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Drittes Kapitel: Oktober

Renate an Magda

am dritten

Gleich, gleich, gleich muß ich Dir schreiben, mit Dir sprechen, Dich an mein Herz drücken, o Du Liebe, Du Arme, Du Törichte, Du Verstörte! Ich habe ja immer gewußt, daß das kommen mußte, ich habe so darum gebetet, ein wenig anders hatte ich es mir wohl gedacht, aber warte nur, es geht vorüber, dies geht vorüber, und alles wird gut werden. Ja, Kind, es ist gekommen, und Du hast es nicht erkannt, wäre ich nur bei Dir, könnte ich Dir Dein Gärtlein zeigen, wie ich es sehe, Gott schenke Dir nur einen einzigen schönen, feierlichen Herbsttag, mit flatterndem Gold in reinblauer Luft, mit leuchtenden, starken Farben, mit mildtätiger Sonne, daß Du den rechten Herbst erkennst. Du törichtes Kind! fragst, ob Du hast Kind sein dürfen, Du, die so früh herausgerissen wurde. Jetzt aber frage Dich einmal, ehrlich und tapfer, denn ich will Dich tapfer haben, mein Kind, und an Deine Müdigkeit glaube ich nicht, – frage Dich: Besitzest Du Dein Leben noch, das frühere, das kindische, leichte, gottgläubige? Du sagst, Du habest den Weg in Deinen Garten verloren, und gestehst zugleich, daß nur der Garten verwandelt sei. Das Leben ist Dir freilich nicht verloren, aber das, welches Dir das einzige schien, hat sich in ein andres verwandelt, in ein besseres, das sollst Du mir wohl glauben! Achtzehn und ein halbes Jahr bist Du alt, der Frühling, den die Leute an Dir sehn und Du selber, wenn Du in den Spiegel schaust, ist noch lang nicht vorüber, fühle aber im Herzen Früchtezeit und bitte nur Gott, sie kräftig zu gesegnen, und der Himmel verzeih mir, wenn ich jetzt an spärliche Reinettenernte denke.

Liebste! Nur um Dirs zu sagen, schreibe ich all das auf. Ich bin nicht täppisch genug, um Dich schnurstracks überzeugen zu wollen. Ich bitte Dich nur, es anzuhören, Dich darum zu bemühn, und ohne daß Du es merkst, wird es eingezogen und Beherzigung geworden sein.

Magda! Ich würde so nicht mit Dir reden, wenn ich nur im entferntesten glaubte, Deine Verstörtheit könnte anhalten, sich gar in Schwermut verwandeln; dazu glaube ich Dich zu gut zu kennen, und wie ich Dich kenne, bist Du gesund im Kern. Darum glaube ich felsenfest, dies ist eine von den Krankheiten, die zur Reinigung nötig sind. Das ist mein letztes Wort. Man muß nicht alles wissen wollen. Denn was heißt: alles? Nichts, heißt es, nur sagt man immer zu dem, was man grad haben will, »alles« und möchte an der ganzen Welt verzweifeln, von der man nicht das geringste weiß außer der Winzigkeit, an die man sich grad klammert. Das Notwendige ist nicht das, was man in dem und jenen Augenblick dafür hält, und ich sage Dir (Du weißt, auch ich habe schon mein, wenn auch bescheidenes Päcklein zu tragen bekommen) –: solange der Mensch nur imstand ist, über sich nachzudenken, solang er nicht über sich hinweg denken kann, solang ist er bloß ein grüner Frosch, der bei schlecht Wetter unten auf der Leiter hockt und wartet, bis er das Gutwetter in sich steigen fühlt. Sela.

4. Oktober

Gestern ließ ich den Brief liegen, um ihn mir heut noch einmal anzusehn. Ich merke nun freilich, daß ich alles bedeutend besser hätte ausdrücken können, aber lassen wirs schon so. Aus einem andern Grunde ist mirs lieb, den Brief heute noch dazuhaben; ich kann nun etwas von Irene hinzufügen, das so seltsam und schön ist, daß es, denk ich, auch Dir wohltun wird, es zu hören.

Gestern abend noch spät kam sie zu mir; sonderbar feierlich waren ihre Augen; ihr Wesen ließe sich musikalisch etwa darstellen: Portamento im Viervierteltakt. Sie zog mich hinüber in die Kapelle, blieb in der Mitte stehn, sah sich andächtig um und sagte: Ja, hier war es. Hier erschien sie. Dort, wo die Orgel steht, – die aber war nicht da, sondern ein goldenes, dunkles Wasser, in dem es sich bewegte wie von kleinen Gesichtern. Ich spreche von der Mutter Maria, sagte sie einfach (immer sagt sie Mutter, nicht anders). Letzte Nacht erschien sie mir im Traum, Lilien im Haar, aber sie war Ihnen ganz ähnlich. Und ich kniete hier an einem Betpult. Nun zog sie einen Vorhang zur Seite, und da wurde ein schlafender Mensch sichtbar. Ich konnte sein Gesicht nicht sehn, wußte nur, daß er krank war. Gleich wars finster, ich glaubte noch Orgelgetön zu hören, aber da wacht ich schon und wußte gleich, was dieser Traum bedeutete: ich sollte hingehn und den kranken Mann pflegen. Es war schon spät am Morgen, die ganze Nacht hatte ich gebetet, nun war mir so leicht, und dann hörte ich auch das Orgelspiel aus dem Traum ganz fern, – Sie warens, nicht wahr? – Ich nickte nur, so wunderbar schien mirs, daß sie, die von allen religiösen Dingen sonst immer mit soviel mystischer Schwärmerei gesprochen hatte, jetzt mit der natürlichsten Schlichtheit redete. Und wie das Natürlichste auf der Welt setzte sie hinzu: Mein Vetter Otto Herzbruch ist krank, Mama sagte es heut morgen beim Kaffee, es soll Lungenentzündung sein. Ich bin schon dort gewesen, seine Eltern sind tot, er wohnt bei seiner verheirateten Schwester; ihr Mann ist Arzt und sehr gut, ich darf dableiben.

Ja, was soll man dazu sagen? Es giebt natürlich zehntausend Kranke in der Welt, und ebenso natürlich ists, daß sie diesen einen zu pflegen hat, in Gottes Namen, ich habe ihr viele Küsse auf den Weg gegeben. Es wird schon gut für sie werden.

Darf ich Dir noch einen Rat geben, Kleines? Ich vermute, daß Du ziemlich untätig dahinlebst, es ist aber durchaus notwendig, daß Du Dich beschäftigst. Wie ist es nun mit Deiner Stimme? Sie muß kräftig genug sein, um die Anfänge der Ausbildung vertragen zu können, und gewiß giebt es in Böhne eine pensionierte Sängerin oder einen Kantor, der sie prüft, und bei dem Du anfangen kannst, atmen zu lernen. Willst Dus nicht versuchen? Mir zuliebe? Du weißt, wieviel ich von Deiner Stimme halte!

Daß wir Äpfel bekommen sollen, freut uns sehr, ich bitte um einen schönen Gruß und vielen Dank für Deinen Papa!

Leb wohl für heute! Sei geduldig und getrost!

Renate

 

Magda an Renate

Helenenruh, 10. Oktober

Liebe Renate!

Mir fällt ein, daß ich mich niemals für Dein schönes Bild bedankt habe. Das kam wohl, weil es mir gleich so vertraut war, nachdem es nur einen halben Tag auf meinem Schreibtisch gestanden hatte. Heut habe ich es Bogner gezeigt, und er sagte: Ach, du lieber Gott! – Du hättest es hören sollen! Als wenn das größte Unglück passiert wäre. Dann strich er immerzu mit der flachen Hand über das Glas, aber es wollte augenscheinlich nicht weggehn. Schön? fragte ich nur. Schön? sagte er. Schön wie Maria Stuart. – Warum denn die? frage ich erstaunt. Ein Stümper, sagt er, kann sie malen, und es wird immer ein Wunder bleiben. Dann fragte er, wie Deine Augen wären, und ich sagte, blau und auch grün und mit goldenen Tupfen. Und das Haar? Wie die Mähne von Rottraut, sage ich, – das ist mein kleines Pferd, ein Hellfuchs, aber Du würdest sagen, ein Brauner. Ach, du lieber Gott! seufzte er da nur wieder, mit dem Ton auf lieber, weißt Du! – – –

Ich will geduldig sein, Renate. Ja, das kann ich Dir versprechen, wie ich es Maler Bogner heut versprochen habe. Sein Bild von der Herzogin ist nun fertig. Als ich heut nachmittag in den Saal kam, wo er malt, um etwas Harmonium zu spielen – das mag er gern –, hatte er keinen Kittel an, und die Malsachen lagen alle so sauber und in feierlicher Ordnung wie heilige Geräte, mir aber gab er einen in rote Farbe getauchten Pinsel in die Hand und befahl mir ganz ernst, unten in die rechte Ecke, wo schon ein rotes Datum stand, ein Rad hinzumalen, das heißt, einen kleinen Kreis mit vier Speichen, was ich mit Herzklopfen tat, und er erklärte mir, das wäre sein Zeichen, eigentlich zwei B mit dem Rücken gegeneinander, ich aber dachte an das Rad im Angelus Silesius und sagte ihm den Vers:

Nichts ist, was dich bewegt, du selber bist das Rad,
Das aus sich selbsten läuft und keine Ruhe hat.

Und er sagte, das wäre ein guter Spruch, und ich sollte ihn beherzigen. Ich will doch versuchen, Dir das Bild zu beschreiben, denn es hat mich so – ich weiß nicht, eben wollte ich ›erschreckt‹ schreiben, aber es war fast: enttäuscht. Denke Dir ein ganz gelbes Bild, lauter Gelb, auch Braun und bräunliches Gelb, und denke Dir ein sehr breites Fenster, das niedrig scheint, weil der obere Rahmen nicht sichtbar ist; in der Mitte steht eine Säule aus gelbem Stein, und die Fensterbank ist auch dunkelgelb. Draußen sieht man ein Stück unseres Parkes, wie vom Fenster des Saales aus, hellgelbe Herbstwiesen und rotgelbe Bäume wie die verdorrten Eichenblätter im November und schweren, graugelben Himmel, und nun erst auf einmal sieht man den Kopf der Herzogin, der in der rechten Hälfte des Bildes dicht über der Fensterbank ist – als wenn das Fenster hoch in der Wand säße, und es scheint, als wäre sie plötzlich von der Seite ganz still herangetreten, um hinauszusehn, so daß man nur das dunkelbraune Haar und den Hauch vom Profil und ein Auge sieht, und ihr Kopf ist so groß und fremd geformt, und doch alles von so wunderbarer Ähnlichkeit, daß ich wohl deshalb so erschrocken bin. In der andern Fensterhälfte steht noch ein Blumentopf mit Goldlack; der ist so schön, daß man gar nicht wegsehn mag, wenn man ihn erst entdeckt hat.

O, und es ist ein solches Schweigen in dem Bild, solche Totenstille, obgleich jedes Einzelne so lebt und atmet, als wäre niemals eine Bewegung dort, kein Luftzug im Park, kein Windhauch an den samtenen Blättern vom Goldlack; als käme nie ein Mensch dorthin, als könnte nichts diese grenzenlose Einsamkeit stören, in die sie hineingetreten ist, die nun nie wieder zurück kann. Keine Zeit ist da, auch kein Licht, das wir kennen, es kommt aus den Dingen selbst wie auf ganz alten Bildern. Den ganzen Nachmittag habe ich davorgesessen und kaum noch gewußt, daß ich lebe.

Bogner war fortgegangen. Später hörte ich ihn wieder hinter mich treten und sah, daß er sein Skizzenbuch in der Hand hatte. Dann mußte ich eine halbe Stunde still sitzen, und er ging um mich herum und zeichnete mich von allen Seiten. Ich war recht ärgerlich, denn er sah so abgefallen aus, und nun wollte er womöglich schon wieder was Neues anfangen, als ich ihm aber etwas sagte, hörte er gar nichts. Hinterdrein stellte ich ihn dann, aber er meinte nur, das wäre so eine Angewohnheit, wenn etwas fertig wäre, gleich einen Grund für ein Neues zu legen. Es würde einem ja angst und bange, setzte er mit einem Blick nach dem Bilde hinzu, wie so etwas fertig und immer nichts als fertig wäre, das sollte der Teufel aushalten. Da schien mir auch das Bild auf einmal ungeheuer ernst und ganz drohend, und ich kann mir wohl denken, daß es schwer zu ertragen sein muß, so etwas gemacht zu haben.

Und nun denke Dir, von meinem Gesicht hatte er eine Unmenge Zeichnungen gemacht, manche so zart wie die Linien einer Meereswelle im Schlick, die flüchtigsten Neigungen und Verkürzungen, und andres wieder so hart und übertrieben, fast wie Karikatur; ein Stück Nase hier mit der Augenbraue daran so deutlich, daß ich vor mir selber erschrak, als wäre es aus meinem Gesicht fortgenommen, und dann wieder nur ein Ausdruck an einem ganz fremden Mund, von dem ich nie etwas gewußt habe ...

O Renate, Renate, was ist das mit der Kunst, ist sie wirklich so entsetzlich? Haben wir nicht auch etwas davon zu verstehn geglaubt mit unserm bißchen Zeichnen und Aquarellieren? Und dann erst die Menschen, die von den größten Dingen so reden, als ob sie sich von selbst verstünden, wie Papa, der bloß fragte – freilich war Bogner nicht dabei –, was denn wohl der Blumentopf da sollte, und warum man die Herzogin von hinten sähe, und der Kopf wäre ganz verzeichnet. Ach, und da greift solch ein Mensch in die Herzen hinein wie in Staub und macht wie der liebe Gott mit etwas Wasser ein Ding daraus, daß man sich nicht zu fassen weiß. Wie kommt er dazu, sage mirs nur, wie kommt er dazu, von mir solche Dinge zu wissen, und wo nimmt er denn nur das Recht her, dies alles von einem abzunehmen und hinzulegen wie – wie eine Apfelschale? Das ganze Schicksal, und ich glaube, er kennt die Kindheit der Herzogin wie seine eigne.

Ich aber komme mir doch wieder recht beschützt vor in seiner Nähe, denn er selber ist einfach, groß und stark, und ich muß dran denken, wie ich als Kind, wenn ich so allein war, mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als beim fürchterlichsten Regenwetter in dem Schilderhaus gegenüber zu stehn und nur durch das kleine Guckloch zu sehn, wie der große Posten draußen auf und nieder ging, Gewehr über und den Mantelkragen hoch geschlagen.

Gute Nacht! Dank für Irenes Geschichte, schreibe mir ja, was weiter aus ihr wird. Und grüße Deinen Onkel!

Deine Magda

 

Renate an Magda

am 15. Oktober

Liebstes Herz,

das hat mich sonderbar betroffen, was Du da von Deinem Maler, dem Bilde und von der Kunst geschrieben hast, und nun ist mir auf einmal die Bedeutung dieser unheimlichen Kälte aufgegangen, mit der C. F. Meyers seltsames Gedicht »Nach einem Niederländer« schließt. Hier hab ichs, erinnerst Du Dich? Zu einem holländischen Maler kommt ein Junker mit seiner geputzten Tochter, um sie malen zu lassen. Der Meister malt gerade »ein kleines zartes Bild«, und so schließt das Gedicht:

Sie treten lustig vor die Staffelei:
Auf einem blanken Kissen schlummernd liegt
Ein feiner Mädchenkopf. Der Meister setzt
Des Blumenkranzes tiefste Knospe noch
Auf die verblichne Stirn mit leichter Hand.

– »Nach der Natur?« – »Nach der Natur. Mein Kind. Gestern beerdigt. Herr, ich bin zu Dienst.«

›Mit leichter Hand ...‹ Ja, begreifst Du nun schon, weshalb Du so erschrocken bist vor dem Bilde der Herzogin? Das war das Mitleidlose. Das wars, daß Du einmal gesehn hast: der Mensch – im Dichter oder Künstler – mag schaudern vor dem, was er darzustellen hat, ob es nun fremdes oder eignes Leid sein mag; der Künstler bleibt ungerührt, der kennt kein Mitleid, der ist herzlos, der malt »mit leichter Hand«. Sonst sehn wir ja immer nur das Kunstwerk und nicht die Lebenswurzel, aus der es kam; nun spürtest Du einmal den sichern Griff der Hand, die ein Unbekanntes aus Deinem eigenen Antlitz nahm, – o nein, darüber sollten wir nicht erschrecken, sondern schön ist es, rein und wunderbar, weil es diesen Sinn hat, daß es Dinge giebt, ja, daß der Mensch wie ein Gott Dinge machen kann, die so voll Unschuld und Unwissenheit sind wie der Baum, der aus einem Grabe wächst, wie der Vogel, der im Baume singt. Ach, woher denn sonst diese Magie unsrer Musik, die uns nimmt und wegführt, ganz fort, von allem fort, weit hinaus über Frohsinn und Traurigkeit, über Gut und über Böse in ein Unschuldsland, wo das Herz allein glücklich ist. Wir können uns erlösen, siehst Du, wir können es, denn wir können – ach, braucht es denn immer Kunst zu sein? – wir können reine Taten tun, die von nichts wissen, vom Schicksal, vom Blut, vom Schmerz nichts wissen, und dies sind wohl die ewigen Gebete, die bis in Gottes Herz gelangen und ihm immer wieder sagen, daß wir Menschen es doch wert sind, daß er uns gemacht hat.

Nun ist tiefer Herbst; ein goldener Tag. Ich sitze am offenen Fenster, manchmal dreht ein kleiner Lufthauch die Blätter des aufgeschlagenen Buches um, draußen im Garten sind alle jubelnden Farben versammelt, mir ist so wohl, ich wünschte von ganzem Herzen, Dir abgeben zu können! Nun, wenigstens kann ich Dir so lange schreiben, wie ich will, und da ich nicht immer schön weise Reden halten kann, will ich Dir ein bißchen was erzählen.

Da bin ich gestern nachmittag in einem Jungmädchentee gewesen, und es war nicht besonders, bis ein Menschenkind sich an das Klavier setzte, das ich schon vorher heimlich beobachtet hatte, denn sie hatte Haltung und eine äußerst liebliche Sicherheit, hatte wundervolles, dunkelrotes Haar, porzellanene Haut und die kräftigsten Brauen. Setzt sich hin und spielt die Aquarellen von Gade, Gott bewahre uns! Und wie hat sie gespielt! Wie ein Dämon. Nicht etwa »seelenvoll«, oder mit dem, was man so »Temperament« nennt, sondern einfach mit einer unerhörten Rhythmik, die mich geradeswegs zittern machte. Dann das erste Präludium von Chopin, – wie ein Wassersturz. Hinterher sollte ich spielen, wagte aber natürlich nicht, die Tasten anzurühren. Und denke Dir, wie wir aufbrechen, kommt sie zu mir und fragt, ob wir nicht zusammen gehn wollten. Nun muß ich erst noch sagen, daß sie Ulrika Tregiorni heißt, das heißt, eigentlich heißt sie wie ihr Mann – ich hätte geschworen, sie sei unverheiratet – nämlich Hoeck, aber da sie sich beim Auftreten – sie ist Pianistin – mit beiden Namen nennt, so lassen ihre Bekannten meist den »Höcker« fallen, wie mir die Mädchen sagten. Lange spielt sie übrigens noch nicht öffentlich, sonst würde ich sie ja auch kennen.

Nun, wir kamen denn bald vom Hundertsten ins Tausendste. Sie sagte mir einfach, sie hätte von meiner Orgel gehört, und nun werde ich ihr heut nachmittag vorspielen (auf der Orgel hab ich ja Mut!). Vielleicht arbeiten wir dann miteinander und lehren uns alle Geheimnisse. Kannst Du Dir denken, wie ich mich freue?

Nun was Romantisches!

Ich steh mit dem Gärtner heut früh im Vorgarten, da kommt eine Droschke, hält, heraus steigt ein Riese mit einem weisen Turban als Kopf, dahinter mein Vetter Josef. Wer ist der Riese? Mein Vetter Erasmus. Und der Turban ist ein Verband; ein Auge zwinkert grad heraus, selbst das völlig verschwollen! Gott bewahre mich! Josef hinter seinem Rücken will sich totlachen. Ich, brennend vor Neubegier, will ihn ausfragen, da tut er entsetzlich geheimnisvoll: das könnte er mir nur in seinem Zimmer erzählen, – also was halfs? Ich mußte mit hinauf – hatt es ihm auch schon lange versprochen – und nun gehts nicht anders, nun mußt Du erst die Beschreibung hören.

Stelle Dir vor, Du öffnest die oberste Tür in einem Treppenhaus und siehst Dich einem großen, gotischen Fenster gegenüber, das entfernt von Dir steht, und das eine einzige, spitzgewölbte Fläche von unbeschreiblich milde leuchtendem, grünlichem Glase ist, in kleine, quadratische Felder geteilt und vom Fußboden bis nahe unter die Decke steigend. Ja, da stehst Du und staunst. – Das Zimmer nun liegt der Länge nach vor Dir, das Fenster steht in einem Erker: es scheint dämmrig, obwohl es in Wirklichkeit, wenigstens an lichten Tagen wie heute, schön hell ist, und da siehst Du in Deiner Nähe eine Vitrine, angefüllt mit den köstlichsten Porzellanen, und an den langen Wänden links und rechts sind Büchergestelle mit grünseidenen Vorhängen, die bis zu Schulterhöhe etwa emporreichen, und einen Fußbreit darüber hängen nebeneinander viele japanische Holzschnitte, uralte, von den erlesensten Tönungen. Ein großer, niedriger Tisch, rund und mit grüner, langzipfeliger Decke steht noch im Zimmer, ein paar tiefe Sessel darum und im Erker ein Lehnstuhl mit hoher und steifer Rückwand, grau bespannt voll Silberstickerei. Dahinein darfst Du Dich setzen und eins von den kleinen Quadraten in der schönen Fensterwiese aufmachen, dann siehst Du weit ins Land hinein, siehst weit hinten die Stadt mit Kuppel und Türmen in ihrem Rauch, siehst unten die großen Wiesenflächen und den Bahndamm und den ganzen, großen Herbsthimmel mit allen Wolken!

Du magst aber gehn oder stehn im Zimmer, wo Du willst, immer ist das unsagbare Grün, diese weite Fläche im gotischen Rahmen um Dich her, als wärest Du in einer Wolke, und wenn Du längst wieder draußen bist unter den gewöhnlichen Dingen, merkst Du es plötzlich an Deinen Augen und mußt mit der Hand darüber fahren, und es kommt Dir vor, als wäre alles milder geworden.

Das ist dieser Josef ... Nun aber höre Erasmus dagegen – das heißt, ich muß ganz von vorn anfangen.

Ein paar Meilen von hier wohnt auf ihrem Gute die steinalte Frau Rüdiger nebst ihrer Adoptivtochter Virgo. Onkel Augustin steht mit ihr in Verbindung wegen ihrer Rosenzucht, und wir sind einmal hingefahren. Der Gutshof ist ein schönes, altes Schloß, und sie kam uns in der Torfahrt entgegen, völlig unkenntlich freilich, denn sie trug Kniehosen, einen Jägerrock, uralt wie sie selber – klein aber sehnig – ein grünes Hütlein auf dem Kopf und rauchte eine kleine Pfeife. In ihrem Wesen war von alledem nun keine Spur, sie war eine richtige alte Frau, hat aber ihr Leben lang die eigentümlichsten Marotten gepflegt, wovon die eigentümlichste wohl die sein dürfte, daß sie Waisenkinder aufzog, und zwar nicht bloß so gewöhnliche, sondern gewissermaßen exquisite, nämlich Kinder von Verbrechern, Trunkenbolden, Hingerichteten und Gottwasweißich. Das letzte Kind war Ulla Steinbrech, die wurde selber umgebracht, denn sie war mannstoll, kriegte mit sechzehn Jahren ein Kind, ihre Pflegemutter zwang sie, dessen Vater zu heiraten, da gab sie ihm ein schleichendes Gift, und die Pflegemutter bestand darauf: sie mußte auf das Schafott. Ja, so war sie, nun ist sie sanfter geworden, die alte Rüdiger. Ihr jetziges Kind, die kleine Virgo, ist ein kleines, zartes Wesen von achtzehn Jahren mit den allergrößten schwarzen Augen und einem schwarzen Tituskopf, denn die alte Rüdiger kann lange Haare nicht leiden.

Nun aber hat sie sich – Virgo – vor einiger Zeit in einen Studenten, einen Italiener, einen Conte oder Marchese, verliebt (italienischer Adel, sagt Josef, wäre ›mau‹!), aber wie er ihre Pflegemutter um ihre Hand bittet, so sagt sie, es wäre ein Irrtum, daß sie Virgo adoptiert hätte, und sie bekäme dreitausend Mark im Jahr, worauf der Conte hinging und die Kleine zu einer Entführung überredete, aber wie sie in tiefer Nacht die Treppe zum Bahnsteig hinaufgehn, so kommt ihnen Virgos Bruder entgegen, gerade aus dem Vlissinger Schnellzug von Irland her.

Nun dieser Bruder, der hat auch seine Geschichte. Gestern brachte ihn der Erasmus, dessen Schulkamerad er ist, zum Mittagessen mit. Er erschreckte mich ein wenig, denn er ist ganz schwarz, hat eine fleischige Nase unter schweren schwarzen Brauen und eine merkwürdig schlanke und breitschultrige Figur; bald sah ich dann die tiefe Gutheit seiner Augen, und daß er einen schönen Mund mit schwingenden Rednerlippen und ein noch schöneres Kinn hat – Du weißt vielleicht, wie selten bei Männern ein gutes Kinn ist –, ein rundes, sorgfältig gedrehtes, und er ist eitel genug, sich eine schwarze Bartfräse darunter um den Hals zu hängen, was ihn merkwürdig verfinstert. Er ist mit zwölf Jahren dem Waisenhaus entsprungen, auf ein Schiff gegangen, später mit etwas Geld aus Amerika wiedergekommen, irgendwo in der Lehre gewesen, hat gleichzeitig Sprachen und Mathematik und was sonst nötig war, gelernt, um in die Sekunda des Gymnasiums zu gelangen, worauf sich wohl Erasmus' Vater seiner angenommen hat. Nun ist er nationalökonomischer Doktor, Volksredner, Sozialdemokrat und will in den Reichstag. O, tüchtig, tüchtig!

Die alte Rüdiger liebt ihn nicht, und er darf seine Schwester nur selten sehn. – Nimmt sie also bei der Hand und will sie schön nach Hause bringen, da springt der Conte dazwischen, und – wie Josef es ausdrückte – nachdem Klemens – so heißt er – ihn wieder aufgehoben hatte, gab es eine Forderung. Heute morgen sind sie mit Säbeln aufeinander losgegangen.

Das folgende ist nun schwierig zu erklären. Du weißt, daß bei Duellen Sekundanten gebraucht werden, deren Obliegenheiten mir dunkel sind, aber Josef hat mir erklärt, daß es bei studentischen Duellen möglich ist, daß die Sekundanten sich gegenseitig erzürnen und beleidigen, und daß es ein neues Duell zwischen ihnen giebt, das schnurstracks ausgefochten werden muß. Ach, weißt Du, Kindlein, das Ganze erinnert mich so herzlich an meinen guten Neger, hab ich Dir das mal erzählt? Wie ich in Genua auf der Kaimauer saß und aquarellierte und eine ungeheure Volksmenge sich um mich versammelte, vermutlich weil ich so weiß in Schleiern und blond war? Und wie sie zudringlich wurden, und plötzlich ein ungeheurer Mohr seine Jacke auszieht und auf die Erde wirft, sich die blauen Hemdärmel aufstreift und im schauderhaftesten Italienisch erklärt, daß es eine Schande wäre, eine Lady derartig zu behandeln, und dann anfängt zu boxen, daß es gräßlich anzusehn war? Ja, daran erinnerte mich der Erasmus, denn er war der Sekundant seines Freundes Klemens, und er und der Andre, sagt Josef, wären aufeinander losgegangen wie die Teufel. O Männer, o Männer!

Nun lebe wohl, Herz, ich hab mich ganz lahm geschrieben, hoffentlich bringt all der Unsinn Dich ein klein wenig zu Lachen. Lebe tausendmal wohl! In inniger Liebe Deine

Renate

P. S. Der Brief blieb versehentlich liegen; nun muß ich ihn doch noch einmal öffnen, um meiner Begeisterung für Ulrika Tregiorni die Zügel schießen zu lassen, die eben wieder gegangen ist. Sie hat mir eine Klavierbearbeitung der Violinchiaconna von Busoni mitgebracht (viel schöner als die von Brahms!) und vorgespielt, daß es mich einfach hinweggefegt hat. Dann kam meine Orgel, und Gott sei Dank, ein klein wenig ist sie auch weg gewesen, und so wetteiferten wir denn. Zwischendurch hatten wir die herrlichsten Gespräche, von Bruckner, den ich nicht kenne, von Bach und Beethoven, den sie immer nur den Nabob nennt. Das paßt auch vortrefflich, und Du hättest sie hören müssen, wie sie das erklärte, wie Beethoven eine solche Üppigkeit sei, gewaltige Weinberge, beladen mit ungeheuren und süßen Dingen wie mit riesigen Trauben, allein – denke Dir, sie gab im Herzensgrunde Bach den Vorzug, allerdings wohl nur aus Egoismus, weil Beethoven kein Klavierkomponist war. Du wirst sie bald kennenlernen müssen. Dann wirst Du eher wissen, als ich, warum sie ein Mädchen ist und keine Frau.

Und nun adieu!

 

Magda an Renate

24. Oktober

Es war nichts, Herz! Ja, ich bin lustig gewesen, ich habe sogar viel mehr über Deinen lieben Brief gelacht, als mir selber begreiflich war, das rächt sich nun, und mir ist wieder elend. Bogner gehts auch schlecht, er sitzt stundenlang vor seinem Bild und raucht und sagt, es wäre die größte Schande seines Lebens, und er verstünde nicht, wie er das jemals wieder gutmachen sollte. Und wie glücklich könnte er sein, er, der doch immerfort sein Leben in Werke umsetzt, der wie kein Mensch sonst sieht, daß er etwas gemacht, daß sein Tag nicht umsonst war, nicht umsonst die Schlaflosigkeit der Nächte, und Essen und Trinken und Sichanziehn, alles nicht umsonst, weil etwas da ist, das er gemacht hat. Wir gleiten so dahin, verbrauchen das Heute, um uns Kleider für morgen zu machen, und die Stunden fallen uns nur so aus der Uhr, – kling – klang, wieder eine abgelaufen.

Dann hat mir auch der arme Jason wieder einen Schrecken eingejagt. Er schien ja wieder ganz wohlauf zu sein, nur sprach er kein Wort und ging gebückt umher, die Hände in den Taschen, und schien eigentlich nichts zu sehn. Dann merkte ich, daß er immer vor sich hinmurmelt, und heut abend – jetzt ist es Nacht –, wie Vater und Bogner und ich bei der Lampe sitzen und lesen, fängt auf einmal seine Stimme im Schatten an, und er sagt ein wundervolles Gedicht, das ich leider vergessen habe. Nach einer kleinen Pause fängt er ein andres an, und dann hört er nicht wieder auf, und es war wohl eigentlich wunderbar, er sprach nur leise, aber mit solchem Ausdruck, daß die Worte leuchteten wie Früchte und Blumen, und dann wars der sanfteste Regen, und dann warens auf einmal nur noch Worte, und es ging immer geschwinder, atemlos, unaufhörlich, ganz monoton, wie ein Uhrwerk, bis Bogner endlich aufstand, zu ihm trat, ihm die Hand auf die Schulter legte und ganz ruhig sagte: Nun ists genug. – Da wagte ich erst, zu ihm hinzusehn, und er saß da, in sich versunken, aber sein bleiches Gesicht war mit einer solchen Verzweiflung, solcher Sterbensmüdigkeit und auch mit solch kindlicher Ratlosigkeit zu Bogner emporgedreht, als ob der alles wüßte und gleich helfen könnte, – o, es war schaurig! Da sagte Bogner, er sollte ihm nun einmal ruhig erzählen, was ihm eigentlich fehlte, und er blickte ihn auch ganz gehorsam an und sagte: Das Gedächtnis, nur das Gedächtnis. – Was denn damit sei? – Ja, sagte er, es hat alles gefressen. – Ach, Renate, es ist zum Weinen, wie kindisch er das alles vorbrachte!

später

Er sagte, er sei als kleiner Knabe einmal auf den Kopf gefallen, und daher sei es wohl gekommen, daß er alles, was er lese, behalten müßte, und was er zweimal gelesen hätte, das würde er nie mehr los. O, sagte er wieder etwas muntrer, ihr müßt nicht denken, daß dieses nicht auch seine Vorzüge hatte, nichts auf der Welt ist ohne Vorzüge, und ich zum Beispiel, ich spreche alle Sprachen der Welt. Ich habe sie alle auswendig gelernt. Und er erklärte uns das, und sagte auch, er habe ja den eigentlichen Schaden erst nach Jahren bemerkt, wie das immer so gehe, wie auch mit Kindern, die alle erst herrlich gefunden würden, und später taugten sie gar nichts. Aber erst, wie er schon fast erwachsen gewesen sei – ja, denke Dir, er ist schon über dreißig und sieht kaum wie zwanzig aus – habe es sich zu einer richtigen Krankheit entwickelt, einem Katarrh, einer Cholera, und erst in Zwischenräumen von Monaten, dann immer häufiger habe er Anfälle, die manchmal wochenlang dauerten, da gefalle es dieser Charybdis von Gedächtnis, alles Eingesogene wieder auszuströmen, und damit verfahre es ja nun ganz methodisch, indem es sich immer in gewissen Grenzen halte, mit kleinen, niedlichen Variationen, und wenns einmal Gedichte wären, so wärens ein andermal Dramen, auch halte es sich streng an die Sprachen und verwechsele Englisch niemals mit Finnisch, obgleich eins so greulich wäre wie das andre. O, stöhnte er dann laut, wenn doch endlich, endlich einer käme, der mir mit einem einzigen Beilhieb diesen Schädel entzweispaltet wie eine Nuß, daß ich das Ganze herausnehmen und zerquetschen kann, – aber – und da fiel er wieder zusammen – ihr habts ja nicht gewollt.

Ja, da bin ich freilich auch zusammengefallen und konnte nur noch in mein Zimmer hinaufgehn und mich aufs Bett legen.

Ich, Renate, ich, ich bin es doch gewesen, die ihn zweimal verhindert hat, sich zu erlösen, ich, in meinem Unverstand, ich habs nicht zugelassen, daß er sich ausruhn dürfte, und nun sage mir, ja, sage mir, wenn Dus weißt, wie ich das jemals wieder gutmachen soll!

Magda

 

Renate an Magda

Am 24. Oktober

Auf einmal, wie ich vor der Orgel sitze, sehe ich im kleinen Spiegel über mir, daß Irene mitten in der Kapelle steht. Ich breche ab, frage: Irene? Ist er wieder gesund? – Sie steht da, hat die Augen niedergeschlagen und lacht. Dann wird sie nachdenklich und sagt: Die Wege des Himmels sind außerordentlich ... Und lacht wieder. Ich ahne sonderbare Dinge und herrsche sie an: Steh Rede, Irene! – Was meinst du, fragt sie da mit tödlichem Ernst, ob ich ihn wohl heiraten soll? – Wie kann ich das wissen, Irene, du mußt doch wissen, ob du es willst! – Ja, ich will wohl, sagt sie, wenn das genügt, er will auch. – –

Ja, ja, Magdachen, die Wege des Himmels sind außerordentlich ...

Wobei mir einfällt, daß ich ganz vergessen habe, Dir von einem Freunde zu schreiben, ja, Freunde, kann ich wohl sagen, obwohl wir uns erst drei Tage kennen. Du siehst, er ist mir schon so gewohnt, daß ich vergaß, Dir von ihm zu erzählen. Wie er aussieht? – Er wird dreißig Jahre alt sein, ist ziemlich groß, aber mager, Kopf und Gesicht sind klein, aber zart, zart auch das blonde Haar und die Nase, die im Profil mit Stirne und Kinn eine schräge Linie bildet, und die hellblauen Augen sitzen ein wenig flach und sind länglich geschnitten. All das, mit der hohen Kopfform, ist ein wenig fremdartig, wie von einem mir unbekannten Volke. Der Ausdruck ist sehr ernst, sein Gehaben still, seltsam innig sein Lächeln. Ja, so sieht er wohl aus. Im Konzert blickte er mich vom weiten an, ganz ruhig, anders als die andern Menschen, und hinterher kam er, verbeugte sich und sagte irgend etwas wie: Er hätte das Gefühl, als ob er mir dienen könne, oder so. Womit aber? fragte ich, doch einigermaßen verwundert, worauf er mir freundlich meine Garderobemarke aus der Hand nahm und sagte: Augenblicklich wohl dadurch, daß ich Ihren Mantel hole. – So hatten wir uns kennengelernt. Auf dem Wege zu meinem Wagen waren wir schon so in ein musikalisches Gespräch vertieft, daß ich den Wagen wegschickte und den ganzen Weg nach Hause – gut dreiviertel Stunden – mit ihm zu Fuß durch die Nacht ging und nachher noch eine halbe Stunde vor dem Hause auf und ab, und dann hat er noch bei mir Tee getrunken. Möglicherweise ist es mein verstorbener kleiner Bruder Albrecht. Er spielt Geige, aber sein Beruf ist das nicht. Übrigens weiß ich nicht einmal, ob er einen Beruf hat; er bemerkte nur einmal gelegentlich, er beschäftige sich mit Geschichte. – – Ja – so: er heißt Saint-Georges. Den Vornamen weiß ich nicht, und es machte sich schon so, daß ich ihn Georges nannte.

Am 26.

Dies schrieb ich vorgestern, nun ist Dein Brief da, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn ich denken müßte, wenn ich fürchten müßte, daß die Dunkelheit jener Stunde, in der Du mir schriebst, anhalten sollte, so hielt ichs nicht aus vor Angst. Ich bitte Dich, schreibe mir gleich ein paar Zeilen, ob es so ist, dann komme ich sofort, es muß gehn, was nützt Schreiben! Ich muß bei Dir sein, und wenn ich Dir selbst nicht helfen könnte, so wüßte ich doch, daß Du nicht allein bist. Ich bitte Dich, schreib! In Liebe und Sorge

Renate


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