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Drittes Kapitel

Gewitter

Als Georg den Nordflügel an seinem Ende betreten wollte, riß ihm ein jäher Windzug die Tür aus der Hand und schlug sie lärmend gegen die Innenwand der kleinen Halle; hinter ihm rauschte der Park murrend auf, der Pfau schrie irgendwo ganz fern, und ein verlorener Regentropfen traf ihn naß und warm am Halse; es donnerte schwach und entfernt, während er die Türe schloß.

O diese göttliche Kühle! – Die von draußen mit hereingedrungene heiße Luft verflüchtigte sich schnell unter die dämmrige, weißgetünchte Wölbung empor, in die gleich neben Georg die stille Wendeltreppe sich mit sanfter Aufforderung nach oben schwang, während zur Rechten der Korridor, still und dämmrig, mit weißen, geschlossenen Türen sich entfernte. Links hinter der Glastür, die auch ins Freie führte, waren die grünen Sträucher nahe heran- und zusammengetreten, als horchten sie herein; eine Art Lakaienhand von Wind packte sie hinterrücks und riß sie fort, aber sie ließen sich nicht wegschütteln und standen wie vorher, etwas zitternd nur und unwillig. Aber dort oben in der Wendeltreppe, wo es dunkelte, dicht an der weißgelben Wand, dort stand ja Anna, weiß und blaß. Wie eine Erscheinung stand sie wortlos, sah auf ihn hinunter und wartete. Er fand nichts zu sagen und stieg zu ihr.

»Willst du auch zu ihm?« fragte sie leise, mit ihm höher steigend.

»Du hättest dich doch niederlegen sollen, Anna, wie blaß du bist«, sagte er nun, überronnen von unaussprechlicher Zärtlichkeit, und Mitleid, und Sucht, sie in die Arme zu schließen.

»Mir gehts gut, – das bißchen laue Wasser ...« meinte sie lächelnd. »Komm, ich weiß, wo sie wohnen.«

Während sie den oberen, an der rechten Seite von Fenstern erhellten Flur neben den weißen Türen hinabgingen, hörte Georg den Donner abermals und etwas näher, und dann ...

»Höre bloß!« sagte sie und blieb in der Fensterhelle stehn, den Finger erhoben. Über dem Dach war ein rauher, trompetender Schrei laut geworden, den Georg erst nicht verstand, eine, in ein wildes, zorniges, brüllendes Geröhre übergehende Tierstimme, die schreiend groß und ungestüm dahergeflogen war und fernhin verhallte.

»Das war er,« flüsterte sie, »er schreit, ich weiß, so schreien die wilden Schwäne. O hast du gehört, wie seine Flügel donnerten, als er über uns fort brauste? Er ist wiedergekommen, er kann noch nicht fort.«

»Kann noch nicht fort?« wiederholte Georg, »was meinst du damit?«

»Nein horch!« – Und noch einmal, noch lauter kam der große Schrei über ihnen dahergefegt, warf sich gegen das Dach, quoll durch die Fugen und schwoll herein, brünstig, gellender als Hirschbrüllen und wiederum melodischer, posaunenähnlich, ja, wie die Heerhörner beim Jom Kippur. Dahinter glomm schwach der erste Blitz; spät kam der Donner. Magda klopfte leise an eine Tür, sie hörten drinnen das Herein von der Stimme des Malers, und Georg atmete auf.

Der Maler, der den Sitz in Fensterbänken zu lieben schien, saß in der linken der beiden Fensternischen, erhob sich, eine Zigarette hinauswerfend, und schloß das Fenster; drinnen blieb ein angenehmer feiner Duftrest von Tabak. Die Tür zum Nebenzimmer rechts stand halb offen, so daß Georg das weiße Fußende eines Bettes in tiefer Dämmerung erkannte, sowie die rechte Hälfte eines zartfarbigen, englischen Kupferstichs auf der rötlich gemusterten Tapete.

»Haben Sie das Geschrei gehört?« fragte Georg den Maler.

»Ja, herrlich«, sagte der. »Ich sah ihn fliegen, er schlug ein paar große Kreise, dann stand er einen Augenblick dort vor der Wetterwand, pechschwarz in seinen Fittichen, mit hochgerecktem Hals. Der schlängelnde Blitzfaden lief von oben nach unten durch ihn hin; dann war er verschwunden.«

Magda war an das Fenster rechts getreten hinter die Seitenlehne des breiten, schwarzen Roßhaarsofas und faltete die Hände über dem Riegel. Georg sah an ihr vorüber die Wetterwand, die sich im Nordosten aufgestellt hatte, darunter die Bäume, wie mit Grünspan überzogen, und grellrot zwei Dächer vom Dorf. Auf Lüdersens Deich nordwärts stand die Windmühle als schwarzes Andreaskreuz; plötzlich hörte er im Zimmer das Meer.

Er sagte:

»Könnte man doch einmal eine Ahnung von dem Gefühl dieses Vogels haben! Wie der Schrecken in ihn fuhr, wie er aufschoß –, dies: auf einmal fliegen! Auf einmal fliegen zu können! Da ist er jahrelang zwischen seinen Rasenufern und Binsen herumgerudert, nur manchmal im Halbflug über die Fläche streifend, ahnend, was fliegen ist, und nun auf einmal losgerissen von der alten Kette, kein Schwimmvogel mehr, vielleicht zuerst entsetzt über die gewaltige Änderung seiner Bahn, seines Elements, seiner Welt – wie es unter ihm versinkt, wie die Baumwipfel gegen ihn anstürmen, wie er sie überstürmt, besinnungslos, nur hoch – hoch! – Und dann, mit einmal, der Flug ... das Fliegen können, das von oben Schaun, heraus aus aller Gewohnheit, neugeboren, wie göttlich!« Georg schloß, innerlich erschreckt von dem Worte Gewohnheit, in seltsamer Erinnerung an das, was er vorhin auf dem Wirtschaftshof gedacht hatte. Magda, die sich halb nach ihm umgewandt hatte, sagte nach einer Pause:

»Und der da drinnen liegt, – ist er nun auch neugeboren? Gott!« flüsterte sie vor sich hin, »ich habe es getan, wie kam ich nur dazu?«

Georg sah sie betroffen an. Was dachte sie denn?

»Ich möchte ihn nun sehn«, sagte sie leise, glitt mit einer plötzlichen, geschmeidigen Bewegung um den Sofatisch und ging auf den Zehenspitzen ins Nebenzimmer. Georg folgte ihr.

Über ihre Schultern hinweg nahm er in der Dunkelheit des handtuchschmalen Raums ein kindlich kleines, todbleiches Gesicht wahr, aber mit schrecklich altkluger, schwer hängender Stirn unter wirrem, schwarzem Haar, ohne Augen. Die weißen Kissen standen spitz rechts und links davon empor. Unter der Decke bewegte der Körper sich unruhig, auch das Gesicht drehte sich unaufhörlich, von einem schlaflosen Geiste bewegt.

»Ist er das?« fragte Magda ergriffen und fassungslos. Noch standen sie beklommen beieinander, als der Name Angelika durch das Zimmer schwebte, leicht wie ein Gedanke, zart wie Laubduft von den fiebernden Lippen abgelöst, und kaum daß sie recht bedachten, was der Name hieß, füllte sich mit Engelsgestalten und Lilien der geweitete Raum.

Magda legte Georg leicht die Hand auf den Arm und drängte ihn mit sich hinaus; die Tür schloß sie zu. Der Maler saß in einem Stuhl am Fenster, rauchte seine Pfeife und sah hinaus. Voller Regen schlug kräftig gegen die Scheiben, daß sie für Augenblicke erblindeten; durch das tosende Rauschen war die größere Stimme der fernen Meeresbrandung deutlich zu hören; es blitzte unaufhörlich, auch der Donner war jetzt laut geworden, noch rollend und großmütig, aber jeden Augenblick war zorniges Knattern und Schmettern zu erwarten. – Magda blieb mit dem Rücken an der Tür; Georg, im Zimmer stehend, sagte:

»Haben Sie es gehört? Er sprach einen Namen aus.«

»Nein, soeben nicht; aber es wird der Name sein, den er immer spricht, wenn er sich vergißt.«

»Kennen Sie diese – diese –«

»Man kann sie nicht kennen, sie ist tot; das ist ungefähr alles, was ich von ihr weiß.«

»Können Sie uns auch von Ihrem Freunde sonst nichts sagen?«

»Er ist nicht mein Freund. Was ich von ihm weiß, will ich Ihnen gern erzählen, es ist nicht viel.«

Es war finster geworden. Magda zog sich hinter den Tisch in das Sofa zurück, Georg setzte sich in der Nähe der Flurtür auf einen Stuhl, sah die vielen kleinen Pferdeporträte an den Wänden bei jedem Blitzschein hell aufspringen und hörte des Malers ruhige, ungetrübte Stimme, manchmal vom Donner übertönt oder unterbrochen, von diesem Jason al Manach erzählen.

»Jason al Manach, ja, so heißt er, wie Almanach, aber auf der zweiten Silbe betont, das will er so. Ich lernte ihn vor längerer Zeit in Paris flüchtig kennen, in einem Kaffeehaus, und es stellte sich heraus, daß wir beide aus Altenrepen stammen, sogar in dieselbe Schule gegangen sind, aber er ist ein paar Jahre jünger.« Ein paar Jahre? dachte Georg, ich dachte, er wäre siebzehn! – »Er sprach wenig und schien schwermütig. Dann traf ich ihn vor einigen Wochen wieder im Eisenbahnabteil auf der Fahrt von Paris nach Köln, wo wir das Unglück mitgemacht haben, an das Sie sich wohl erinnern.«

»Ich weiß nicht,« fuhr der Maler nach einer Pause fort, durch die sich eine Kette von Geknatter des Donners spannte, »ob Sie sich eine Vorstellung von einem Zugzusammenstoß bei Nacht machen können. Nun. Wir saßen einander gegenüber, der al Manach und ich, hatten jeder die Beine neben den Sitz des Andern auf die Polster gelegt, ich war gerade aufgewacht, fröstelnd, weils gegen Morgen ging, und war fast erschreckt von seinen Augen, die mich ansahen wie zwei Kohlenstücke ohne Blick, so daß ich nach der blauen Halbkugel der verschleierten Lampe über mir emporsah. Da flog ich ohne weiteres gegen die Wand gegenüber und quetschte mir die Brust, so daß mir der Atem verging; mit der Stirn schlug ich gegen das eiserne Gepäcknetz, aber es war alles nicht schlimm, und ich dachte nur: Jetzt! Jetzt! – Ja, dann war das Geschrei, dagegen war mein eigenes Entsetzen gar nichts, das war – grausig. Nun. Im Abteil war ein queres Durcheinander von Leibern, aus denen Gestöhn und Schreien quoll, übrigens ist niemandem etwas geschehn. Auf einmal hatte ich den Türgriff in der Hand, öffnete und sprang ins Freie, sehr tief, aber weich ins Gras der Böschung, die ich ganz hinunterkugelte. Nun war alles hoch über mir. Unser Wagen hing die Böschung schräg hinunter; es war der vorletzte; der letzte lag unten, ein schwarzes Gewimmel kroch daraus hervor, dahinter war schwarzes Feld, und ein grünes Licht, und schwache Morgenröte. An der andern Seite lag die vordere Hälfte des Zuges in hellen Flammen, die überall hervorschlugen. In dem Feuerschein sah ich ganz fern die Lokomotive, hoch in der Luft wie ein bäumendes Pferd, das auf ein anderes draufgesprungen ist, dahinter noch ein schwärzliches Durcheinander von Wagen und Stangen. Kleine Flammen züngelten heraus. Es war ein Güterzug. Aus den brennenden Abteilen stürzten schwarze, weiße und brennende Körper heraus, die entsetzlich schrien. Einer rollte die Böschung hinunter, stand in Flammen auf und lief als lohende Fackel querfeldein – nun. Nun nahm ich mich also zusammen, kletterte die Böschung hinauf, nun – und dann half ich, so gut es ging, Flammen ausdrücken und so.

»Nun Jason – – Ja, eins will ich noch sagen, weil es das Schrecklichste war, was ich erlebte. Da hielten zwei Männer eine wahnsinnig schreiende Frau. Ihr Kind lag im Abteil, das brannte, und ich wickelte mir, ohne daß ich dachte, mein Taschentuch um die Hand, riß die zugeschlagene Wagentür auf, sie war glühend, ich merkte es an der Hand, nachdem mein Tuch wie Zunder geschmolzen war, den Schmerz fühlte ich erst viel später. Drinnen war roter und schwarzer Qualm, und ich warf meinen Rock über ein brennendes Bündel, das auf der Bank lag, – ja, ich hätte es wohl besser liegen lassen sollen. Denn als ich der Frau dies – nun, dies Kind auf die Arme legte, starrte sie es an, und dann mich, und dann warf sies an die Erde und schlug auf mich los. Danach habe ich lange Zeit mich um nichts gekümmert. Ich glaube, ich habe irgendwo gesessen und geweint.

»Als ich später aufstand und umhersah, brannten die Flammen aus, und ich ging ein Stück auf dem Bahndamm weiter, um vielleicht noch zu helfen. Da sah ich dort den al Manach sitzen. Zwischen den Knien hatte er den Oberkörper eines Mädchens, dem die Brust zerquetscht war. Sie atmete noch, und mit jedem Atemzug kam eine Welle Blut. Er streichelte sie unaufhörlich und redete ihr gut zu, und ich stand davor und sah zu. Die nannte er auch Angelika. Auf einmal kam kein Blut mehr, und sie atmete nicht mehr. Wie er das merkte, packte er ihren Kopf mit beiden Händen, starrte in ihr Gesicht und stöhnte so merkwürdig. Dann ließ er sich von mir wegführen und sonst mit sich tun, was ich wollte. So nahm ich ihn mit nach Köln. Er war stumpf, saß nur da, aß kaum, brütete vor sich hin. Später murmelte er beständig. Meist redete er mit jener unbekannten Angelika, dazwischen sagte er lange Stücke aus Dichtern auf mit einem merkwürdigen Gedächtnis, aber alles durcheinander. Als ich mit meinem Auftrag in Köln fertig war, las ich in der Zeitung, daß der Herzog hier wäre. Ich hatte Zeit das Bild zu kopieren, und weil ich dachte, die Landschaft hier wäre vielleicht angenehm für den Kranken, nahm ich ihn mit. Ich hielt ihn ja für ruhig und gewissermaßen unschädlich.« Bogner schwieg.

Ein heftig auflodernder Blitz setzte alle Winkel des Zimmers in Flammen, es war blendend hell, vor der blauflammenden Fensterfüllung erschien das Profil des Malers fast schartig, mit einem Ausdruck von großer Geduld. Georg wunderte sich, wie er mitten in den Blitz hineinzusehn schien. Anna hatte das Gesicht in Händen, aber Georg wagte nicht, sich zu rühren, zumal, alles Vorhergegangene zerschmeißend und austilgend, ein fürchterlicher Donnerschlag über das Dach hinschmetterte, immer weiter tobend, knatternd, dann langausrollend wie ein zornig hinfahrender Gott.

Als nur wieder der Regen langmütig herabgoß, das Mädchen wieder aufrecht saß, still und wie es schien ganz friedfertig, fragte Georg dumpf und gezwungen:

»Ist das nun Schicksal? Einer will sterben, er hat – er meint, den Willen zu haben. Da greift ein andrer ein, ein ganz Fremder, ganz Unwissender, der wollte, daß er lebe – ich meine: war das sein verlorener Wille zum Leben, der eine andere Seele ergriff und zwang, für ihn zu handeln, der sich verloren hatte ...«

Das ist alles so schaurig verwickelt, dachte Georg hülflos, und plötzlich fiel ihm ein, daß er vorher, als er jene Kette nichtiger Notwendigkeiten zusammenfügte, ja nur die eine Seite gekannt hatte. Welche Reihe von Zufälligkeiten sah er nun auf der andern Seite am Werk, um diesen Maler mit dem al Manach einen Tag nach Annas Rückkehr ... Herrgott! schüttelte er dies von sich, das ist, glaub ich, das Schreckliche an mir, daß ich immer alles denken, sehen, begreifen, durchschauen muß. Da geht die ganze Wirkung verloren, weil das Denken mich mehr bewegt als das Fühlen, – arme, kleine Anna! – Indem sagte sie ganz leise:

»Gott weiß wohl mehr von uns, und wie wir zusammengehören, und er führt den einen zum andern, wenn ers für gut hält.«

Da, als ein sanfterer Donner hinter diesen Worten einherrollte, stieg in ihm das Gefühl. Ihm war, als hätte ein himmlisches Tor sich für eine Minute geöffnet, eine Stimme sang die guten Engelsworte heraus, das Tor fiel rollend zu.

Das Gewitter, dachte Georg, macht uns alle seltsam, und wir sitzen wie beratende Götter zusammen. – So schien ihm wenigstens dieser langmütige Maler.

»Kinder,« sagte der ernst, »was wißt ihr denn, was glaubt ihr denn, sei Tod, Verantwortung und Schuld? Man tut, was sich anbietet, das Nächste. Wir gehn über die Straße, wir fahren mit der Bahn, mit dem Schiff, und keiner denkt, daß er im nächsten Augenblick bei den Gestorbenen sein kann. Gewiß, sonst bliebe alles ungetan, Gutes und Böses.«

»Und doch«, widersetzte sich Georg, »könnten wirs denken, wir würden uns auch der Schuld bewußt sein, die hinter uns unsühnbar zurückbleibt.«

»Sühne giebt es nicht«, sagte der Maler.

Aber während Georg betroffen fragte: »Wieso?« hörte er Magda seine eigenen Worte fortsetzen:

»Und die Liebe, und die Verzeihung, die auch hinter uns zurückbleibt, bei den Andern, würden wir daran nicht auch denken?«

Nach einem Schweigen sagte der Maler:

»Liebe vergeht, Schuld besteht. Schuld ist Tat, und Tat wirkt so fort, was soll da Sühne! Alles bleibt unverändert.«

Georg sprang auf.

»Aber tun!« rief er, »tun muß man doch etwas!«

»Gewiß,« antwortete der Maler, »das verlangt die Natur.«

Georg setzte sich wieder, stützte die Ellenbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände und ergab sich; dieser Maler war ein Fels. Da hörte er Magdas Stimme, irgendwie verändert, blickte vom Boden auf und sah sie dicht vor Bogner stehn; schlank, weiß, die Hände vorm Schoß zusammengelegt, stand sie mit leicht geneigtem Kopf wie eine Bittende.

»Herr Bogner,« sagte sie, »ich möchte Ihnen gern etwas sagen, Sie etwas – fragen, denn ... Ich hab auf einmal solches Vertrauen zu Ihnen ...«

Also nicht zu mir? fragte Georg sich gekränkt.

»Ich hab Angst, Gott, ich hab solch wahnsinnige Angst!« stammelte sie plötzlich. Beide sprangen auf und traten zu ihr, aber sie wehrte ab und sagte sanft, es sei schon vorbei.

»Darf ich es sagen?« fragte sie wieder. »Es ist freilich sehr sonderbar. Es ist – mir ist einmal von einer Zigeunerin prophezeit worden, aus der Hand, und das fängt jetzt an einzutreffen.«

Sie setzte sich in die Sofaecke wie erschöpft. Es war wieder still im Zimmer, das Gewitter ließ nach. Bogner öffnete ein Fenster; wundervoll floß da, gleich erbötig, die Erfrischung herein. Der Regen ging in geradem, leichtem Strom draußen nieder, alle Ferne war darin verschwunden bis auf den Schatten des Windmühlenkreuzes. Als habe der Maler ihr mit dem Öffnen des Fensters eine beruhigende Antwort gegeben, fuhr das Mädchen nun fort.

»Es war auf einem Ausflug mit unsrer Genfer Pension, da trafen wir Zigeuner, in einem französischen Dorf. Sie ließen sich alle aus der Hand prophezeien, auch die Lehrerinnen, und sie bekamen alle nette Weissagungen, Briefe und Heiraten und Geld, und es paßte immer, was jede heimlich gewünscht hatte. Ich mochte das gelbe Weib nicht mit den weißen Flecken im Gesicht, aber dann drängten die andern mich, und sie nahm meine Hand und sah sie erst gleichgültig an wie die andern Hände, aber es klang schon so merkwürdig, was sie murmelte: Coeur de fleurs ... ich behielt es gleich wie einen Vers: Coeur de fleurs, – Coeur sans peur ... Aber dann sah sie mich scharf an und sagte, da wäre wenig Freude zu sehn, das Schlimme aber erführ ich ja früh genug, wenn es käme. Nun wollte ich auf einmal mehr wissen, da zog sie mich abseit und flüsterte mir zu, sie würde mich schon finden, wenn ich allein wäre, und damit lief sie weg. Als ich nun ein paar Tage später mit Renate, mit meiner Freundin, im Garten auf und ab ging, stand sie auf einmal am Gitter. Und dann hat Renate zugehört, wie sie aus den Linien hier in meiner Hand las, und sie sagte mir erst aus meinem vergangenen Leben genau Bescheid, – ich weiß nicht, woher sie das erfahren haben soll – von Papa und dem Herzog und dir, Georg, und von Mamas Tode, was sonst keiner weiß –«

Georg, unter einer angenehmen Empfindung errötend, sagte möglichst vernünftig: »Sag mal, sollte sie das nicht aus dir herausgefragt haben?«

»Vielleicht, aber – darauf kommt ja nichts an. Sie prophezeite mir nämlich, ich würde dreimal einem Menschen das Leben retten –«

»Anna!«

»Aber das dritte Mal würde es mir das Leben kosten«, schloß sie tapfer.

Georg schäumte innerlich vor Wut. Dies verruchte Weib! Anna lachte auf einmal hell.

»Weißt du noch, Georg, wie du das von dem Seestern sagtest? – da erschrak ich so merkwürdig, – und nachher dachte ich an gar nichts. Es kam ja alles so schnell, so plötzlich, wie er da im Wasser schwamm, und der Schwan schlug mit den Flügeln und sah hin. Erst als ich hineinritt, erschrak er und brauste davon. Die Prophezeiung ist mir erst viel später eingefallen. Als Artaxerxes davonflog, fiel sie mir plötzlich ein. So sind Sie doch auch in das brennende Abteil gesprungen, ohne zu denken, und nun bin ich auf so viele Gedanken gekommen und fing an, mich zu fürchten, oder ob das Gewitter ... denn ich wollte mich nicht fürchten, gewiß nicht, ich dachte, als ich nebenan vor seinem Bett stand, wo er so kindlich aussah, ich wollte es gewiß gern tun, dreimal, wenn es sein müßte, und auch selbst dabei ...«

Sie brach ab, weinte auf, legte hell jammernd das Gesicht in die Hände und auf den Tisch, und eine lange Zeit war sie nicht zu beruhigen, auch verzweifelte Georg an sich selber, weil er, sie in den Armen haltend, alle möglichen Empfindungen hatte. Schließlich ward sie doch stiller, trocknete ihr Gesicht, stand auf, nickte den Beiden durch nasse Schleier lächelnd zu und ging schnell und leise hinaus.

 

Zwiegespräch

Georg hatte, als Anna gegangen war, gedankenlos die Uhr gezogen; es war etwas nach halb zwei, und so blieb immer noch eine halbe Stunde bis zur Unterredung mit seinem Vater, auch wenn er berechnete, daß er sich für das Mittagessen noch anziehen mußte – was ich eben schon hätte tun können, dachte er.

Er steckte die Hände fest in die Rocktaschen, sie nach vorn drückend, lief ein paarmal auf und ab und mußte plötzlich losbrechen:

»Verstehen Sie denn das alles? Nun liegt die Geschichte ja noch anders, als ich Ihnen vorgerechnet hab, Ihr Eisenbahnunglück kommt auch noch dazu, und das Bild, das Sie doch seit Jahren hätten abmalen können, und das alles, damit eine gottverdammte Prophezeiung eintrifft, das ist ja zum Haarausraufen! Glauben Sie eigentlich daran?«

»Prinz,« sagte Bogner, »ob wir daran glauben, das ist hier wie immer wohl nebensächlich. Es scheint: sie glaubt daran. Was man glaubt, pflegt zu geschehn.«

»Sie muß wohl,« knurrte Georg, »wenn es doch schon eintrifft. Daß sie vorher nicht daran glaubte, haben Sie ja selbst gehört. Es ist ja grauenhaft!«

»Leider!«

»Das sagen Sie so, als ob ...«

»Ich will mich gern erklären«, äußerte der Maler willfährig. »Mir fielen antikische Weissagungen ein, Achilleus, Odysseus, Ödipus. Das waren, wie soll ich sagen, Opfer der Phantasie, Opfer ihres Volkes, die es mit dem Schauerlichsten oder Erhabensten belud, wovon ihnen selber nichts zuteil wurde. Aber warum, meinen Sie, bekamen diese Erhabenen stets die Weissagung obenein?«

»Ich verstehe schon,« meinte Georg, »Sie denken an das Vorherwissen ihres Schicksals, die Unabänderlichkeit des Erfüllenmüssens, ja dies Erfüllen, wo die andern einfach betroffen wurden. Nun, dafür waren jene eben Helden.«

»Keineswegs. Sondern eben dadurch wurden sie es. Dem einfachen Menschen ist das Vorherwissen – damals wie heute – ein – manchmal verlockender – in Wahrheit immer grauenvoller Gedanke, und jene wurden, die erhabenen Einzelnen wurden zu Helden, weil sie diese Ausnahme ertrugen und in ihr Schicksal sahn. Sie hatten ihr Schicksal, über den Vielen, die das Schicksal hatte.«

»Ödipus etwa?«

»Ödipus war doch kein Held, Prinz.«

Georg schwieg eine Weile und fand endlich das erlösende: »Das beweist gar nichts. Anna ist keine Penelope, kein – kein Heldenweib.«

»Woher wissen Sie denn das? Wird man zum Helden geformt, gestempelt und eingetragen, wie Herr Chalybäus: Tenor alles in allem? Sie begehen auch eine Verwechselung, glaube ich. Penelope und andre, auch männliche Berühmtheiten waren schöne Gestaltungen des Durchschnitts. Sie taten das Nötige, aber sie glänzten, weil sie im Glanze standen. Troja und der große Krieg, Odysseus und die wilden Fahrten überglänzten alles, was drin auftauchte –«

»Ja,« unterbrach Georg ihn erregt, »da wurden sie Gleichnisse für Menschenleid aller Art, erhabene Sinnbilder, geadelt von ihren Dichtern. Die andern, die Gezeichneten, Verfluchten, trugen auf ihren Stirnen Blitzfeuer vom Himmel oder vielmehr vom Schicksal, das ihretwegen aus der Nacht vorgetreten war.«

»Gewiß, Sie wissen alles sehr gut«, sagte der Maler. Georg, ein wenig stutzend bei dieser Antwort, betrachtete den Maler eingehend, der sich inzwischen an den Tisch gesetzt hatte und im Sprechen eine flache, als Aschenbecher dienende Perlmutterschale hin und her drehte. Auf einmal schien ihm klar, daß, während er selber hervorsprudelte, was der Augenblick ihm eingab, der Maler wie von Schränken oder Sofakissen seiner Kinderzeit redete, Dingen, die sich in alle Ewigkeit nicht verändern, und die voll und fertig da sind, wenn man nur dran denkt.

»Ich glaube,« murmelte er, »es wäre mir und Anna lieber, wenn sie ein simples Dasein ohne Größe und Glorien haben könnte.«

Der Maler sah sich nach ihm um und lächelte sein bezauberndes Lächeln.

»Ich war Ihnen gleich gut, Prinz,« sagte er freundlich, »dafür plage ich mich gern mit Ihnen. Nicht wahr, Sie glauben an die Dichter. Das ist wacker, bloß – es verdirbt ein wenig die Anschauung. Was die Dichter sagen, das glänzt, haben Sies nie bemerkt, und was sie glänzend machen, das lodert zum Himmel. Aber wie ich schon sagte: was hilft es der kleinen Chalybäus, ob ich und Sie an ihre Zigeunerin glauben, und was hilft es ihr, ob jemand anders ihre Taten groß und ihr Dasein glorreich sieht. Sie hat ihr Leben, wie ich meines habe, wie Ihr Vater, Ihre Mutter, Sie selber. Für die Zuschauer kommt es ja nun immer auf die Beleuchtung an, das ergiebt dann später Geschichte, und daraus schöpfen Ihre Dichter das Glänzende.«

Georg, dem es irgendwie schien, als wolle der Maler auf etwas noch andres hinaus, als was seine Worte angaben, unterbrach ihn.

»Ich verstehe ja, Sie sind ein Maler, Sie dozieren die malerische Ethik, nein, nein!« rief er glühend und geängstet, »ich bitte Sie, sagen Sie mir, ob Sie selber dran glauben. Glauben Sie, daß ihr dies geschehen wird?«

»Da würde ich mich an Ihrer Stelle doch an die Tatsachen halten«, versetzte Bogner kühl.

»Warum weichen Sie mir aus?«

Bogner schwieg, zog einen kleinen Bleistift aus der Westentasche, schob ihn einmal in seiner gelbgegriffenen Blechhülse hin und her, steckte ihn wieder fort und schien frische Langmut geschöpft zu haben.

»Wer, liebe Durchlaucht,« sagte er, »wer giebt Ihnen eigentlich das Recht, meine Gedanken gehört zu bekommen?«

War das grob? – – Nein, grob nicht, nur anders.

»Ich dachte nur,« brachte Georg zögernd und bescheiden vor, »im Gespräch sagt man, was man denkt, oder man lügt. Sie aber, verzeihen Sie, wenn ich das sage, Sie – Sie sprechen eigentlich nicht, sondern Sie antworten, Sie sind ein Schweig–«

»Ja, sehen Sie,« unterbrach Bogner ihn ganz erfreut, »ich sagte ja, Sie wüßten alles sehr gut!« Georg wurde verlegen und froh, als er den Maler fortfahren hörte: »Ich meinte ja nur, es würde Ihnen nichts nützen, zu hören, was ich denke. Was ich wirklich denke, hören Sie ja doch nicht, sondern nur, was Sie gern wollen, daß ich denke. Das Wort ist insofern eine große Lügenbrücke.«

Georg war begeistert und gab ihm strahlend recht. »So ist es«, sagte er. »Ich drücke meine Gedanken in Worten aus, und Sie meine Worte wieder in Gedanken, dabei geht natürlich das meiste verloren, es ist sehr traurig.«

»Das Wort ist gut,« entgegnete der Maler, »sagen Sie nichts gegen das Wort. Bedauerlich sind allenfalls die Menschen. Jeder will vom Andern hören, was er selber denkt; bekommt er das nicht, glaubt er, der andre will ihm seine Meinung aufreden, und das will der ja auch meist. Sie wollen einander überreden, dann zanken sie sich, und die Verständigung ist beim Teufel. Aber im Verkehr so untereinander, da entsteht ein halbes Begreifen, ein Mittelding zwischen Gesagtem und Gehörtem, das genügt.«

»Nein, das genügt mir freilich nicht«, seufzte Georg und dachte an Tasso. Es rührte ihn, sich mit Tasso, den Maler mit Antonio zu vergleichen. Ach, dachte er, Eleonore hat ihn auch nicht verstanden! Giebt es aber nicht wenigstens auserlesene Stunden, giebt es kein Zusammenfluten unter den Brücken? Muß man vielleicht schweigen lernen? Ah, das gäbe am Ende einen Schluß auf die Entstehung des Kusses! Meine süße Anna, dachte er betrübt, was ist mit dir? – Die Sehnsucht übermannte ihn, er dachte an ein süßgoldenes Verstehn und wurde trauriger, weil sie nicht ihm sich anvertraut hatte, sondern diesem Antonio. Da raffte er sich noch einmal auf.

»Aber Kunst,« sagte er, »ist Kunst nicht auch eine Sprache? Sie sind ein Künstler, behaupten Sie nicht, diese seelenverkündende Sprache zu besitzen, zu ahnen, zu erraten, was in uns, was in allen Dingen vorgeht, was für ein Sinn darin ist oder so, achten Sie nicht auf die Ausdrücke! Die Seele, Art, Leid, was Sie wollen, – dies zu sagen, zu offenbaren?«

Der Maler schwieg eine Weile, wie es schien bedeutend nachsinnend.

»Nein«, sagte er endlich. Er winkte mit der Hand und wiederholte: »Nein, das ist nichts. Die Dilettanten sagen das immer, und alle, die über die Dinge nachdenken. Ich will damit nicht sagen, daß ich nicht auch ab und an etwas dächte, aber wissen Sie –« Der Maler war augenscheinlich nicht nur um Worte, sondern um alles verlegen und schloß plötzlich kurz: »Man malt eben.«

Er lachte leise und innerlich und setzte dann hinzu:

»Es giebt so wenig Seelen; am besten sitzt man für sich allein und bastelt so herum. Manchmal wirds was, manchmal nicht.«

Das war ja schrecklich banal! Georg war tief enttäuscht, da alle Aufschlüsse ausblieben. Und dieser Mensch, der so klug, der geradezu verschlagen geredet hatte, – nun, wo er über seine Kunst, sein Innerstes reden konnte – –, oder tat er nur so? Wollte er nicht? Er mußte es noch einmal versuchen.

»Ich verstehe, wie Sie es meinen«, sagte er bescheidenlich. »Sie malen, wenn ich so sagen darf, Ihre Seele in Ihr Bild, und der Betrachter sieht die seine heraus, nicht wahr? Es ist genau wie mit der Sprache eben.«

»Ja,« sagte dieser Mensch hocherfreut, »genau so ist es! Es ist ganz einfach, ich sagte es ja: man malt eben. Man kann etwas, das ist selbstverständlich; und man hat eine Seele, das ist auch selbstverständlich; nachher ist man denn Holbein oder vielleicht Vermeer. Andre wieder sind nachher vergessen. Was verstehen Sie übrigens unter Seele? Es geht etwas in einem vor, es bewegt sich, eine gewisse Neigung nach Ewigkeit, und für das, was einen bewegt, findet man in der Umwelt die Belege gewissermaßen, die Gleichnisse ...«

»Wir erkennen uns selber im Spiegel der Umwelt«, sagte Georg gedankenvoll.

»Oh!« rief der Maler aufspringend und ans Fenster tretend, »wenn Ihnen mit Schlagworten gedient ist, weiß ich ein ausgezeichnetes, das ich mir selber ausgedacht hab, nämlich: Kunst ist zu scheinbarer Objektivität gesteigerte Subjektivität. – Praktisch ist natürlich alles umgekehrt.«

»Wieso?« fragte Georg, verdutzt vom Stuhl an der Tür zu ihm aufsehend, der sich mit dem Rücken ins Fenster lehnte und die Ellbogen in die Hände nahm.

»Weil es da die Beispiele, die Belege draußen sind, an denen man sich selber zu erkennen glaubt; das geht so hin und her.«

»Ja,« fuhr Georg verstehend fort, »alles ist Spiegel, alle Erscheinungen, und wir selber sind tausendfach gebrochene Spiegelbilder.«

»Und dies,« hörte er den Maler langsam sagen, »dies sind denn wohl so die Dinge, von denen man reden kann.«

»Und die wirklichen, was wären die?«

»Ach, so viel«, sagte Bogner. »Eine Kontur, so ein Kobaltblau in der Dämmrung, oder die Kerbe eines Blattes, und der Ansatz am Stiel, oder eine Nasenwurzel, – ja, das sind schon Dinge, schon Dinge ...« schloß er ganz nachdenklich.

»Eigentlich aber,« sagte er, den Kopf hebend und den ebenfalls sehr nachdenklich gewordenen Georg voll anblickend, obgleich der, weil er gegen das Fenster sah, seine Augen nicht erkennen konnte, »eigentlich aber wollte ich Ihnen nicht dieses sagen.« Er verstummte und sprach nach einer Pause sehr freundlich, fast liebevoll weiter.

»Es ist so schwer«, sagte er langsam. »Ich kann es Ihnen freilich sagen, denn Sie werden ja trotzdem tun, was Sie müssen, und sich um mich nicht kümmern. Es ist ja so schön, wie Sie alles, was um Sie her sich ereignet, in Angriff nehmen und durchdenken, aber – ich meine: es ist wie mit den griechischen und lateinischen Dichtern und mit Schiller in der Schule, an denen die grammatischen Regeln und der Aufsatz gelernt werden, wozu sie doch – eigentlich – nicht da sind. So benutzen Sie, wie alle guten jungen Leute, die Schicksale der Andern, um daran denken zu lernen.«

Er schwieg. Georg, ziemlich betroffen, sah ihn mit wagrechtem Finger sich unter der Nasenspitze reiben und hörte ihn fragen: »Kennen Sie Indien? Ich habe einmal gehört, daß die jungen Männer dort nicht in Schriftstellern und Algebra unterrichtet werden, sondern in – Lebensfertigkeit gewissermaßen, wenn auch die geistige Arbeit dortzuland sich wohl vorwiegend mit dem Leben nach, nicht mit dem vor dem Tode beschäftigt, aber nun – sie brauchen sich ja dort nicht vor Fahrplänen und elektrischen Bahnen in acht zu nehmen.«

Georg, in dem Glauben, daß noch etwas kommen solle, schwieg ehrfurchtsvoll und zugleich auf eine ihm schmeichelnde Weise gehoben, da der Maler zuletzt sich so viel ernsthafter gegeben zu haben schien, daß es ihm vorkam, als sei er selber älter geworden während ihres Gesprächs.

»Danke schön!« sagte er nun aufspringend und lachte, »nun muß ich aber fort.«

»Wenn Sie meinen,« sagte der Maler mitlachend und ihm die gereichte Hand drückend, »daß ich Ihnen jetzt doch meine Gedanken offenbart hätte, dann irren Sie sich. Es waren nur die von heute vormittag; die richtigen, die von voriger Woche, die hab ich für mich behalten.«

So ging denn Georg, nicht ohne starke Zweifel am zuletzt Gehörten, die er sich schuldig zu sein glaubte.

 

Schreibzimmer

Coeur de fleurs – coeur sans peur ... Der Vers geriet im Augenblick, wo Georg die Tür hinter sich schloß, in sein Gedächtnis, während sich zugleich eine so heftige Beklemmung um seine Brust legte, daß er sich, gedankenlos den Flur in irgendeiner Richtung hinuntergehend, nach ihrem Grunde fragte und alsbald herausbekam, daß er Annas erschütterndes, vielleicht zu – sonderbares Erlebnis während der letzten halben Stunde vergessen hatte; vergessen, obgleich er nur deswegen geredet und so auf den Maler eingedrungen war. Er stieg die Treppe hinunter und fand sich gleich darauf im strömenden Regen. Er hätte trockenen Fußes durch das Haus gehen können, aber er gönnte es sich, naß zu werden, wie Jakobsens Fennymore sich den Schnee, als ihr Mann tot lag und der elende Lhyne übers Eis kam. Was hatte der Maler gesagt? Schiller und Herodot und dergleichen ... Hatte er recht? Gegen die wild heruntergießende Strömung ankämpfend, erinnerte ihn der Anblick des im Regen schattenhaften Turms auf der Ecke an seine Mutter, der nichts so wohl tat wie die elektrische Luft beim Gewitter, während ihr Herz eine regelrechte Behandlung mit elektrischen Strahlen nicht vertragen hatte, und dies erleichterte ihn wieder. Die leere Fläche der Terrasse, auf die er zuging, ohne Möbel und Sonnenzelt, lag bräunlich und schütternd wie eine Wasserfläche mit den Kreisen der tanzenden Regenjungfern bedeckt; es plätscherte über die Stufen, auf dem dunkelbraun gewordenen Wege darunter kreuzten sich hundert bewegliche Rinnsale und Schnellen; die kleinen, weißen, dunkel und rosaroten Wolken der Rosenstöcke schwammen in den Regenschleiern hin und her, aufgeregt wie die bunten Kinderballons im Winde; einzelne Blätter trieben flackernd davon und segelten auf den Regenbächen, während oben in den Steinurnen die roten Geraniumranken in sich geduckt geduldig stillehielten. Alles wie frisch, wie lebendig und kühlig, – ja, und nun mußte er obendrein vor der verschlossenen Tür stehn und warten, bis auf sein Klingeln ein Diener kommen würde. Sonderbar war der Anblick des dämmrigen Saals durch das nasse Glas, wo in den sechs deckenhohen Nischen auf vielen Konsolen übereinander die hundert kleinen Vogelfiguren aus Meißener Porzellan in ihren bunten Farben leise leuchteten, hier das satte Rot eines Dompfaffen, das Gelb eines Pirols, das Grün eines Zeisigs oder Wellensittichs, und wie still hockten sie alle!

Nasser geworden als vorhin im Teich, so kams ihm vor, konnte er endlich eintreten und ging, das Gesicht mit dem Taschentuch abtrocknend, links hinüber zur Tür, hinter der es von Schreibmaschinen klapperte. Er öffnete und trat, noch die Hände trocknend, durch die Spalte – schon wütend angerasselt vom wetteifernden Geklapper der beiden Maschinen – in den großen, hellen Raum mit drei Fenstern.

Das Mädchen am mittleren Fenster, das ihm den Rücken wandte, sah sich flüchtig um und fing an, auf ihrem Diktatblock zu lesen. Fern drüben am dritten Fenster bewegten sich fuchsrote Wellenscheitel in die Höhe, und dieses Wesen Fliddridd sah ihn blicklos an aus ihrem runden, weißen Gesicht. Sie kniff dabei die winzigen Augenschlitze zwischen dicken Lidern fast zu, während zwischen den Zähnen und leuchtend geraniumroten Lippen hervor langsam die Zungenspitze zum Vorschein kam, wieder von einem andern Rot, mehr bläulich, worüber Georg sich wunderte, auch über die Art, wie ihr ganzes Gesicht nun wie eine Seifenblase lautlos in Lachen zerplatzte.

Gans! – Georg wandte sich ab und sah an der langen Wand der Aktenregale voller Ordnungsmappen den Doktor sitzen, breitbrüstig und stämmig vor seinen zusammengeschobenen, mit einem entsetzlichen Wirrwarr von Papieren beladenen Schreibtischen. Ach, was hatte der Mann doch für ein prächtiges Gesicht, so von der Seite besonders! Georg sah die vollen, gerundeten und geröteten Wangen, das starke Kinn, den hängenden braungrauen Schnurrbart, den mächtigen Uhuschnabel der Nase und den nachdenklichen Blick der feurigen, braunen Augen mit starken Tränensäcken unter hochgezogenen Brauen auf die schreibende Feder gerichtet, – und nun, da er sich umwandte, hatte er die volle Ansicht von vorn: den Nasenrücken grade und streng und lang, die kräftig roten Wangen und die majestätische Giebelung der Stirn mit den hochgeschwungenen Brauen, während er mit seinem, immer gleichsam königlich erstaunten Ausdruck und nicht ganz anwesenden Geistes gleichwohl sehr erfreut lächelte.

»No – Georg?« fragte er, noch immer ausbleibenden Geistes, doch teilnehmend immerhin.

»Du siehst doch aus wie König Saul«, sagte Georg näher zu ihm tretend. Er zog die Brauen noch höher, wiegte den Kopf jüdisch und hob die Schultern, lachte und sagte, langsam zurückkehrenden Geistes, halb geschmeichelt, aber abwehrend: »Ich soll wissen, wie ich ausseh!« worauf er mit der Hand in die Brusttasche griff, eine braunlederne Zigarrentasche mit Metallrändern hervorholte, öffnete und sie Georg hinhielt, indem er die Klappe mit der Hand zurückbog.

»No – o, du rauchst doch 'ne Zigarre, Georg?« sagte er, und, da Georg sein Zigarettenrauchen vorschützte, »no – was das schon heißen soll!« – er wiegte wieder, seiner Sache gewiß, den Kopf – »ich weiß doch, was ich weiß!« und lachte, da Georg jetzt zugriff, verschleimt und heiser, hustete sich aus – »siehst du wohl!« mit triumphierendem Kopfschütteln und lachte vor sich hin, indem er, auf der Suche nach irgendwas, Papiere und Aktendeckel aufwarf, über der Tischplatte tastete und schließlich eine Streichholzschachtel und eine abgeschliffene, gelbliche kleine Zigarrenschere zum Vorschein brachte, – allein nur äußerlich, innerlich längst wieder bei seinen Sachen. Während Georg seine lange Zigarre beschnitt, nahm er selber eine, entzündete sie beide mit einem Streichholz, setzte sich breit und rund im Armstuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

Das Gesicht des Malers erschien Georg, seltsam anders gegen dies soviel prächtigere; und, woher, mußte er sich fragen, kommt wohl dieses? – Er sah an der Wand von Doktor Birnbaums Wohnzimmer in Trassenberg die große, graue Vergrößerung einer Photographie des Vaters Birnbaum, der Synagogenhüter gewesen war, aber sein Gesicht mit wallendem, lockigem Vollbart glich ungemein dem des Kaisers Friedrich: die Nase freilich würde von der Seite wohl den Haken gehabt haben, den Georg eben vor sich sah.

»No – Georg,« fragte unterweil seine breite, etwas nasale Stimme, »was ist das mit Magda? Mir wird da gesagt – – was weiß ich?« Er überließ seinen fragenden Augen das Ende des Satzes.

Georg wehrte ab, es sei gar nichts, jemand, ein Fremder, ein Bekannter des Malers, den er wohl gesehn habe, sei in den Teich –, Georg brach ab, da ein unsichtbares Telephon anzirpte. Doktor Birnbaum warf wieder alles mögliche zur Seite und übereinander, Aktenbogen, blaue und gelbe Mappen und offene Briefe, griff den Telephonhörer von der Gabel und sagte, den Ellbogen auf die Platte stützend, hinein: »Ja?«

»Immer sagt er bloß »ja« ins Telephon«, bemerkte Georg halblaut zu Fliddridd hinüber, die lachte: »Nich wahr?«

»Flora?« hörte Georg ihn weiter sprechen, »mit Magda? Ja, das frage ich ja eben.«

Er lachte, drehte sich im Hören zu Georg und redete, ihn mit seitwärts horchenden Augen anblickend, weiter, so daß Georg das Gefühl hatte, er und seine Frau drüben redeten gleichzeitig.

»Ja ... ja. Georg ist eben da. – – Ja. – – Ich frage ja eben, er sagt ... No, was wirds denn schon sein? Gar nichts wird es – – Was? Hineingeritten? No, er kann dirs ja selber ... Wie? ... Er kann dirs ja selber, sag ich ... No, also schon gut. Erkältung? Ach, wo wird sie sich gleich erkälten! Das Wasser – – – was? – – das Wasser ist ja ganz warm. Also – –« Seine Stimme mit den breiten Altenrepener A-Lauten wurde allmählich kleiner, er sagte nur noch eine halbe Minute lang: »Ja – – ja – – ja – – ja – – ja – – ja – – ja – –«

Auf einmal legte er den Hörer hin, hatte sich aber kaum zu Georg zurückgewandt, der behaglich wie im Schauspiel den feinen Rauch seiner Zigarre schluckte, so flötete es wieder, er nahm den Hörer wieder, sagte sein: »Ja?« und nach einer Weile schmolz sein ganzes Antlitz langsam in großen, verklärenden Glanz auseinander, sein ganzes, kräftiges Gesicht triumphierte, er lehnte sich breit zurück wie ein Bankdirektor und schrie, während Georg schon verging vor Wißbegier:

»Also wer – – also wer hat das gesagt? Was hab ich gesagt, Durchlaucht, was hab ich –?« Er klopfte, aufgeregt Zeugnis ablegend, mit den Fingerspitzen der linken Hand auf den Rockaufschlag, so daß der Aschenklumpen von der Zigarre über den Handrücken fiel und zerstäubte, und, den Kopf in zufrieden gekränktem Triumphgefühl wiegend, redete er fort:

»Heute morgen, hab ich gesagt, würde er –« Georg lauschte angespannt, um etwas zu erraten, »heute morgen, sagt ich,« wiederholte er beschwörend, »würde er – – – also, no! Wer hat also recht gehabt?« Er lachte nachgiebig: »Ich weiß doch, was ich weiß ...« Und, nachdem er gehorcht hatte: »Ich weiß doch, was ich weiß, sag ich! Wann will er denn – –, ich meine, wann soll er – –, ist denn nichts vom – –«

Ja, da saß nun dieser Patriarch und konnte nicht einen einzigen Satz zustande bringen, so sehr waren diese Geschäftsleute gewohnt, sich mit Anschnitten zu begnügen, aus denen sich alles mögliche erraten ließ, was der andre nun grade wollte, und Georg, da er wieder abbrach, schrie wutentbrannt: »Was ist denn los, Onkel?«

»Georg will wissen, was – –« schrie der Doktor in die Sprechmuschel, »wie beliebt? Ja, Georg ist eben da, er – – – soll er? – – – Er kommt selber zu Ihnen? Also schön! No, – no, – also ich gratu – wie? – – ich gratuliere, sag ich! Also ... Ja – – ja – – ja – – ja – –« Es war zum Haarausraufen.

Georg stürzte zur Tür, aber als er neben Fliddridd vorbei wollte, fühlte er, wie sein Rock sich straffte; sie hielt ihn fest, ohne daß sie selber sich bewegte. Sich umdrehend sah er Onkel Salomon schon vertieft, mit beiden Händen tastend in seinen Papieren suchen.

»Was giebts denn?« fragte er ungeduldig.

»Wann gehts denn fort, Durchlaucht?« fragte sie, ohne ihn anzusehn.

»Herrgott, ich bin ja grade gekommen!« rief er mit unterdrückter Stimme und setzte, da sie fortfuhr, still vor sich nieder zu blicken, achselzuckend hinzu: »Keine Ahnung!«

»Wo gehts denn hin?« fragte sie wieder.

»Auch keine – das heißt – vielleicht nach München.«

Jetzt bekam er ein feuchtes Geglitzer aus den Augenschlitzen zugeblitzt, während sie fragte, ob er ihr eine Ansichtskarte schriebe. Georg sah das bleiche und trockne Mädchen gegenüber, die sich über ihren Diktatblock beugte, als sagte sie innerlich: Diese alberne Gans! –

»Natürlich! Zweie!« versicherte er.

»Tchöh!« sagte sie plötzlich, die linke Hand hinhaltend als spitzes hartes Dach mit angeklemmtem Daumen, aber ehe er ihre Fingerspitzen berührte, zuckte sie zurück, sie sprang auf, lief zur Flurtür, warf sich mit dem Rücken dagegen, lachte ihn hell an, steckte die Zunge heraus und wirbelte nach draußen, die Klinke mit dem Ellbogen herunterdrückend.

So Mädchen, dachte Georg, sich zur Tür wendend, so Mädchen sind doch zu merkwürdig! Warum sind sie wohl so? –

Damit öffnete er die Tür, die ledergepolsterte zweite dahinter und trat bei seinem Vater ein.


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