, ebenso wie Rio de la Plata, – o grenzenlose, stille Wasserflächen! O Papageienschreie! Die Savanne, die Savanne ... Welch unsterblich kolumbische Worte, durch Ferne und Abenteuer zu strahlender Glasur gebrannt, Fayencen der Unsterblichkeit! Womöglich bezaubernder, als wenn man Tasso sagte. – Du siehst mich lächelnd an, Eleonore. – Wem es gelänge, einen solchen Anfang zu erfinden! Sieh, Ameise, da bist du ja! Ist es dir gelungen? Warum jetzt diese Sauerampferpappel ersteigen, Ameise? Indiana, das war auch so ein entzückendes Staatenwort. Emma – warum steht jetzt Emma ins Gras geschnitten, so groß, so fett, so ausdrucksvoll? Die Möwen sehn alle aus, als ob sie Emma hießen ... bewahre, das ist ja kein Grasboden, das ist ja tintig und löcherig, das ist das alte Klassenpult unter dem Bilde von Herkulaneum. Ach, das wird nun wohl überhobelt sein, und die schön gemalte Tulpe Pilsener ist verschwunden, ebenfalls der unsterbliche Vers oben links in der Ecke unterm Lesevereinszirkel: Wer hier einschläft und nicht erwacht – Den hat der Daniel umgebracht. O Direx, o Daniel, o Gewesenheit! O wie schön sie nun dasteht, aufrecht und echt und dursterregend, die Tulpe Pilsener aus schönem Glase mit breitem Goldrand, zur obern Hälfte mit Schnee, zur untern mit klarem Honig gefüllt, und darunter, auf dem mit Zigarrenasche bestreuten Tischtuch –, – Georg las die mit Bleistift zierlich geschriebene Strophe Platens: Wer wüßte je das Leben recht zu fassen ...

Ja, wer wüßte je? O schwierige Fragen. Der Ernst des Lebens trat nun an einen heran. Man war ein Prinz, was hatte dies zu bedeuten, insbesondere? Wie gings weiter?: Wer hat die Hälfte nicht davon verloren ... Ja, ein Viertel war schon hin, zwölf bittre, griechische Jahre und noch sechs, dulde nur aus, mein Herz! »Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren.« Das kann stimmen, ach Gott, wie faul bin ich heute! Nur die Ameisen müssen immer arbeiten. Nun wieder hinunter den Auer ... »In Liebesqual, in leerem Zeitverprassen ...« Verprassen ist ein wunderbarer Ausdruck, das spritzt so! In Liebesqual ... in – – Liebes ... was heißt das? – Wer hier einschläft und nicht ... Du siehst mich lächelnd an ...

Wieso ist auf einmal alles rot? Sonnenuntergang? Nein! O verschlafene Tage! O Grillengezirp! O vergessene Geschichtszahlen! Ah, jetzt wird es bunt, das kommt vom Schlafen, ich habe eine kleine halbe – hu – ah! – halbe Stunde geschlafen, da liefen Ameisen in mir hin und her, ich glaube, ich war ein ganzer Ameisberg, so warm und voll Geruch von Erde, Kiefernadeln und kleinen Läusen, die gemelkt werden, es dampfte, es kribbel – es kribbelt noch immer, da am Ohr, wo sie ein und aus laufen ...

Georg faßte nach seinem linken Ohr, bekam einen Grashalm zwischen die Finger, hörte das Lachen einer Göttin vom Zenit und wachte ganz auf.

Da saß sie! Bei Gott, da saß dieses Mädchen ganz stille bei ihm! – Er konnte mit tränenden, geblendeten Augen nichts wahrnehmen als einen riesigen, weißen Kleidflecken, auf dem rote und grüne Scheiben durcheinanderliefen. Sein Herz klopfte stark. Aufgerichtet, in seinen Hemdsärmeln dasitzend, juckte er sich die Schultern, indem er das Hemd darauf hin und her schob, gähnte riesig und dachte: Was zuckte ich eben? Ich bin gezuckt, weil sie gekommen ist, weil sie nach mir gesucht hat, weil sie ... Er gähnte noch einmal, um möglichst gleichgültig zu erscheinen, und bemerkte, er sei so schlaftrunken. Da er keine Antwort bekam, sagte er nach einer Weile: »Weißt du, Anna, wie mir zumut ist? Als wär ich soeben geboren worden. Als hätt ich hier tausendundachtzehn Jahre im Grillengezirp geschlafen, bloß die letzten zehn habe ich einen schönen Unsinn geträumt. Weißt du, es giebt ein Bild, du wirst es nicht kennen, es ist von – von Philipp Otto Runge und heißt: Der Morgen. Ein kleines Kind liegt in einem Rübenfeld und streckt die Arme nach oben. So – Gott bin ich müde! – so komm ich mir auch vor!«

Während er sich in einem endlosen Gähnkrampf zusammenkrümmte, sah er doch das zarte Lächeln in den Fältchen ihrer Augenwinkel, dazu die roten Hitzeflecken über den fast brauenlosen Augenbuckeln, hörte sie auch etwas sagen von seinem Gesicht, das wie eine Rübe aussähe, die ein bißchen Wasser ausschwitzte, wo die Augen säßen, und es klebte eine Mücke auf seiner linken Backe.

»Mücken«, sagte er, »sind gut.« Und dann dachte er, indem er sie sitzen sah, auf der Seite nach weiblicher Art und mit angezogenen Füßen: Kleines, weißes Mädchen! Kleines gesticktes Mädchen von siebenzehn! Du lieber Gott, was kleine braune Schuhe! Und diese herrliche Stickerei, die das halbe Kleid bedeckt! Und dieser weißliche Flaum auf den Armen, die schon braun werden! Und diese großen, braunen Eleonorenaugen! Und die breite, schöne Stirn! Und diese Biegung des großen Florentinerhuts, und wie das Gesicht darunter im Schatten ist, und überhaupt alles! – Zärtlichkeit zog sein Herz zusammen, ringsum waren die Wiesen, rote Sümpfe von Sauerampfer, Gefilde weißer Sternblumen, und darüber dies unablässige Geschwirre, auf und ab Fliegen und Schnellen und Schweben von Flügeln, eine ungeheure Bewegung, und doch so still ...

Wieder lag er auf dem Rücken, starrte in die blendende Bläue, blinzelte und dehnte sich innerlich, daß die Knochen knackten. Er hörte einen trocknen Zweig taktmäßig gegen seine linke Gamasche schlagen. Die Grillen feilten. Die Hummeln summten. In einer eigentümlichen Ängstlichkeit bemüht, fortzukommen, war er wieder dabei, sich einen Weg quer durch die Staaten zu bahnen, die Rifle in der Linken, das Bowiemesser in der Rechten, den Tasso in der Revolvertasche (Reclam).

Plötzlich wagte ers und fragte, woher sie käme. Spazieren, sagte sie. Ob sie ihn gesucht hätte. Gefunden, sagte sie. Und so redeten sie vielleicht noch viele Worte, bis er kühn wurde und mit Herzklopfen sagte: »Ich weiß jetzt! Du warst eine kleine Wolke, die vom Dent de la Neige heruntergeflogen kam. Hast du wohl die himmlischen Kühe gesehn und die Engel, die blaues Gras mähten?« »O Georg,« sagte sie vorwurfsvoll, »darum bist du auch in Mathematik durchgefallen. Schäm dich was! Ein Prinz und durchfallen!«

»Wenn er doch nie regieren braucht!«

»Wie hast du das bloß angestellt?«

»Angestellt? Der alte Kaffer fragte nach geometrischen Reihen, aber Fischer hatte mir gesagt – wir wurden an zwei Tagen geprüft, in zwei Gruppen, weißt du –, die hätte er am ersten Tage gefragt gehabt, und deshalb hatte ich bloß noch schnell die Formeln für die arithmetischen Reihen übergelernt, und da sagte ich die her. Da setzte er mir eine halbe Stunde auseinander, das wären die arithmetischen und nicht die geometrischen, und was ich denn nun davon wüßte. Mehr nicht, sagte ich, und da fragte er Dieckmann, und da war ich durchgefallen, und das war vorauszusehn. Es war sehr bequem.«

Da saß sie und dachte. Was denkt so ein Mädchen, wenn es auf seiner glatten Stirn mühselig eine kummervolle Falte erzeugt? Halb ist ihr Kleid Tülldurchbruch – wie kann man eigentlich sowas anziehn, wie muß das wohl sein? – und die Bluse ist halb Tülldurchbruch – und halb ist sie gar nicht; man kann sie in die Westentasche stecken, wie warm sie sein muß! – Da wurde ihm innerst heiß, unter der Sonnengluthaut, und er dachte unbestimmt Zärtliches. Wenn ich nur wüßte, was sie jetzt denkt, dachte er.

»Georg, woran denkst du jetzt?« fragte sie.

Ach, sie hatte an gar nichts gedacht! – Er sagte, er hätte gedacht, was sie jetzt dächte. »O, muß man immer denken?« antwortete sie seelenvoll. »Wie wars denn nun«, fragte er, »an der Adria? Erzähle mal! Erzähle aus Genf, aus Venedig! Warum seid ihr nicht bis Griechenland gekommen, ich hätte euch alles gezeigt. Griechenland ist viel schöner. Sag, hast du in Innsbruck auch immer morgens, wenn du auf die Straße kamst, gedacht, es wäre schlecht Wetter, und dann warens die grauen Berge, und man mußte sich den Kopf ausrenken, um den Himmel oben zu sehn? Berge sind so scheußlich ...« Er ließ nachdenklich den Kopf zur Brust hängen, die Hände links und rechts neben sich ins Gras gestützt. – Wie spät es sei ... Er merkte, daß sie schon zum zweitenmal fragte, zog, ohne die zugefallnen Augen zu öffnen, die Uhr an ihrem Lederriemchen aus der Westentasche und hielt ihr die glatte Seite hin, die er für das Zifferblatt hielt.

»Halb elf,« hörte er sie ganz fern sagen, »komm frühstücken!«

Georg nahm sich zusammen und hatte das bedrohliche Gefühl, daß auf einmal Zeit da war. Halb elf, unweigerlich. Etwas hörte auf.

Er erhob sich umständlich, nahm die Jacke aus dem Grase, die dalag wie ein schlafender Jagdhund, zog sie an, stülpte den Panama auf, klopfte die Hose ab und stampfte mit dem rechten Fuß, daß etwas braune Erde vom Spornrade fiel. Dann gingen sie über die Fenne, vor sich die riesig aussehende, majestätische Wand des Wäldchens, zerklüftete und durchrissene Wipfel, über ein Knicktor, wieder über eine Fenne, durchs Gatter, und waren, von plötzlichem Brombeeraroma umwogt, in der dunklen, schattigen Eichenallee, in deren entfernter, runder Öffnung lichtes Grün, oben ein wenig Blau und dazwischen Weißes war vom Haus. Waren hindurch und gingen über die ganz grüne, geschorene Wiesenfläche gerade auf die Terrasse los, die glitzernd weiß zur linken Hälfte, zur rechten dunkelgrau, vom Schatten des Südflügels bedeckt, mit Brüstungen und großen, grauen, von rotem Geranium oder gelbroter Kapuzinerkresse überwucherten Steinurnen vor dem blendendweißen Hause mit seinen weit vorgreifenden Flügeln, den grünen Läden, schwarzen Dächern und zwei Türmchen lag, an dessen einem die goldnen Uhrzeiger blitzten. Ach, in dem wundervollen Grasboden unhörbar, das war eine Wonne zu gehn, so schläfrig, hier und da stolpernd, in den heißen Hosentaschen die glühenden Hände, den Kopf gegen die Sonne gesenkt, durch halbgeschlossene Lider auf die braunen Stiefel hinuntersehend, die sich da unten sonderbar selbständig vor und zurück bewegten, und links die kleineren braunen Füße, die – – – ach, es war zu schön!

Auf den Beetstreifen unterhalb der Terrasse blühten die Stockrosen vielfarbig, und oben saß Papa unterm rot und weiß gestreiften Leinenschirm am Tisch hinter der Brüstung zeitunglesend. Aus der Glastür trat der Diener, eine Figur aus undurchsichtigem blauen Glase, der gedrehte Flügel entsandte einen scharfen Goldblitz, er setzte einen funkelnden Silberkorb und Gläser auf den Tisch, und plötzlich ergraute alles und losch aus und schien verkleinert – oben hatte eine kleine Wolke sich vor die Sonne gestellt. Seltsam sachlich und wirklich erschien von rechts her auf dem Weg unter der Terrasse ein Unbekannter in einem grauen Anzug, blieb einen Augenblick vor einem Stock weißrosiger Rosen – Capitaine Christy? – stehn, ging sachte weiter, die zweimal vier Stufen hinauf, und wurde vom Herzog mit liebenswürdigem Eifer begrüßt. Georg dachte: Wer ist das? – Das Mädchen fragte dasselbe. Da waren sie angelangt.

 

Terrasse

Anna Magdalena ging um den Tisch zu dem wie immer sitzenden Herzog, der sie auf die Stirn küßte und nach den Träumen der ersten Nacht wieder im Vaterhause fragte (doch gab es keine bestimmten, bloß ein Erröten) und dann ihr und Georg den Fremden vorstellte, nämlich den Maler Benvenuto Bogner, dessen Bild oben im Klaviersaal Georg kenne. »Er erweist uns die Ehre seines Besuches und hat auch einen Freund mitgebracht, der aber leider krank ist.«

»Ach, das schöne Bild mit dem (sonderbaren wollte er sagen) Vers darunter!« sagte Georg erfreut, während er eine feste Hand zu fassen bekam und in ein ziemlich langes, bartloses Gesicht mit fast unsichtbaren hellen kleinen Augen in sehr großen Höhlen blickte.

Alsbald saßen sie um den runden Tisch und frühstückten Spiegeleier und allerlei Köstliches. Der Herzog erinnerte den Maler an ihr erstes Zusammentreffen in Paris, das war bald fünfzehn Jahre her.

»Ja, sieh, mein Sohn,« sagte er, »sieh dir diesen wohlwollenden Mann an. Damals war das ein Bursch wie du, verschlossen, boshaft, mager wie ein Hering, in seiner Dachkammer gedörrt, die mit den greulichsten Bildstücken angefüllt war, und er wie ein ertappter Lustmörder mitten drin sah aus, als ob er vor Hunger und Gewissensbissen umfallen wollte. Und er verkaufte nichts, keinen –«

»Hat Papa Sie damals schon eingeladen?« redete Georg vergnügt dazwischen. »Na, Sie haben sich Zeit genommen!«

Der Maler, sacht mitlächelnd, meinte, nein, er sei vielmehr gekommen, um das Bild mit dem – er machte genau Georgs eigne Pause vor dem Wort – Vers abzumalen. Georg wollte überlegen, wie aus dem Lustmörder dieser findige und vornehme Mensch geworden sein mochte, hörte seinen Vater sagen: »Iß, Kleines, du ißt ja wie'n Vogel!« und sah sie langsam an. Sie blickte, mit dem Rücken zur Hauswand sitzend, über die Brüstung und sagte: »Da kommt Papa,« rot werdend. Jenseit des Rasenovals erschien im lichtgrünen Loch des Eichenwäldchens ganz klein das weiße Pferd mit dem Verwalter, kam rasch näher, sich vergrößernd, umtrabte den Rasenplatz nach rechts hin. Der Maler hatte sich umgedreht. »Der große Chalybäus,« bemerkte der Herzog halblaut wie zu sich selber und fügte hinzu: »mein Verwalter.« Der war jetzt auf dem Seitenweg hinter Bäumen und Gebüsch verschwunden, tauchte wieder auf in einer Lücke, grad vor der Tür des halbverborgenen Verwalterhauses und stieg ab. Der Stallbursche war da und führte den Schimmel weg, aus der Haustür kam ein Herr die Stufen herunter, begrüßte sich mit dem Riesen, dem er kaum zur Brust reichte, und verschwand wieder. Bald darauf erschien die gewaltige Gestalt auf dem Wege unter der Terrasse, über deren Brüstung das schiefe grüne Hütlein eben entlang schwebte, und wie er nun im langen Rock und Stulpstiefeln die Treppe heraufkam, wurde er immer größer, so daß selbst Georg wieder erstaunte. Ungeheuerlich über den Sitzenden ragend, lüpfte er hoch oben das verschossene Hütlein von der hohen Stirn und den grauweißen Schläfenbüscheln, dem auf ihn zutretenden Maler die Hand reichend.

Ob er auch Besuch bekommen habe, erkundigte sich der Herzog, als er neben seiner Tochter saß. Chalybäus, den dicken Schnurrbart mit beiden Händen windend und drehend, daß die Spitze der schön gebogenen Nase sich krümmte, lächelnd und nach allen Seiten blitzend mit Zähnen und blauen Augen, bejahte mit herrlicher Tenorstimme, begrüßte zunächst Georg in homerischer Sprache, weil der in Griechenland gewesen sei, im Lande der Hellenen, vergaß völlig die Frage des Herzogs, die in Magdas ängstlich unbestimmtem Blick brannte, und stürzte sich mit Feuereifer in seinen Bericht über den Morgenritt, den Stand irgendwelcher Feldarbeit und betrunkene Polen. Es hörte wohl niemand zu.

Georg träumte. Kleine Wolken wie Schmetterlinge, weiß und mit wunderbar leichten Schatten, tauchten über den Eichenwipfeln auf. Er sah wieder die Grasebenen und die Linie des Deiches, leer, wehend, blumenreich. Er ging drüberhin, in der Ferne war etwas Weißes, Jo vermutlich, die jungfräuliche Kuh; er ging ungezählte Sommermittagsstunden darauf zu, es war Anna, sie saß im Grase und ließ blutrote Spinnen, wie Punkte klein, über ihre Hände laufen, die sie drehte, als wände sie einen Kranz. Plötzlich war ihr Kleid über und über bedeckt mit roten Punkten, die durcheinanderwimmelten wie ein Firmament, und sie sang leise: Spinn am Mittag, Glück am dritten Tag ... unaufhörlich die gleichen Worte. Es wehte über die Wiesen, es wehte; warm, zitternd kam die Luft, Heugeruch war darin, ferne ging die Stimme des großen Chalybäus sonor auf und nieder, zehntausend rote Spinnen wimmelten über das Mädchen hinweg, o Gott, wie heiß es war! Deutlich hörte er ihren Vater sagen: »Kinematograph ...

Georg kam zu sich, begann zuzuhören und faßte den Maler ins Auge, der ihm gegenüber Honig aus der Porzellandose schöpfte und auf Semmel fließen ließ, indem er den Hornlöffel drehte. Er gefiel Georg überaus. Das Gesicht war graubraun, weniger hager als fest; die Knochenränder der großen Augenhöhlen waren unter der Haut erkennbar – so wie bei manchen Affen, ja, und auch dies Traurige wie bei ihnen war zwischen den Brauen manchmal. Die ernste Nase, das Kinn, der schmale Mund mit einer scharf gegrabenen Falte links und rechts, wie war all das ruhig und geschlichtet – geschlichtet ja, und das gescheitelte Haar war völlig grau gesprenkelt, so daß er an Vierzig schien, aber vor fünfzehn Jahren hatte Papa gesagt, war er so alt wie ich ... Georg dachte, er habe noch nie einen so stillen Menschen gesehn, geschweige einen, der zugleich so vielwissend aussah, ja so – kostbar innerlich.

Der große Chalybäus erzählte tönend von seinem Besuch, einem Bekannten von »old times«, einem Schauspieler, der jetzt für den Film mime.

»Alte Erinnerungen,« sagte er, »fünfzig Erinnerungen, die schleppt so ein Mensch in seinen Taschen daher und merkts nicht. Auch ich war ein Mime im lockigen Haar,« sagte er. »Er zieht sie mit dem Schnupftuch heraus, daß sie wie eine Mottenwolke aufflattern, er schneuzt sich in sie, er schenkt sie in sein Glas, er verschenkt sie gra–ties! Er braucht sie nicht, ein Mensch, der lebt, was braucht der Erinnerungen, ich aber muß danach schnappen, ich lebe nicht, ich zehre, ich habe meine Zeit versäumt.«

»Wieso?« fragte der Herzog.

»O Durchlaucht dürfen nicht glauben, daß ich je Ihre Güte zu unterschätzen vermöchte! Ja, ich lebe auch hier, habe Amt, nehme Anteil an tausend Dingen, aber – der hat nie auf den Brettern gestanden, der sie jemals vergessen konnte, wie der Matrose seinen breiten Gang beibehält – ah Durchlaucht, jene Bretter sind schwankender als die einer Brigg, die sich im Seegang um Kap Horn herumwirft.« Der große Chalybäus war wundervoll im Fahrwasser. »Ich bin zu spät geboren, Durchlauchten!« sagte er pompös.

Georg fragte: »Wieso?«

»Durchlaucht, Sie kennen mein Unglück. Ich verlor meine Stimme.« Er räusperte sich, dankbar lächelnd mehrmals mit dem Kopf nickend, da er Georg ungläubig dreinblicken sah. »Ah Durchlaucht, Sie hören mich reden und bezweifeln meine Worte. Dies sind beschämende Überbleibsel. Einst hätten Sie mich hören sollen, einst, als ich Tasso spielte, Tasso! und den göttlichen Posa. Ich darf mich ja nun rühmen, des Verlorenen darf man sich rühmen, und meine Stimme war ein Donner, Georg, ein Donner! Ach, was ist sie jetzt! Aber hören Sie, was ich sagen wollte – ich war auch ein Mime. Mitterwurzer sah ich in der Loge sitzen und weinen, wenn ich seine Rollen spielte, aber was half mir diese Gabe, als die Stimme brach! Jetzt könnte ich sie verwenden, jetzt spielt man ohne Worte, Herr Herzog, jetzt hat man den Kinematographen. Ich aber bin alt geworden ...«

Magda, wie früher auch in Verlegenheit bei den väterlichen Rodomontaden, stand sacht auf, flüsterte Georg zu, daß sie ihr Reitkleid anziehn und die Pferde bestellen wolle, und entlief, die Terrasse hinunter. Ihr Vater unterbrach sich, sah ihr träumerisch nach, murmelte: »Wie eine Elfe!« und fuhr fort:

» Le théatre est mort, vive le cinéma! Man spielt nicht mehr zwischen pappenen Kulissen, kaschierten Möbeln, flatternden Türen, gemalten Bäumen und vor dem Souffleurkasten, sondern draußen in der herrlichen Gottesnatur! Die Anforderungen der Phantasie wurden ungeheure und sublime –«

Der Herzog fand und forderte den Maler zur Beistimmung auf, die Phantasie sei ein unseliger Greis geworden, den man zur Luft reizen müsse wie den König von Münster weiland.

Dies wollte der Chalybäus dahingestellt sein lassen, die Hauptsache bleibe: Alles muß echt sein. »Wirklich muß es sein, freie Natur, echter, windiger Wald, natürliche Zimmer und Pferde, vor allem Pferde. Ach, wer möchte nicht einmal drei Millionen Schimmel sehn! Die ganze Welt, sehn Sie her, ist zur Bühne geworden, Entfernungen? Wie? Der Raum schrumpft, der D-Zug bringt den Schauspieler an jeden verlangten Ort, Hotelvestibüle wechseln mit Ozeandampferpromenadendecks, Hafeneinfahrten, Freiheitsstatue und Spreewaldlandschaften. Das Büro eines Rechtsanwalts verwandelt sich, schneller als ich die Hand umdrehe, in diese Terrasse, diese Treppen hinunter treten wir in ein Warenhaus, Segelschiffe ziehn übers Meer, durch den Tubus eines Leuchtturmwächters gesehn, der Spielsaal von Monte-Carlo, Zypressen, Vesuv, das Zimmer einer Kokotte, Karlshorst vor den Tribünen, die Kulissen eines Va – – also die Steepler fliegen vorüber, alles, alles fliegt, saust, verwandelt sich, reißt ab, setzt meilenfern an und ist in atemlosem Endspurt vorbeigerast, abgewickelt, siebenhundert Meter Film in zehn Minuten – es muß eine Lust sein, darin zu leben!«

»Und das Ganze ist denn wie an die Wand gepißt,« sagte der Herzog mit Nachdruck, fügte jedoch begütigend hinzu, daß er Chalybäus ja gern entbinde; er wolle ihn nicht hindern zu leben. –

Georg schien sein Vater, wie stets, wallensteinischer auszusehn bei einer derartigen Bewegung oder musketiermäßiger, mit dem beweglichen, starken schwarzen Bartzapfen am scharf rasierten Kinn, und er betrachtete gegen das des Malers dies bärtige Gesicht, die kupfrige Haut, die über den schrecklich gesträubten Schnurrbart hängende schiefe Nase, jenes Wahrzeichen der Trassenberge, das er selber entbehren mußte, die kleinen, seltsam glühenden und durchdringenden Augen und das breit und schräge Dach der Stirn; kugelrund der ganze Schädel und voll von Haar, schwarzem, glanzlosem. Beim Maler – freilich – schien alles Innere vor langer Zeit stille geworden, um sich nur zu rühren, wenn er es wünschte; beim Vater schien alles gebändigt, dabei sich wehrend, immerfort bereit, sich frei zu machen. Das war der Unterschied.

Der große Chalybäus fuhr derweil fort:

»Sehnsucht, Durchlaucht, ist besser als Erfüllung. Ich bin zu alt geworden. Bedenken Durchlaucht die Anforderungen an den Körper bei solcher Bühne. Zwar bin ich Offizier gewesen, Beuglenburger Dragoner, Herr Bogner, aber das interessiert Sie nicht, und ich habe unter den Augen von – – nun, was ich sagen wollte, da erzählt mir mein Freund, wie er in einem Drama »Der Mann mit der eisernen Maske« ( l'homme au masque de fer!) – mehrere Kilometer weit durch die Trassenheide hat reiten müssen, und zwar reiten: in einer schweren eisernen Plattenrüstung, mit geschlossenem Visier, rückwärts und mit auf den Rücken gefesselten Händen aufs Pferd gebun –«

»Verdammt kompliziert!« meinte der Herzog und sah zu Georg auf, der sich erhob.

»Ich möchte zu Mama gehn,« sagte er halb fragend, »sie ist doch schon aufgestanden?«

»Geh nur – ihr wollt reiten?« fragte sein Vater, allwissend wie immer. »Ich möchte dich eine halbe Stunde vor dem Essen auf meinem Zimmer sprechen, richtet euch bitte danach ein.«

Er nickte ihm zu; Georg grüßte den Maler und ging ins Haus.

 

Saal

Georg durchschritt den Vogelsaal, stieg die breit und frei sich wendende Treppe empor und betrat den Klaviersaal, dessen vier Fenster nach dem Park weit offen standen, und es war wie im Freien. Nach rechts sich wendend, sah er gleich überm hellbraunen Harmonium das große, farbig leuchtende Gemälde, trat davor und las wieder den, auf eine Messingplatte im untern Rahmen gravierten Zweizeiler:

Liebe vergeht, doch es bleibt, was der Liebende schuf, das Geliebte.
Nichts ist der Mensch, doch das Werk, Götter vollbrachtens durch ihn.

Die Tiefe des breiten Bildes, fast die ganze linke Hälfte, war mit Landschaft erfüllt, entfernter, tief liegender Landschaft: sanft fallenden Wiesen, einem Hain, dem Stück eines blauen Flusses am Grunde, in der Ferne bläulichen Hügeln, von violetten Bergrücken überhöht, all dies gelbgrünlich im hellsten Sonnendunst verschwimmend und gläsern. Schräg über das Bild, diese Landschaft abschneidend, zog sich der obere Teil einer Balustrade von gelbem Marmor, neben der, aus einer lehnenlosen Bank von gleichem Stein, nahezu lebensgroß scheinend, ein Mädchen saß, in der rechten Bildhälfte, den einen Arm auf der breiten Platte der Brüstung. Ihr Antlitz lag, scheinbar aus dem Hinabschaun über die Schulter in die Gegend, flach nach oben gewandt, das Haupt tief im Nacken, die Züge fast unkenntlich durch die Verkürzung. Das, wonach sie zu sehn schien, war selber nicht sichtbar, aber sein Schatten, der eines Schmetterlings, lag bläulich und deutlich umrissen dicht vor ihrer Hand auf dem Stein. Ihr Gewand nahm das leichte Violettblau der Berge mit tieferem, röterem Ton wieder auf, durchsichtig, indem alle Stellen, die am Körper fest anlagen, rötlich schimmerten. und das alles, ohne Schwarz gemalt, glühte durchscheinend in blendender Hellfarbigkeit, wie von innen erleuchtet.

Keinen Zusammenhang zwischen Bild und Vers bekam Georg heraus. Leise angeweht von der ungemeinen Stille des Gemalten und dem unendlich in sich gekehrten Zauber des Augenblicks – so flüchtig und doch, als könne sie durch Jahrhunderte so sitzen – sah er irgendwo das fremde und bedeutende Gesicht des Malers, über welcher Erscheinung er sich nun genötigt sah, nach einer Jahreszahl zu spähn. In der rechten Bildecke entdeckte er sie neben einem kleinen roten Rad in roten Ziffern, doch war die letzte leider unleserlich, es schien 1897, und nun mußte er lächeln, wie klein er noch gewesen war, als das Bild gemalt wurde, worauf er sich losriß und augenblicks mit dem üblichen Herzklopfen zur nächsten, offen stehenden Türe ging, dann weiterhin durch die geöffneten Zimmer bis ins letzte, das dämmrig lag bei geschlossenen Vorhängen. Dahinter wars, das schwarze Zimmer, der Turm ... Er schauderte, zauderte leicht, nahm sich zusammen, trat zur verschlossenen Tür, klopfte an, öffnete, trat, sich schmal machend, durch den Spalt und schloß hinter sich.

Die Finsternis, in der er stand, traf ihn fast eisig nach der heißen Luft vorher, er blickte hastig nach oben, um ein Raumgefühl zu erlangen, sah den dünnen Lichtfaden weißlich aus der Laterne des Turms herabrinnen, hörte den großen Ventilator summen und gleich darauf die leise gleitenden Schritte seiner Mutter. Nun glaubte er auch ihren Schatten, schwarz in der Schwärze des Raumes, zu sehn, der wie eine Berghöhle tief und unterirdisch war. Der Schatten glitt näher, dort mußte die Wand sein, der Schein eines weißen Gesichts dämmerte, schwand plötzlich, und der Schatten glitt fort. Er hörte den Hauch eines Seufzers, der Schatten kam wieder und hielt nach einer Weile in seiner Nähe an. Georg drückte seine Stimme herunter:

»Wie geht es, Mutter?«

»Danke, schon besser«, antwortete sie kaum hörbar; dann fragte sie:

»Was giebt es Neues, mein Junge?«

»Es ist Besuch gekommen. Der Maler des Bildes im Klaviersaal, Bogner. Vater läßt es dir sagen, und ob du ihn heut abend sehn könntest.«

»Ich hoffe. Ist es ein angenehmer Mensch?«

»Sehr, Mama. Er spricht nicht viel, aber sein Schweigen scheint so klug und bedeutend. – Es ist sehr warm heut. Magda und ich wollen etwas reiten.«

»Heiße den Maler auch von mir willkommen. Ja, ich denke, ich werde heut abend mit euch essen können. Wie geht es Papa?«

»Gut, Mama, wie immer. Vielleicht giebt es auch ein Gewitter, das wäre doch schön für dich.«

»So, ein Gewitter? Ja, das wäre mir sehr gut. Nun, grüß Vater, mein Junge! Und Magda. Geh, mein Junge.«

Der Schatten war dicht an ihn herangekommen, auf einmal sehr groß und ganz weißlich; er ergriff eine eiskalte Hand, die aus der Dämmerung kam, küßte sie schaudernd, als wäre es eine Pflanze, und tastete sich nach der Tür. Er wartete wegen des einfallenden Lichts, bis der bleiche Schatten ganz fern von ihm war, öffnete die Tür, schlüpfte durch die Spalte und schloß sofort hinter sich wie vorhin. Draußen starrte er geblendet gegen das Lichtviereck der gegenüberliegenden Tür, in dem er nach einiger Zeit einen vergoldeten Sessel, dann unten den roten Zipfel eines Teppichs und oben ein Stück eines unkenntlichen Bildnisses erkannte, und nun ging er weiter bis vor die Saaltür, ohne Gefühl und Gedanken, wie betäubt, wie entronnen.

Langsam tröstete ihn der friedliche Anblick der drei, vor der drüben liegenden Schmalseite des Saales stehenden braunen Tafelklaviere, die sich still verhielten wie gute Tiere, und nun erst, da er dachte, daß eines von ihnen ein Geschenk des »flötespielenden Königs« war, wie seine Mutter ihn einmal genannt hatte, tauchte aus allem Unbestimmten und Verworrenen des Gefühls sie selber und wirklich wieder auf, er fühlte sie an seiner Hand, fühlte den Druck ihres ewigen, wütenden Kopfschmerzes auf der Stirn und trat hastig von der Tür zurück ans offne Fenster. Wie warm es nur war! Er beugte sich hinaus.

Weit links saß sein Vater unter dem Sonnenschirm, seinen Stoß Zeitungen auf dem Stuhl neben sich, selber verborgen hinter der papiernen Wand vom »Manchester Guardian«, und nicht weit von ihm saß jetzt allein, den Rücken zur Hauswand, Doktor Birnbaum, Onkel Salomon, und frühstückte. Georg konnte die rechte, im Kauen auf- und niedergehende Hälfte des hängenden braunen Schnurrbarts sehn, darüber die nicht minder hängende, stark gebogene Nase, die rote, feste Wange und die eine der kräftigen, hochgezogenen Brauen. Er hatte sein Glas Milch vor sich stehn, schnitt auf dem Teller eine schinkenbelegte Brotscheibe in Streifen und Würfel und steckte sie in den Mund.

Ach, dachte Georg, nun tief bekümmert, meine Eltern, meine armen Eltern! Da sitzt nun Papa wie ein Riese, braun wie ein Seefahrer, und nach einer Weile wird Egloffstein mit den Stöcken kommen, und auf vier stelzendürren Beinen wird er weghumpeln, aber – aber selbst dann ist er wie ein Meermann auf dem Lande, der seinen Fischschwanz hinter sich herschleppen muß, ja, so ist es, als gäbe es ein andres Element, in dem er sich frei und herrscherlich ... und es giebt das ja auch, er hat seinen Geist, aber da in ihrem Turm hinter vermauerten Fenstern läuft meine Mutter in ihrer Finsternis auf und ab, von brennendem Feuer im Kopf gejagt, tagaus tagein, und jahraus jahrein, sie kann nicht einmal denken, vielleicht abends eine Stunde. Vater ist so gelehrt und klug, er erfindet sich Flügel für die zerschmetterten Füße, aber meine Mutter, sie hatte doch auch einmal eine schön fliegende Seele, oder ist sie noch da, ist sie wirklich noch da? – Schamvoll den Gedanken zerdrückend, meinte er: Vielleicht fliegt sie um mich, wo ich bin, und trägt, wenn ich schlafe, meine Träume zu den vollkommenen Sternen.

Unten wurde gesprochen. Georg setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken rechts gegen den Rahmen lehnend, doch konnte er von drunten nichts verstehn, da Onkel Sal von ihm abgewandt sprach. Langsam drang die Wärme wieder ganz in ihn ein, er dachte, hier zu warten, bis Anna und die Pferde kämen, und nun hörte er plötzlich, während der obere Zipfel der Zeitung langsam sank und dahinter das bärtige Gesicht seines Vaters, ruhig mit ein wenig ironischem Blick auf den Sekretär gerichtet, zum Vorschein kam, ihn sagen:

»Wenn es sich wirklich um politische Dinge dabei handelte. Sie sehen ja nur die Anlässe, Bester. Die Gründe aber sind schon beinahe metaphysisch.«

Wovon redet er denn? dachte Georg. Onkel Sals Antwort blieb unverständlich, seines Vaters Gesicht verschwand wieder hinter der Zeitung, und da er so weiterredete, war wieder nichts zu verstehn. Übrigens genügte die Sonne, und Georg ließ langsam die Lider sinken. Fern, aber deutlich hörte er die Stimme seines Vaters wieder:

»Es handelt sich um das Recht der Jugend, das ist das Ganze. Frankreich ließ sich von Camille Desmoulins und den andern leider enthaupten ...«

»Napoleon –«, hörte Georg von der andern Stimme.

»Napoleon war kein Franzose,« tönte deutlicher die Stimme des Herzogs, »war ein italienischer Abkomme von Condottieres und überdies eine jener Gestalten –« Georg entging das Nächste, er versank tiefer in Wohlsein, Magdas Gestalt erschien ihm.

»Aber das Recht, wo ist denn das Recht?« schrie Onkel Sal. »No – nun sagen Sie mir ...«

»Was für ein Recht meinen Sie? Das, zu sein – aus dem sich als nächstes ergiebt: vor und über den andern zu sein. Jenes Recht, das – ich weiß nicht, ob es moralisch ist, aber das jedenfalls den Römern bei Cannä, den Griechen bei Marathon, den Ungarn vor Wien und den Preußen bei Gravelotte half.«

Sie sprechen vom Kriege, dachte Georg im Halbschlaf, neunzehnhundertund ... es ist zu komisch! Halt, was sagte Onkel Salomon? No, sagte er, er sagte immer no.

»No – und das bestreite ich eben!« Die Stimme kreischte etwas wie schlecht geölt. »Sind wir denn keine christliche Nation?«

»Das sind sie alle,« versetzte der Herzog auflachend, »was wollen Sie daraus beweisen?« Außerdem ist er Jude, der gute Onkel, dachte Georg schläfrig, aber was hat er für eine christliche Seele!

Eine Weile schien alles still, lange Zeit sprach jemand mit unterdrückter Stimme. Georg wars, als ginge eine Tür, er fuhr plötzlich auf, da seines Vaters Stimme unten ganz laut ertönte:

»Für jeden Alternden kommt einmal der Augenblick der großen Schlacht. Der Augenblick, wo er angreifen muß, wenn der wirkliche Angreifer, der Junge, auch zögert. Auch England ist in merkwürdiger Geschwindigkeit gealtert und liegt jetzt – ich habe immer diese etwas groteske Vorstellung, mit einer Fußspitze auf England, mit der andern auf Ägypten, mit einer Hand auf Indien, mit der andern auf Australien, und so ist es, nur damit beschäftigt, sich in dieser scheußlichen Lage zu halten, fett geworden, aber dies beiläufig, denn wenn es aufsteht, wird es immer noch einen fürchterlichen Kerl abgeben, wenn wir einmal dran glauben müssen, und das werden wir. Aus welchen Ursachen und wer dann angreift, ist so gleichgültig wie – na wie unser Gerede darüber. Die andern sind die Alten, Jugend ist Angriff eo ipso, drehen Sies –.« Ein dumpfer Hundelaut blaffte, Georg riß die Augen auf, es flimmerte alles, er rieb heftig die Lider und sah endlich Magda im schwarzen Reitrock und weißer Bluse über den Treppenstufen stehn und, eine Semmel in der Hand bröckelnd, Krumen über die Stufen streuen, auf denen zwei schillernde Tauben und ein paar Spatzen auf und ab hüpften. Unten lief der weiße Pfau hin und her, suchte, was für ihn herunterkam, und vergaß keinen Augenblick Anmut und die zierliche Würde von Kopf und Schleppe, dieweil neben Doktor Birnbaum Benedikt stand, der hellrote Hühnerhund, mit schiefer, erwartungsvoller Kopfhaltung, ganz still, nur das Ende der gebogenen Rute ging leise hin und her, und Georg wußte, daß Onkel Sal von Qualen zerrissen war, weil er doch selber auch was essen mußte. Überdem zog die Erinnerung an seine Mutter schattenhaft schwermütig durch Georgs Herz, er dachte wieder: Helenenruh, ach Helenenruh! – und die Zeit stand ihm still.

Plötzlich drehte Anna sich um, ließ die Blicke suchend über die Hauswand gleiten und nickte herauf, sonderbarerweise aber nicht nach ihm, sondern nach einem Fenster weiter links. Georg stand auf, trat in den Saal hinein, und da sah er hinter dem Vorhang des letzten Fensters ein Stück von einem Menschen, Bein und Knie, und da wars Maler Bogner, der friedfertig auf der Fensterbank saß und eine kleine Pfeife rauchte, als wäre er zu Hause. Nun sah er Georg still, ein wenig fremd, an und begann langsam und auf unbeschreibliche Weise mit den Augen zu lächeln. Georg trat zu ihm und sagte verlegen ein paar entzückte Worte über das Bild, die der Maler nicht zu hören schien. – Ob es hier Kühe gäbe, fragte er, und ob es erlaubt sei, sie sich anzusehn. Georg versicherte, es wimmle von Kühen überall und der Maler müßte sich hier wie zu Hause fühlen. Schon im Forteilen, denn er hörte die Pferde, wurde ihm das Unpassende seiner Zusammenstellung klar, er wurde rot, suchte eine Entschuldigung, fand keine, glaubte, noch etwas sagen zu müssen, und fragte:

»Wo sind Sie daheim, wenn ich fragen darf?«

»Das ist auch verkehrt,« versetzte der Maler freundlich, »ich bin nirgend daheim.«

Georg, dunkler errötend, fühlte sich wider Willen in eine neue Frage verstrickt:

»Aber Ihre Eltern, wenn ich fragen darf, leben doch noch?«

Bogner versetzte, daß er es hoffe. Dies gab Georg den Rest, er glühte, fand kaum die Tür und rannte die Treppe hinunter.

Als er die Terrasse wieder betrat, saß die Anna schon auf ihrem kleinen, hellbraunen Pferde. Ihr Vater ging um den großen, schwarzbraunen Hunter des Prinzen, zog am Sattelriemen und beschimpfte den Stallburschen, der statt Vorderzeug Martingal aufgelegt hatte, ob er, Chalybäus, vielleicht nebenher laufen solle, um den Sattel festzuhalten, ob er, Stallbursch, immer noch nicht wisse, daß das Aas von Unkas den Sattel auf die Hinterhand schöbe. Der Bursche sah wie eine Geraniumblüte aus, starrte betäubt Magda an, wagte es aber, als Georg aufstieg und er sich an den rechten Bügel hängen mußte, zu flüstern, daß am Vorderzeug eine Schnalle durchgerostet sei.

Georg nickte ihm zu. Am Frühstückstisch war niemand mehr. Sie trabten nach Westen in den Park hinein. Der Sattel fing an zu rutschen.


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