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Zweites Buch.
Haus Montfort
oder
Die Brücken des Herzens

Erstes Kapitel: August

Renate von Montfort an Magda Chalybäus

Waldhausen bei A., am 29. Juli

Liebste und (vorläufig noch!) Einzige!

Haus Montfort steht in goldenen Lettern über dem Eingang des kleinen grauen Barockpalastes, in den ich soeben eingezogen bin, – dreieckige und jene, in der Mitte zerstückten Bogensimse über den Fenstern, Erdgeschoß und zwei Stockwerke, kleine Figuren auf dem Dachrand, ein schmaler Garten davor, ein großer dahinter. In einer halben Stunde soll gegessen werden, ich habe den Reisestaub abgebadet und sitze, wie ich der grünen Fliesenwanne entstieg – das heißt: getrocknet! – aber herrlich unbekleidet nieder, um Dir mit fliegender Feder zu sagen, daß ich Dich liebe und wie und wo ich mich befinde.

Wie und wo? Es kann nur Beides in Einem gelten. Aber wo fang ich an? Beim Schreibtisch? Er ist schwarz, ein ebenhölzerner Mohr mit perlmutternen Schloßmäulern. Beim Fenster links neben mir, das – der Schreibtisch steht über Eck – weit offen Julibläue, Sonne, Wipfelgrün und sanften Wind über meinen Rücken rieseln läßt, so daß die ganze hellbraune Mähne meines Haars, auf dessen Spitzen ich sitze, sich hinter mir bauscht, und ach, wie das kitzelt! (Gott behüte, hereinsehn kann niemand als die Sonne, wir befinden uns im ersten Stock, und kein Gegenüber ist nirgend!) Oder beim Sofa rechter Hand? Es ist tiefdunkelblau und von glatter Seidenbespannung mit graden Lehnen. Oder bei den schilfgrünen Wänden? Oder bei den zwei Tänzen von Hofmann in weißen Leisten, große, weiße Rechtecke überm Sofa? Oder beim hellgrauen Teppich am Boden mit erdbeerfarbenen Girlanden? Oder den sonstigen Möbeln – grauahorn? Oder bei mir, die außer sich ist – teils wegen dieser unverhofften Kleinode um sie herum, teils weil sie soeben von einem überlebensgroßen, dreiteiligen Kurtisanenspiegel herkam, der mir Dinge sagte, Dinge ... Solche Spiegel gab es in Genf freilich nicht, auch in keinem Bacharacher Pastorenhause, und so weiß ich wahrhaftig erst seit heute richtig, daß ich von oben bis unten so rosig und weiß bin wie eine einzige Magnolienblüte! Und ferner, daß ich darunter noch braun bin, braun wie ein Fell vom göttlichen Hauche der Adria – Magda, ist es erst vier Tage her, daß wir in ihr herumschwammen? – und abermal darunter ganz golden, ja, als wäre ich eine goldene Statue innen, ich hab es gesehen und kann es beschwören! Und ich weiß, daß ich einen ganzen Mantel von Haar habe, wie dürres Buchenlaub braun, und daß ich Augen habe wie Meerwasser und Flammen blau, welche aber – ohne es grad heute gesehen zu haben, weiß ichs – auch blau sein können wie Türkise, wenn ich die Sonne auf eine gewisse Art durch die Wimpern fallen lasse, und auch schwarz, nämlich bei elektrischem Licht, und auch grün wie Wiesen, wenn ich die Sonne grade hineinscheinen lasse, – Magda, kleine Schwesterseele, dies ist nun ein Augenblick des Entzückens, wie sie das Leben mitunter beschert –, wo die Welt so vollkommen scheint wie eine goldene Kugel, so daß man stundenlang Fangens mit ihr spielen möchte, und da weiß ich nun wie noch nie, daß ich jung bin und gesund und gesegnet mit Verstand und unbändig schön, ja unbändig, und voll Kunst der Schönheit, die ich zu brauchen gedenke, nicht heute noch morgen, aber in allen großen Lagen des Lebens – – es klopft! Mittagessen, und noch muß ich mich anziehn, und noch schrieb ich kein Wort von der erstaunlichen Herme dieses Hauses, meinem bisher noch völlig unbekannten Vetter Josef, aber Geduld, ich komme gleich wieder!

Eine Stunde später

Siehst Du, Liebste, anstatt daß ich mich, wieder zur Ariadne verwandelt, in die blaue Himmelshöhle meines Sofas schlafen lege, wende ich mich wieder zum Papier, heiß wie ich bin von Sommerwärme, von ein ganz wenig Bacchus, und von meines Vetters Josef überwältigender Erscheinung. (Beiläufig, Du erinnerst Dich vermutlich, daß mein Papa, bis zum Tode seines Vaters vor ein paar Jahren, ausgeschlossen war aus seinem Hause, daß ich also Onkel Augustin nur vor einem Jahre, bei Papas Begräbnis einmal sah und damals auch Vetter Erasmus; Josef war damals auf Reisen.) Nun – Du kennst Onkel Augustin, rosige und weißhaarige Miniatüre in goldener Brilleneinfassung; denke sie weg, denke sie weit weg ins Imaginäre, wenn Du eine Vorstellung von seinem Sohne Josef bekommen willst, Josef, dem großen Hexenmeister – ja höre!

Josef, von seinem Vater beauftragt, einen Trinkspruch auf mich oder ein Teil von mir zu erdichten, dachte nicht erst nach, strich mit flacher Hand – seine Geste – übers ganze Gesicht hinunter bis zur Oberlippe, so daß es darunter hervorkam, unkenntlich verwandelt zur bleichen Maske mit runden, nachdenklich mich anstaunenden Augen, worauf er diese ganze Maske wegschleuderte, um, triumphierend er selber, zu sprechen:

Dies Auge – unbestritten –
Ist geschnitten –
Aus dunklem – blauen –
Klaren Nordseewogenhügel – –
Seele blitzt heraus, zu schauen
Tief im Spiegel,
Wie geschwungner Möwenflügel – –
In kristallner Wasserfrische
Tummeln sich phantastische Fische,
Ziehn beschattet, ziehn in Scharen
Tiefer – nach dem Wunderbaren ...

Ei ja, herrlich, nicht wahr? Aber es ist noch keineswegs alles! Denn da ich – Notzeichen fürcht ich von mir gebend wie ein brennendes Schiff auf hoher See – ihn bat, mir diese Verse aufzuschreiben, so schrieb er sie – wir saßen zu dritt am runden Speisetisch auf der Veranda – zwischen sich und mich auf das weiße Tafeltuch mit leichtester Hand, und dann malte er zwei Fabeltiere herum, Delphine, unterhalb zusammenstoßend mit dicken Köpfen, links und rechts nach oben steigend mit den verjüngten, glatten Leibern, mit tief gespaltener Schwanzflosse, und nun auf einmal war das Ganze, durchspannt von dünnen Verszeilen – eine Leier ...

Hierzu aber, hierzu denke ihn, Gesicht und Gestalt, freilich von keineswegs arionischer Zartheit, vielmehr: Groß, so groß wie alle Männer sein sollten, dann wäre es ein Geschlecht! doch dies beiläufig, – ferner: breit in den Schultern, groß auch von Gesicht, die Haut bräunlich, der ganze Ausdruck sehr beeinflußt von einer kleinen schwarzen Bartfliege am Kinn – schwarzes, kräftig gelocktes Haar – so wie Feuerbachs, an den auch die Bartfliege erinnert – schräge, breite Stirn, nach oben geschwungene Brauen, Nase von der Seite krumm, Augen schwarzbräunlich, nicht eben groß und so erstaunlich weit voneinander gesetzt, daß es mitunter scheint, als blickte jedes allein dich an, – Nachtmaren und dergleichen müssen solche Augen haben, – der Mund ein wenig zu breit, die Lippen geschwungen dünnschalig, beim Sprechen leicht sich vorwölbend und krümmend wie die halb offen aufeinander liegenden Ränder einer Muschel. Und dazu Haltung und Gebärden, die sich kaum abschildern lassen, aber jedenfalls: unendlich gepflegt, leicht herablassend, immer gebändigt, ruhig, überaus ruhig, auch die verhaltene Stimme, übrigens verwegen; nicht prahlerisch – und doch prahlerisch; ohne eine Spur von Roheit und ohne eine Spur von Herz, – alles in allem: Alcibiades, wie er leibt und lebt! Wer hätte gedacht, ihm hier zu begegnen im norddeutschen Altenrepen, zweihunderttausend norddeutsche Einwohner, Häuser rot, gelb und allesamt rußig von Hunderten von Fabriken im Westen, übrigens eine muntere, betriebsame Stadt, aber norddeutsch ganz und gar, so daß mein ganzes mütterlich rheinisches Blut und der Rest vom französischen sich kräftig bemerkbar macht, um so mehr angesichts dieses üppigen Josef. Denn es ist sehr wundervoll und tröstlich, einmal einen Menschen zu sehn, der in seiner ganzen Gestalt hin lebt, wie man die Griechen sich gelebt haben denkt, oder die Heroen, Hektor, oder Pentheus oder Perseus, – der eine gewisse Angst einzuflößen imstande ist, die schöne Angst des Meeres oder der Stromschnellen, den Schwindel nur reißend sich verströmenden Lebens, der es, was mich anbelangt, freilich an sich hat, mich so sicher und kühl aufrauschen zu lassen wie einen Zederbaum.

Noch fällt mir ein: erinnerst Du Dich aus meiner Monographie einer Studienzeichnung Feuerbachs, eigentlich wohl nur Gewandstudie: eine stehende Iphigenie in sinnender Haltung? Josef und sein Vater schworen, ich sei gemeint, die sinnende Haltung jedenfalls, – na, Du weißt vielleicht besser als ich, ob ich es liebe, so dazustehn, die rechte Hand am Kinn, den Ellbogen in der Linken, und so schreibe ich es Dir – weshalb? Ach, weshalb! – Zwei ganze Bogen sind voll, ich muß den Rand zu Hülfe nehmen, um Dir – trotzdem aus innerstem Herzen – tausend innige Grüße zu sagen. Leb wohl, leb wohl! Vier Stunden von Dir getrennt und doch heitern Herzens, o pfui! Schreibe gleich! Vom Vater, von Georg, Herzog und Herzogin, Kühe, Hühner, Schweine, alles. In Liebe

Renate

Renate an Magda

(Telegramm am 5. August)

Liebste, ich bin sehr beunruhigt durch Dein Schweigen, bitte telegraphiere gleich. Liebevoll besorgt

Renate

 

Magda an Renate

(Telegramm am 5. August)

Brief unterwegs

Magda

 

Renate an Magda

5. August

Nun, Mädchen, was hat dies zu bedeuten? Acht Tage kein Brief, kein Zeichen, ich verzehre mich in Ahnungslosigkeit und Ungeduld, ich telegraphiere und bekomme diese Antwort? Ich hüte mich zu fragen, warte geduldig oder ungeduldig auf den versprochenen Brief und begnüge mich mit der kümmerlichen Versicherung meines innigsten Gedenkens! Ach, wäre nur der Brief schon da! Anbei schicke ich Dir die Zeilen, die ich vor ein paar Tagen für Dich schrieb, gebe Gott, daß Du sie wieder sichern Herzens lesen kannst! In unendlicher Liebe und Sorge Deine

Renate

Am 2. Aug.

Liebste und – trotz Josefs immer noch Einzige!

Nun muß ich Dir vom Schönsten schreiben. Zuvor aber muß ich versuchen, Dir die Wohnung und alles Drumherum zu schildern. Male mir ebenso Helenenruh, ich erwarte es gewiß; Deine Erzählungen – ich merke jetzt erst, welche unbestimmte Vorstellungen sie ergeben haben, wo ich Dich in der Ferne suche und nichts sehe als Meer und Wiesen, und nicht weiß, ob, was ich in der Ferne gewahre, eine weiße Kuh ist oder dein weißes Kleid, und warum nicht weiße Kuh? Sie haben den Vorzug der Seltenheit, und ich kann mir kaum Schöneres vorstellen als Jo, die jungfräuliche Geliebte des Zeus.

Meine Zimmer kennst Du, – das heißt, das Schlafzimmer ist weiß, sieht wenigstens so aus, da die weiße Decke fast ein Drittel Wandhöhe herabgezogen ist; die Bespannung ist hellgrauer Seidenstoff mit einzelnen, silbernen, dünn- und langstieligen Mohnblumen, die Schränke grauer Ahorn mit Perlmutter, Spiegel weiß und das Bett – Himmel, das Bett ist ja kein Bett, sondern eine flache und in die Länge gezogene Muschel mit welligem Rand, von dunkelbraunem Mahagoni und ruhend auf goldnen Delphinen; das sieht nach Empire aus, aber da man dergleichen früher denn doch nicht machte, verdächtige ich Josef ... Von hoch oben darüber fällt im Dreieck ein Sturz von wasserblauem und weißem Flor, – nie sahst Du so Kühles! – Dazu gehört noch ein Badezimmer mit Fliesenwanne im Boden, in die Stufen hinabführen – o Allermädchentraum! – Das ganze Haus wurde in den achtziger Jahren gebaut und eingerichtet, und da das Kunstgewerbe damals auf gichtischen Beinen stand, war Onkel Augustin fein genug, um ein entzückendes Durcheinander von Empire, Biedermeier und ein wenig Régence herzustellen, das sich nicht näher beschreiben läßt. In der Mitte ist eine große Halle mit Kamin, im Sommer düster, da die große Veranda davor – mit breiter Treppe zum Garten – rundum von wildem Weinlaub zugewachsen und auch davon bedacht ist. Vor der Veranda ist ein schöner, großer Rasenplatz mit einer sandsteinernen Sonnenuhr nicht weit von der Treppe, rundum dichte Gebüsche und allerlei Bäume, lustig anzusehn. Ein Zaun trennt unsern Garten von dem hintern Teil eines großen Bier- und Kaffeegartens, der nach einem alten Festungsturm, der noch zu sehn, der Döhrenerturm heißt und links sich ins Freie senkt in Gestalt einer Wiese, die auf unsrer Seite von einem Wässerlein, gegenüber von einem schönen alten Friedhof mit seiner türmchengekrönten Mauer begrenzt ist. Zwischen beiden, nämlich Bach und Kirchhofsmauer, ist ein Zaun ausgespannt, und von da aus strecken sich weite, weite Wiesen, die »Maschwiesen« heißen, und ganz hinten sieht man Eisenbahnbrücken und noch ferner die Türme und die Fabrikschornsteine und den Rauch von Altenrepen.

Und nun höre das Einzige! Am Nachmittag nach meiner Ankunft führten Onkel und Vetter Josef mich im Garten herum, und auf einmal standen wir vor einem altertümlichen Gebäude, einer Kapelle mit drei hohen gotischen Fenstern. Da zog der Onkel einen zierlichen Schlüssel aus der Tasche, übergab ihn mir mit Feierlichkeit und dem Bemerken, dies sei mein Allerheiligstes, das er für mich erbaut habe. Gott, flogen mir die Hände, ich glaubte schon zu ahnen, ich schloß auf, so gut ich konnte, und richtig! Es war eine Orgel!

Kind! Liebstes! Magda! Mädel! Eine Orgel! Denke nur, eine richtige, große, herrliche Orgel, und ein wundervolles Instrument. Ach, es ist doch zu wunderschön, wenn man eine Art Nabob ist!

Und ist es nicht rührend von meinem Onkel? Nun siehst Du, wie schlecht ich gewesen bin, wieviel ich ihm abzubitten habe, denn Du erinnerst Dich gewiß, wie böse ich war damals, als er mich gleich nach Papas Tode in eine Pension steckte, weil ich mir schon viel zu alt und erwachsen und gelehrt vorkam und auch gedacht hatte, nicht grade unter ganz fremde Menschen mit meinem Schmerz gehn zu müssen. Daß Onkel seine Gründe haben müsse, daß er viel zu viel zu tun hat, um sich um meine Ausbildung kümmern zu können, daß es besser für mich war, den Schmerz zurückzudrängen und im Innern rein und schön zu erhalten, daran dachte meine damals siebzehneinhalbjährige Erwachsenheit natürlich nicht. Er aber, der doch in den paar Tagen beim Begräbnis eigentlich nichts an mir entdecken konnte als ein verweintes, unbedarftes Pastorentöchterlein, hat sich mein bißchen Orgelspiel auf meiner lieben alten, heisern Dorforgel so zu Herzen genommen, daß er, anstatt sich ein Landgut oder ein Automobil zu kaufen, ein geradezu unchristliches Geld für eine Orgel zum Fenster hinauswirft.

Also mein Entzücken! Natürlich war ich den ganzen Tag nicht aus der Kapelle zu bringen, nachdem ich unter reichlichen Tränen mit Papas Lieblingslied »Mein gläubiges Herze, frohlocke, sing, scherze« begonnen hatte. Außerdem besitzt Josef unter seinen vielen Talenten auch das, ein musikalisches Genie zu sein, das heißt, er spielt Klavier, Geige und Cello gleichmäßig, wenn auch nicht gleichmäßig gut. Herrlich ist nur sein Vortrag, aber die Läufe kommen meist gewischt oder so andeutungsvoll, bloß Triller kann er schlagen wie eine Lerche. Immerhin brachte er die große Cellosonate, die ich gleich aufs Tapet legte, mit Anstand zu Ende.

 

Magda an Renate

Helenenruh, am 5. August

Meine einzige Renate!

Warum ich so lange geschwiegen habe, höre ich Dich schon lange fragen; – ich war krank. Ja, sechs Tage hab ich gelegen und recht gelitten. Es kam grade an dem Tage, wo ich Dir schreiben wollte, daher das lange Schweigen. O bitte, erschrick nicht, es ist nun alles vorüber und still geworden. Aber Geduld mußt Du haben und lange zuhören, ich habe Dir soviel zu sagen – und auch zu fragen. Am liebsten wäre ich ja zu Dir gefahren, aber ich kann hier nicht fort. Du sollst gleich hören, weshalb.

Ja, nun ist es doch eingetroffen – nein, so kann ich nicht anfangen, also von vorn. Nein, eine Frage muß ich gleich erst noch an Dich richten: Kennst Du oder Deine Familie in Altenrepen die Familie eines Sanitätsrats Bogner? Ein Sohn von ihnen muß schon vor langer Zeit sein Vaterhaus verlassen haben, um Maler zu werden. Du mußt mich nicht auslachen, ich weiß, wie groß Altenrepen ist, aber es wäre doch möglich, daß Du sie kennst, und ich habe das Gefühl, als könnte es mich trösten, wenn Du – nein, nun will ich anfangen.

Einen Tag nach meiner Ankunft hier bekam der Herzog Besuch von einem Maler Benvenuto Bogner. Ach, Renate, der würde Dir gewiß gefallen, und Ihr würdet Freunde werden, wenn Ihr Euch kenntet. Ich bin ja solch ein unbedeutendes Wesen. Man meint, wenn man ihn reden hört, das, was er sagt, sei gewiß das Letzte, was man über eine Sache sagen kann. Ach, und dann hat er uns etwas aus seinem Leben erzählt – aber das kann ich nicht wiedergeben. Ich habe aber gleich solches Zutrauen zu ihm gewonnen, daß ich – ach Gott, wovon rede ich?

Eben habe ich ein Weilchen am Fenster gestanden und die Stare im Obstgarten beobachtet; sie machen einen furchtbaren Lärm. Gott, wer bald mit ihnen fliegen könnte, wie Däumelinchen auf der Schwalbe, weißt Du? nach Süden, nach Altenrepen. Ach, Du weißt ja noch gar nicht, daß ich geflogen bin, richtig geflogen, mit einem Flugapparat, den der Herzog erfunden hat. Es war ganz sicher, o ein Riesentier wars, und das ging!! Nein, ich kanns nicht beschreiben, wärst Du mit gewesen! Und denke Dir nur, unser schwarzer Schwan – ach Gott!

Nun merkst Du schon, daß ich Angst habe. Ich komme und komme nicht dazu, Dir das zu schreiben, was ich will. Wenn ich nur nicht wieder einen Weinkrampf bekomme. Ja, Rena, acht Tage habe ich immerlos geweint und geweint, ich bin ganz entstellt. Als Kind hab ichs schon mal gehabt – nein, nun mußt Du Dich ja schrecklich sorgen bei meinen fortwährenden Andeutungen.

Der Maler war mit einem Bekannten gekommen, der sich aber nicht sehn ließ; er hatte ihn auch eigentlich nicht mitbringen wollen, denn er war gemütskrank, wie wir später hörten, aber Du weißt ja, wie gastfreundlich unser Herzog ist. Nun waren Georg und ich nach dem Frühstück ans Meer geritten, und als wir zurückkehrten, ich weiß nicht, wie es kam, war ich weit vorauf, und ob ich schon unruhig wurde, oder – jedenfalls fing ich auf einmal an zu galoppieren, durch das Wäldchen nach dem Weiher (vielleicht erinnerst Du Dich nach meinen Beschreibungen), und dadrin schwamm ein Mensch. Nun ging alles so furchtbar schnell, daß ichs kaum noch weiß. Rottraut flog ganz von selber in den See hinein, und ich kriegte einen Ärmel zu fassen und schrie, und dann kam auch Georg, und so brachten wir ihn ans Land. Er lebte und ist leben geblieben, und der Maler, der dazu kam, erkannte seinen Bekannten. Er heißt sonderbar, nämlich: Jason al Manach, und er ist auch aus Altenrepen.

Renate, weißt Du, was das bedeutet? Denkst Du noch an die Zigeunerin in Ayres-au-Mont? An die Prophezeiung? O lächle nicht, es tut mir so weh, wenn Du lächelst, Du weißt ja nicht, was noch alles kam.

Verzeih, siehst Du, da sind die Tränen wieder, sie laufen so von selbst, aber ich muß jetzt weiterschreiben, ich habe ja niemanden auf der Welt als Dich.

Das Wasser hat erst nicht geschadet, es war ja so warm, ich hab mich nur umziehn brauchen. Nur Deine schöne Stickerei ist hin; ich hatte die Bluse an mit dem Kreuzstichmuster, das ich Dir abgebettelt hatte; der eine Ärmelbesatz ist zerrissen, ich weiß nicht, wie es gekommen ist. Am andern Tage war dann die Erkältung da. –

Von dem, was noch am Tage passierte, kann ich weiter nichts sagen. Daß ich geflogen bin, weißt Du, es war nachmittags. Ich war so in Erregung, und alles war so seltsam, ein Gewitter gab es – es geht mir jetzt alles durchhin, und es ist ja auch gleichgültig. Nur von Artaxerxes muß ich noch schreiben. Er ist nämlich aufgeflogen, als ich in den See hineinplantschte. Später, beim Gewitter, kreiste er noch über Helenenruh und schrie dabei, und es war so sonderbar, als ob irgendein Zusammenhang zwischen mir und ihm – – ach, liebe Renate, Du mußt Dich nicht wundern, daß ich so verrückte Sachen denke, es ist alles in mir so verstört, die ganze Welt ist anders geworden. Und der Schwan ist doch nicht fortgeflogen, und das war sein Unglück, denn als wir über das Wäldchen flogen, wurde er von der Schraube getroffen, brach einen Flügel und stürzte hinunter. Wie schrecklich, nicht, Renate? Nun konnte er fliegen, und da warfen wir ihn wieder hinunter. Papa hat ihn richtig erschießen wollen, weil er sich doch nur quälen müßte, und Papa ist ja so, – aber Georg – ich hatte ihn gebeten – hat es erreicht, daß er leben bleiben durfte, und er scheint sich wieder zu erholen, und verhungern wird er schon nicht.

Ich kann nicht mehr schreiben. Morgen schreibe ich weiter. Gute Nacht.

 

6. August

Und nun wurde es Abend. Georg und ich gingen noch einmal an das Meer. Vor Dunkelwerden kamen wir in die Gegend von Lüdersens Deich und der Windmühle, die dort steht, und wir hatten grade den Maler getroffen, da ereignete sich das Schreckliche. In der Nähe der Mühle, auf dem Weg von Helenenruh erschien auf einmal al Manach, der den ganzen Tag im Bett gelegen hatte, er machte ganz wahnsinnige Gebärden, und dann stürzte er sich auf die Mühle zu, es war ganz klar, daß er in die Flügel hineinlaufen wollte, um sich umzubringen, und Bogner lief gleich hin, wäre aber viel zu spät gekommen, und da habe ich Georg sein Teschin weggenommen und habe al Manach in die Beine geschossen – o, ich kann schießen! – und dicht vor den Flügeln ist er zusammengebrochen. Da bin ich ohnmächtig geworden.

Und doch, doch, eh ich anlegte, und so schnell alles wieder ging, hörte ich deutlich eine Stimme in mir rufen: Tus nicht, es ist das zweite Mal! Aber da ging der Schuß los. Geschadet hat er nicht viel, es war ja Schrot. Und siehst Du, am folgenden Tage sagte Papa immer, es wäre doch hahnebüchen, einem lebendigen Menschen eine ganze Schrotladung in die Beine zu geben, und das war so komisch, daß ich furchtbar an zu lachen fing; ich konnte gar nicht aufhören, und dann ist ein Weinkrampf draus geworden. Nun ist es endlich still.

Tausend, tausend Dinge hätt ich Dir noch zu sagen, aber ich komme nicht weiter, und Du verstehst ja auch alles. O die Gedanken, die Gedanken! Es muß noch stiller, viel stiller werden. Schreibe mir bald und viel und von Dir! Vergieb, daß ich gar nicht nach Dir und den Deinen fragte, aber was Du schriebst, überstrahlt ja alle Fragen. Davon mußt Du mir mehr erzählen, und es wird mich mehr beruhigen als alles andere. Tausend innige Gutenachtküsse von Deiner

Magda

 

Magda an Georg

Helenenruh, 7. August

Liebster Georg!

Für Deine lieben, lieben Zeilen sei tausendmal bedankt! Ja, ich bin ganz wiederhergestellt, nur noch ein wenig schwach, aber das wird bald vorübergehn. Nein, ich schelte nicht, daß Du das Bild gestohlen hast, Papa hat es bei meinem Kranksein wohl gar nicht gemerkt, gesagt hat er jedenfalls nichts, und ich habe ihm jetzt ein andres aus demselben Dutzend hingestellt. Behalte es lieb, mein Bild, Du mußt Dich nicht wundern, daß ich das sage, denn, mein lieber Junge, Du darfst mir nicht mehr schreiben, und ich werde es auch nicht tun. Papa würde es nicht gern sehn – aber das ist freilich nicht der Grund.

O Georg, zürne mir nicht, wenn ich Dir jetzt kalt und herzlos scheine! Glaube immer, daß ich Dich lieb habe, daß ich keinen Menschen in der Welt so liebe wie Dich, aber Du darfst nicht mehr an mich denken. Nein, schreibe mir nicht, frage nicht, sei still, o versuche so still zu sein, wie ich es werden muß, damit ich das Leben ertragen kann, – auch wenn Du mich nicht verstehen kannst. Dir wird es ja gewiß auch leichter fallen, Du bist unter den vielen Menschen und siehst soviel und erlebst soviel, was mehr Raum in Deinem Leben beansprucht, was Du auch mehr brauchst und was Dir viel mehr geben wird, als ein kleines, armes Mädchen, wie ich, Dir geben kann, und – und das Beste hast Du ja schon bekommen.

Nein, Georg, Du darfst nicht fragen. Du würdest mich nicht verstehn, was nützt es, Dir zu sagen, daß es mit der Prophezeiung zusammenhängt. Du würdest versuchen, mir solche Gedanken auszureden, und das, siehst Du, das würde mir doch weh tun. Tragen helfen kannst Du mir doch nicht, ich würde Dir nur eine Last sein, das kann auch kein andrer Mensch, ich muß es ganz allein versuchen. O lieber Georg, ich muß manchmal denken, wie gut es ist, daß wir uns so fremd sind. Als ich zu Bett lag, hab ich das immer denken müssen. Es klingt vielleicht sonderbar, daß ich mit meinen siebzehn Jahren das sage, aber die Gedanken sind wohl da und kümmern sich nicht viel darum, von wem sie gedacht werden. Du weißt ja auch nicht, was ich in dieser letzten Zeit erlebt habe. Mir ist, als wäre ich viele Jahre älter geworden, und Du bist jung und hast unendlich viel Schönes vor Dir. Ich aber, Georg, ich darf an nichts mehr denken. O es war schön, als wir zwei auf dem Deich standen! Die Sonne sank, und der Mond kam herauf, wie die beiden Eimer in einem Brunnen, und mir war, als stünden wir am Rande der Welt, als wären wir weit aus dem Leben herausgetreten. Und siehst Du, Liebster, nur Du bist wieder zurückgegangen, ich bin draußen geblieben. Ich muß nun alles mit andern Augen ansehn, mir ist, als gehörte ich nicht mehr dazu, und wenn ich auch noch eine kleine Weile unter den Andern zu sein scheine, so bin ich es doch nicht mehr. Ich habe vielleicht noch ein wenig zu tun ... da ist der arme al Manach, der recht krank geworden ist und gepflegt sein will, das muß ich doch nun verantworten. Du bist gesund und jung und stark und kannst allein gehn und Dich wehren; ich muß mich nach denen umsehn, die leiden und traurig sind, die alles verstehn und alles kennen und nur Schlimmes erfahren haben.

Ach, laß mich aufhören, ich finde die Worte nicht! Mein Bild sollst Du liebbehalten und zuweilen ansehn, so als wäre ich gestorben, weißt Du, und das will ich auch sein für Dich. Nun geh, mein lieber, lieber Junge, vielleicht wirst Du mich einmal verstehn und nicht mehr mit Kummer denken an Deine Dich immer, immer liebende

Anna

 

Und nicht schreiben, nicht antworten, wenn Du mich lieb hast!

 

Renate an Magda

Altenrepen, am 9. August

Mein gutes Mädchen,

daß ich alles verstehe, daß und wie sehr ich mit Dir fühle und leide, das braucht Dir Deine Renate nicht erst zu versichern, denn das hast Du schon gespürt, als Du mir schriebst, nicht wahr? Es schmerzt mich sehr, daß ich nicht bei Dir sein kann, ich werde auch ganz gewiß versuchen, mich auf ein paar Tage loszumachen, aber Onkel hat in meiner Erwartung bereits die Haushälterin entlassen, und nun habe ich das ganze Haus um die Ohren. Dazu erwarten wir jeden Tag meinen Vetter Erasmus aus Marburg – es tut mir so schrecklich leid! Denn ich weiß ja, wie wenig mit dem Schreiben getan ist. Wenn man trösten will, macht das Papier alles kalt, und die Worte sinds ja auch nicht, ich müßte Dich ansehn, und Du müßtest mir glauben.

Ich stelle mir Deine Gedanken vor – denn wir müssen doch versuchen, tapfer zu sein, und der Sache ins Auge sehn – und versuche, zu denken wie Du. Nun schreibst Du von Eurem Schwan, der sich den Flügel gebrochen habe und erschossen werden sollte, Du aber hast für sein Leben gebeten und es auch erhalten. Ja, hör mal, was heißt das anders, als daß Deine Prophezeiung schon ganz erfüllt ist, nur die letzte Folgerung, die sich auf Dich selbst bezieht, die ist ausgeblieben. Nein, Kind, Du darfst durchaus nicht glauben, daß ich die Sache so ins Leichte und Oberflächliche ziehn will. Sieh mal, es kann doch für vernünftige Menschen (und das sind wir doch!) nur zwei Möglichkeiten geben. Entweder man glaubt nicht daran und sieht alles für Zufall an – nun, dann gehört auch der Schwan dazu, und die Prophezeiung war eben gelogen. Oder man glaubt, und ich selbst bin weit entfernt davon, irgendwelche Zusammenhänge zu leugnen, für die uns vielleicht nur ein Gefühl abgeht, das andre Menschen, wie die Zigeunerin, doch haben können. Oder also, man glaubt daran, ganz ernsthaft und überzeugt – dann gehört wieder der Schwan dazu, denn dann ist nichts geringfügig, ein Tier ist so gut wie ein Mensch. Und kennen wir nicht aus der Schule eine Menge Weissagungen und Orakel, die eintrafen, aber in einem ganz andern Sinne, als sie aufgenommen wurden? Wie war doch das mit Xerxes, oder wie er hieß, dem geweissagt wurde, er würde ein großes Reich zerstören, wenn er über einen gewissen Fluß ginge, und hernach wars sein eignes Reich, das er zerstörte. – Du wirst es genauer wissen, Du hattest ja immer ein Faible für Geschichte.

Liebling! Mein Vater sagte bei jeder Gelegenheit, wo es paßte, das Beste in der ganzen Welt wäre die Logik. Ich lasse das dahingestellt sein, habe aber jedenfalls versucht, der Sache auf möglichst natürliche Weise auf den Grund zu kommen. Du siehst, was herauskam: es ist eingetroffen und ist nicht eingetroffen. Da ich beinah anderthalb Jahre älter bin als Du, so habe ich natürlich recht. Das Rechthaben allein nützt freilich nichts, aber sollte ich Dich nicht ein bißchen überzeugt haben?

Vorläufig bitte ich Dich, über das, was ich sagte, hübsch weise nachzudenken. Du bist immer ein braves Kind gewesen und folgsam, und damit Dirs leichter wird, schicke ich Dir ein sehr ehrbares Bild von mir, das Onkel Augustin gleich nach meiner Ankunft hat machen lassen. Das mußt Du fleißig dabei ansehn.

Nun zur Beantwortung Deiner Fragen. Über eine Familie al Manach gibt der Adreßkalender (verzeih das Wortspiel, ich lerne so was von Onkel, der freilich mit etwas feinerem Witz begabt ist als ich) keine Auskunft. Den Sanitätsrat Bogner habe ich nicht nur im Adreßbuch gefunden (er wohnt übrigens in Waldhausen wie wir, zwei Straßen von uns), sondern auch von zwei Menschen etwas über ihn gehört, von Onkel und noch jemand (davon gleich!). Onkel erinnerte sich, daß Dein entlaufener Maler mit meinem Vetter Erasmus in die Schule gegangen ist, er schien auch mehr zu wissen, sagte aber nichts. Der alte Bogner übt übrigens, wie ich erfahren habe, keine Praxis mehr aus, er leidet selbst an den Augen und droht zu erblinden, das sag nur Deinem Maler. Und nun muß ich Dir von einer kleinen Freundin erzählen, die ich schon bekommen habe. Wirst Du auch eifersüchtig?

Am Abend hatte ich mich noch mal zu meiner Orgel geschlichen und so recht in Phantasien und Wehmut geschwelgt und war, als ich noch ganz fromm und trübe zurückging, in den Gemüsegarten geraten, da sehe ich über den Zaun aus dem Nachbargarten zwei unmenschlich große Kinderaugen auf mich gerichtet. Kinderaugen, dachte ich erst, aber das kleine Wesen ist schon achtzehn Jahr alt, wie ich nun weiß, und ziemlich groß, auch entzückend ausgewachsen; es trägt aber die Haare kurzgeschnitten, wie Deine Herzogin, aber in den reizendsten rotgoldenen Löckchen, und ein Gesichtlein saß darin, nein, so etwas Liebliches, Ängstliches und so etwas von Verweintheit – kannst Du Ärmste gewiß sehn, wenn Du in den Spiegel schaust, aber das mußt Du nicht. Das tat nun gleich ein zitterndes Mündlein auf und sagte recht innig und freundlich aus seinem grünen Buschwerk heraus: »Ach verzeihen Sie nur, haben Sie eben so wunderschön gespielt?« Ich bekannte mich dazu, und da hat mich die Kleine gebeten, zuweilen so am Zaun stehn zu dürfen und zuzuhören. Gott, diese Unschuld, die sogar um Erlaubnis bittet, nassauern zu dürfen. Eh ich dann noch weiter mit ihr reden konnte, war sie entwischt, und ich sah nur noch, daß sie ein sehr schlecht sitzendes schwarzes Kleid und statt eines Gürtels einen – Rosenkranz trug, dessen Kreuz ihr nachflog. – Ein paar Tage später fiel mir mitten im Üben ein, die Kleine möchte wieder am Zaun stehn, ich brach sofort ab, lief hin, und richtig, da stand sie, hatte ihren Rosenkranz in der Hand und sah wie eine kleine Heilige aus. Da half nun kein Widerstreben, ich nahm einen Gartenstuhl, schwang ihn über den Zaun zu ihr hinüber und befahl ihr bei Todesstrafe, zu mir herüberzuklettern, und siehe da, sie machte es viel geschickter und natürlicher, als ich gedacht hätte.

Nun scheint es einmal so, daß ich für alle Menschen die Beichtmutter abgeben muß, in der Pension kamen sie ja auch immer alle zu mir. Die Kleine jedenfalls schmolz zu Tränen in meinem Schoß und flehte mich himmelhoch an, ich sollte ihr helfen, ihr raten, sie könnte das Leben nicht ertragen.

Sie heißt Irene von Herzbruch, aber die Geschichte erzähle ich Dir ein andermal, mein Herzekind, heut nur noch eins. Wie ich jetzt aus Deinem Briefe sehe, war es zu derselben Stunde, wo sich die Kleine bei mir ausweinte und mich auch ein wenig getröstet und hoffnungsvoll verließ, daß Du meiner bedurft hättest und gewiß an mich gedacht hast. Nun siehst Du, sollte es Dich nicht ein wenig freuen können, daß die kleine Irene das bekommen hat, was Dir fehlte? Ich denke wenigstens, so gleicht sich alles ein wenig aus. Ahnen könnte man ja freilich immer, daß es so ist, aber das gilt nicht viel, und hier kannst Dus einmal wissen. Ich habe es Irene schon gesagt, und sie schickt Dir einen schönen Gruß, und sie hätte es an Deiner Statt angenommen, wenn Du es erlaubtest. Erlaubst Du?

Nun genug, mein Liebling, Du mußt ja diesen Brief morgen noch haben. Schreibe bald, wie es Dir geht, versuche bitte! ich weiß, wie schwer es ist, aber versuche, das Heilsame zu denken und nicht das Giftige! Ich spiele die Orgel für Dich, mein Kind, und habe Dich von ganzem Herzen lieber als alle Andern!

Deine Renate

Es kommt ein Nachwort: Vergiß nicht, mir von Deinem Prinzen zu schreiben, er scheint ja gar nicht vorhanden zu sein. Übrigens muß ich Dir ja noch sagen, daß mir Irene erzählt hat, sie habe als kleines Mädchen mit einer Schwester Deines Malers gespielt, die aber schon früh gestorben ist. Er war damals schon davongelaufen.

 

Magda an Renate

20. August

Ach, Renate, Du hast gewiß recht, wenn Du sagst, daß er auf und davon gegangen ist, und so wird es damals auch gewesen sein, aber es ist doch nicht das rechte Wort. Und wenn er seinen Eltern damit auch Schlimmes angetan hat, so hat er dafür auch jahrelang das Schlimmste erduldet, Hunger und alle Entbehrungen und dann die Verlassenheit und tausend Zweifel, und die Sorge, ob er auch das Rechte tat, und keine Anerkennung, nicht einmal bei sich selber. Und sie hatten doch auch noch andre Kinder. Du mußt nicht denken, daß er sich dessen nun rühmt oder überhaupt davon spricht, aber man sieht ihm an, was er gelitten hat, und woher die Ruhe stammt, die jetzt in ihm wohnt. Nicht an seinem grauen Haar und nicht an den hundert Falten um seine Augen, sondern, so sonderbar das klingen mag, an seinem Lächeln. Hast Du einmal beobachtet, wie Menschen lächeln? Wie Du selbst lächelst, wenn Du liebenswürdig sein willst? Dann hebst Du die Oberlippe, daß man die Zähne sieht, und ziehst die Augen zusammen. Bei ihm aber kommt es ganz von innen, die Mundwinkel bewegen sich kaum, aber in den Augen fängt es förmlich an zu rieseln, es ist ganz unbeschreiblich. Das sieht freilich nicht jeder, Papa zum Beispiel sprach neulich von seinem »malitiösen Lächeln«, das kommt eben, weil er nur die Mundwinkel gesehn hat. Ich habe auch gewagt, ihn zu fragen, wie er nun jetzt über sein Davonlaufen denkt (Du mußt wissen: der Herzog und Georg sind Anfang des Monats abgereist, Georg macht die Aufsichtsreise seines Vaters mit, die er in jedem Jahr um diese Zeit unternimmt, und wird dann nach München gehn, um Nationalökonomie zu studieren; der Maler aber und al Manach sind hier geblieben, der Herzog hat sie gebeten, seine Gäste zu sein, solange es ihnen gefällt, und Bogner will jetzt die Herzogin malen). Also, da lächelte er so, wie ich es eben beschrieb, und sagte: Kein Mensch könne bei irgend etwas, das er tue, ganz abmessen, welche Wirkung es haben würde, und am wenigsten die Wirkung auf sich selbst, und er habe damals, als er sich zum Davonlaufen entschloß, nur mit einer Abwesenheit von ein paar Jahren gerechnet. So schnell, sagte er, dachte ich damals ein fertiger Mensch zu werden, aber nun habe ich freilich nur gelernt einzusehn, daß ich tausend Jahre alt werden kann, um das zu erreichen. – Ja, Renate, ich glaube, man wird hart bei solchem Leben, hart, wenn man auf sich allein angewiesen ist, und am härtesten gegen sich selbst. Kannst Du begreifen, wie fürchterlich es sein muß, sich ganz allein zu lieben? O Schwester, Schwester, mich graut vor dem Leben!

 

24. August

Drei Tage lang habe ich den Brief liegen lassen, ich fürchtete mich vor dem Weiterschreiben. Nun wird es immer stiller in mir. Ich lese Deinen Brief immer wieder, er ist so lieb, so ganz Du, so klug und gut, und das Schönste steht zwischen den Zeilen wie in Geschichten von Storm. Ja, es hat mich ein wenig getröstet, von Deiner neuen Freundin zu hören, aber nicht viel, und ich habe recht weinen müssen, es ist damit aber das letztemal gewesen, und sage ihr nur, wie herzlich ich ihre Grüße erwidere. Vergiß auch ja nicht, mir mehr von ihr zu erzählen.

Ach ja, Orgelspiel! Du mußt nun denken, daß ich so heimlich wie die kleine Irene am Baum stehe und zuhöre. Ich habe ja hier das Meer, mit der Orgel kannst Du doch nicht wetteifern.

 

später

Ich weiß nun, wie ich dazu gekommen bin, mich mit dem Schwan zu vergleichen. Vielleicht sag ichs Dir bald. Er hat sich übrigens selbst zu seinem Weiher zurückgefunden, er scheint sich zu erholen, ich füttere ihn täglich selber, Du solltest nur sehn, er ist ganz sonderbar geworden. Er versucht immer wieder zu schwimmen, aber sein gebrochener Flügel hängt schwer im Wasser und hindert ihn, dann wird er plötzlich ganz wild und hackt mit dem roten Schnabel in den Flügel, so grausam, daß die Federn fliegen, er wird schon ganz kahl. Nein, nein, nein, Renate, ich glaube nicht an Deinen Schwan, ich habe eine Angst, eine Angst! O, mein Gott, ich fürchte mich wahnsinnig! Hilf mir, Schwester, hilf mir! Was soll aus mir werden? Ich dachte, ich sei schon ganz ruhig geworden, ganz ergeben, aber ich habe nur gegrübelt und bin klüger geworden, o, lieber Gott, so klug, daß es mich graut vor meiner Klugheit. Sieh, da ist der Schwan, dem ist es gegangen wie mir. O, nun muß ich Dir endlich das Schreckliche beichten.

 

nachts

So, nun ist es still; nun endlich ist es still geworden. Heute nachmittag konnte ich – Gott sei Dank! – nicht weiterschreiben, die Herzogin bat mich, Harmonium zu spielen, und das war mir recht gut.

Du weißt wohl, daß ich Georg immer liebgehabt habe, wenn wir auch nie davon sprachen, aber ich habe ihn wohl schon geliebt, als ich noch ganz klein war. Nun habe ich an demselben Tage, wo das mit al Manach passierte, gemerkt, daß er anders zu mir war als früher. Das machte mich so glücklich, und dann bin ich ihm entgegengekommen. Weißt Du aber auch, weshalb? Das erste Unglück war schon geschehen, und ich habe gedacht, ich weiß gar nicht mehr, wie ich es fertiggebracht habe, so ungeheuerlich scheint es mir jetzt, – ja, ich habe einfach gedacht: wenn denn die Prophezeiung in Erfüllung gehen sollte, so wollte ich doch noch ein klein wenig von der Welt vorher haben. Nur wissen wollte ich, ob er mich auch lieb hätte, und da habe ich es so eingerichtet, daß wir noch abends allein auf den Deich gegangen sind. Nun, und da ist es so gekommen, wie ich hoffte, das kann man nicht schreiben, nicht? Du weißt es auch so, und nun, siehst Du, einen Augenblick durfte ich alles vergessen und nur selig sein, aber einen Augenblick später kam das mit der Windmühle, und da wußte ich, ich hatte es nicht tun dürfen, ich hatte schon kein Recht mehr auf mich und erst gar nicht auf ihn. Nein, kein Recht mehr auf mich, ich konnte ihm alles geben – Gott, was schreibe ich denn? – Ach, das zu denken, das war eine Last!

Ich habe versucht, es wieder gutzumachen. Ich war ja klug geworden und konnte so viel mehr denken, auch, daß es Georg nicht so schwer werden würde, mich zu vergessen, weil ich ihm doch eigentlich ganz fremd bin, und so habe ich ihm geschrieben.

Ja, damals war ich noch stark und glaubte, alles ertragen zu können, jetzt kommt nun die böse Sehnsucht, jetzt muß ich nur denken, daß ich wie der Schwan auf meinem kleinen, bescheidenen Weiher herumgeschwommen bin, und wie den Schwan hat mich der Schrecken aufgescheucht, daß ich zu fliegen wagte; ja, ich bin geflogen, und es brauste mich fort über das Meer, aus dem der Mond kam, und in das die Sonne versank. Da zerbrach mir der Flügel, und ich habe nicht einmal meinen Teich wiedergefunden, mit meinem lahmen Flügel, den ich nicht abhauen kann, denn mein Herz ist darin, und ohne Herz kann man doch nicht leben, oder kann man?

Es wird mir doch noch das Herz abdrücken. Das Sagen erleichtert mich zwar ein wenig, und die Nacht ist so still – ich habe früher nie gewußt, wie still die Nacht sein kann. Ich habe immer nur mich selbst gefühlt, und wenn ich zufrieden war, so wars gut. Meine kleine Lampe brennt, ich glaube, ich kann sehn, daß sie es gut mit mir meint, und auch die Wände sind freundlich, sind hell und so nah um mich, daß ich mich fast sicher fühle. Und Du bist ja auch da. Georg ist fort, ich habe ihn vor seiner Abreise nicht mehr gesehn, das wird für uns Beide nur gut gewesen sein.

Das mit dem Maler, daß er sich selbst geliebt habe, wie ich mirs dachte, das ist nun auch falsch gewesen, oder ich weiß nicht ... Man hört etwas von einem Menschen, und dann macht man sich eine Vorstellung, aber für ihn selber ist es doch ganz, ganz anders gewesen. Ich fragte ihn nämlich, wie man es anfangen könnte, sich selbst zu lieben, aber das verstand er gar nicht. Ja, wie man denn das könnte ... Wie ich nun verlegen wurde und ungefähr zusammenbrachte, was ich von ihm gedacht hatte, da meinte er, ich hätte wohl recht, denn er hätte immer nur für sich allein gelebt und gearbeitet, und nun könnte ich es mir ja so vorstellen, daß er der Kunst wie einer Göttin gedient und geopfert habe, und indem er sie genährt und vollendet habe, habe er sich selber gedient. Aber siehst Du, das ist es ja, er selbst hat es doch nicht gewußt, hat es nie bedacht! Er hat es einfach getan, – ach, Renate, wie himmlisch muß das sein, das Rechte einfach tun zu können! Aber ich bin nun ganz durchhin, und er selber sagte noch beinah hart zu mir: An ihn dürfte ich auf keinen Fall denken, er hätte es leicht gehabt, und überhaupt dürfte man nichts verallgemeinern. Ja, was soll ich nun tun? Ich muß doch lernen, muß doch erkennen, und ja – einen kurzen Augenblick war mir himmlisch zuversichtlich ums Herz. Weißt Du, wie es war? Wie bei einem Gewitter des Nachts, wenn man aus dem Fenster sieht. Da, bei einem Blitz, leuchtet der Garten draußen und die Bäume und Wege und Büsche hell auf, daß man sie alle erkennt, nur seltsam fremd und verändert sehen sie aus. Das weiß man aber: daß am andern Morgen, wo es hell und sonnig ist, der alte Garten wie neu und frischgebadet und funkelnd unter dem Fenster liegen wird, und man wird hineingehen können, er wird einem gehören, und man wird in ihm zu Hause sein.

Gute Nacht, liebe, liebe Renate! Ich bin so müde! Schreibe mir gleich, von Dir, von Irene, erzähle mir viel, ich denke immer an Dich und bin für Dich immer Deine alte

Magda


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