Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

Sonnenuntergang

In der Haustür am Ende des Flügels blieb Georg stehn; er mußte Atem schöpfen. Sieh, es dämmerte schon ... Still zog von rechts, vom Rasen her, der Sandweg vorüber, nach links zu den leeren Wiesen mit wenigen Baumgruppen hin. Gegenüber lag das Wäldchen stille und dämmrig; im Innern dunkelte es und wurde schon farblos. Hoch oben grünten noch die Wipfel, umrieselt, selbst verrieselnd, vom Licht. Georg ging nun vorsichtig um die Büsche und den Rasenstreif am Haus nach rechts, sah Annas lichtes Kleid drüben in der Dämmerung der Gebüsche, und von der Terrasse her den Maler über den Rasen kommen. Also tat Georg, als habe er es überaus eilig und fragte den Maler, vor ihm vorüberlaufend, zu seinem eignen Entsetzen, ob er auch mitwolle; er hörte ihn etwas von Kühen und »im Dunkeln ansehn« murmeln, rief ihm albernerweise zu, er möchte die Kühe von ihm grüßen, und lief weiter, doch hatte ihn durch diesen seinen Zuruf eine bodenlose Lustigkeit und ein teufelsmäßiger Mut überfallen, die ganze Welt zu umarmen, – was verschlug darin ein kleines Mädchen wie Anna! – Die sagte, als er herankam: »Da kommt der Mäusemörder!« und war scheinbar ebenso fidel wie er.

Während sie nun Seite an Seite die Allee hinabschlenderten, zerbrach Georg sich den Kopf, wie er es anstellen könne, sie – so ganz unauffällig, aus irgendeinem triftigen Grunde – beim Arm oder unterzufassen. Er mußte so tun, als ob irgendein Einfall ihn dergestalt erregte, daß er ihn herausschleudern und sie dabei zu fassen kriegen mußte, wie man so tut im Eifer des Gefechts, aber aus dem Nachdenken geriet er nur an die Frage, wie wunderlich das sei, daß er heute und jetzt einen Grund brauche, sie anzurühren, während früher ... Da riß er sich zusammen, wollte eben hervorstoßen – und ihren linken Ellbogen, der schon fast seine Brust berührte, so dicht ging er hinter ihr, erfassen –: Weißt du eigentlich, Anna, daß ich Herzog werden kann? Allein, im letzten Augenblick noch besann er sich und dachte, er behalte es besser für sich, bis sie ihm ganz gehöre, – und außerdem – dies alles schien ihm im Augenblick so unglaubhaft, so entlegen und auch so nebensächlich, daß er schwieg.

»Warum hast du denn eigentlich diesem Maler eine Rose geschenkt, he?« fragte er plötzlich zu seinem eigenen Erstaunen. Welch verfängliche Frage!

Sie blieb stehn und sah ihn an. Den Ausdruck ihres Gesichts verstand er nicht. Er schien so, als sei er nicht fertig geworden, Ansatz nur zu allem möglichen, liebevoller Vorwurf vielleicht, oder auch Spott ... Sie schwieg aber, warf die Schultern ein wenig und ging weiter, ja – und nun war der Frost und die Angst, – alles war wieder da.

»Hast du ihn denn nicht auch gern?« hörte er sie jetzt fragen und erschrak süß über die Verschleiertheit ihrer Stimme, über die Abbitte darin und die Demut, – was alles ihn anduftete aus ihrem unsichtbaren Gesicht, das sie abgewandt hatte von ihm, ohne es dabei aus seiner graden Richtung nach vorn zu bewegen ...

»Gern?« fragte er mit rauher Stimme. »Ach Anna –«

Jetzt, da wars! Er packte ihren Ellenbogen, den sie augenblicks krümmte, um die Hand an den Halsausschnitt zu legen, so daß sie im selben Nu untergefaßt gingen, während er eifrig und erregt redete:

»Weißt du, Anna, was ich an Bogner gelernt habe? Sag, hast du ihn wohl lächeln gesehn? Ja, aber hast du auch gesehn, daß er zwei Lächeln hat?« Sie schüttelte sacht den Kopf. »Eins mit dem Munde und eins mit den Augen, und das eine ist für die Leute, das andre für – also für seine eigene Seele, wenn sie lächeln muß, aber wie schön das ist, das hast du doch gesehn?« Sie nickte.

Da waren sie am Gatter und blieben stehn. Vor ihnen lagen die ansteigenden Wiesen dunkel, ergraut, im Zwielicht, hinter dem der durchsichtige goldene Westhimmel stand, höher in brennendes Weiß und Gelb und langsam über Weiß und himmlisches Grün in lichtes Blau überschmelzend, und Georg sahs und trank den Geruch der feuchten Wiesen und Blumen, während er weiterhastete mit Worten, Leib und Seele durchströmt vom Gefühl ihres Beieinanderstehns in der Einsamkeit und Enge des Wiesenlandes, in dessen breites Fenster diese sanfte Unsterblichkeit verglühender Farben hingelagert war.

»Nun höre«, sagte er. »In Jensens – Johannes Vau, nicht Wilhelm! – also in Jensens Gletscher kommt das vor, wie der Mensch, der Urmensch zum ersten Mal lächelt. Er jagt eine Frau – sie sind noch ganz wild, weißt du, und fressen sich – und wie er sie niederwirft und schon den Mund aufreißt, sie zu beißen, da läßt er den Mund offen stehn, weil er auf einmal sieht, daß sie ein Weib ist und so schön, – und das, sagt Jensen, war das erste Lächeln, das dann beibehalten wurde: er zeigt die Zähne, zum Zeichen, daß er nicht beißt, nicht beißt, verstehst du, ungefähr so, wie man sagt: Hunde, die bellen, beißen nicht ...«

Da ging ihm der Atem aus. Hätte er nicht den Mund geschlossen, würden die Zähne aufeinander geschlagen sein, und auch von dem, was er noch sagen wollte, war keine Spur mehr zugegen, nur eine eisige Leere im Gehirn, während er merkte, daß sie sich von ihm losmachte, an das Gatter trat und die Arme darauf legte. Er wußte nichts, als ebenso zu tun, und konnte nach einer Weile fortfahren.

»Und siehst du nun, dies erste Lächeln, dies mit den Zähnen, das ist – sagen wir Zivilisation, der erste Anfang des Menschen. Das Lächeln in den Augen aber, das ja nicht er allein hat, sondern wir alle, – wir sind ja nur gewohnt, auch gleichzeitig mit dem Munde zu lächeln, ja –« er trat näher zu ihr, – wie duftete auf einmal ihr Haar! – »ja, denke einmal nach, versuche einmal, wirklich zu lächeln, etwas Schönes zu denken und zu lächeln, dann tust du nicht wie auf der Straße, wenn jemand grüßt, der dich nichts angeht, daß du die Zähne zeigst, sondern es fängt in den Augen an, und sie ziehn sich zusammen, tus mal, tus doch mal ...«

Sie wandte langsam den Kopf herum, sah ihn an und lächelte. Ihre Lider zitterten, nun hoben sich bebend die Mundwinkel, schon wollte er sich darüber herstürzen, als sie plötzlich in helles Lachen ausbrach.

»Ja, du kannst bloß lachen!« sagte er trotzig, warf die Flinte am Riemen von der Schulter und hängte sie mit Nachdruck über den Pfosten, indem er sich von Anna abwandte. Und so blieb er stehn.

»Bist du böse?« hörte er sie nach einer Weile leise bitten. Erbarmungswürdiges Mitleid schnürte ihm die Kehle zu, aber er schwieg. Das Herz klopfte ihm im Halse. Was sie jetzt sagte, darauf kams an! – noch konnte er nicht, noch konnte er ...

»Soll sie da hängenbleiben?« hörte er sie nach einer endlosen Minute mit gewöhnlicher Stimme fragen.

»Ja!« sagte er.

»Ist sie geladen?«

»Ja!«

»Wenn sie nun wer findet, und sie geht los? Nein, nimm sie mal gefälligst mit!« befahl sie und schrie im selben Augenblick leicht auf: »Hu, da kommt schon was!«

Georg fuhr herum. Aus dem Buschwerk, links vom Wege, kroch raschelnd ein schwarzes Untier hervor, eine schwarze Kröte, groß wie ein Hund, und schleppte sich mühselig, von einem Fuß sich auf den andern werfend, dahin, – Artaxerxes, der schwarze Schwan; der eine Flügel schleifte am Boden nach.

»Ach Gott, ach Gott, das arme Tier!« jammerte Anna und näherte sich ihm, aber er reckte sich sofort auf, blähte sich, schlug mit dem gesunden Flügel, sperrte den blutroten Schnabel auf und fauchte.

»Früher fraß er mir aus der Hand,« klagte sie, »wenn die Leute krank werden, werden sie bösartig, Tante Irmintrut war auch so. Meinst du, daß er am Leben bleiben kann? Er wird sich doch erholen, und Futter bekommt er ja von uns. Versprich mir, Georg, daß er leben bleibt!«

Georg tat es gern, dem unseligen Tier nachblickend, das inzwischen weitergewatschelt war, hin und wieder zornig nach dem herunterhängenden Flügel hackend, wobei er dann vornüberfiel, bis er die Allee überquert hatte und ins Dickicht eintauchte und rauschend verschwand.

»Komm, laß uns gehn«, flüsterte Magda. Er nahm schweigsam seine Flinte wieder, öffnete das Gatter, und sie gingen wortlos durch das hohe Gras bis ans nächste Knicktor, einem aufrechten Brett über drei Stufen. Georg half ihr die schmale Treppe empor; oben blieb sie stehn, noch auf seine Hand gestützt, und rief: »O, ich kann die Sonne noch sehn! Gleich verschwindet sie im Dunst! Ach, welch herrliche Farben!«

Georg, emporblickend, sah ihren Kopf, der allein in das Licht ragte, hell gerötet Antlitz und Haar unter einer feinen Aureole goldener Härchen.

»Ach, Georg!« seufzte sie nach einer Weile aus tiefstem Herzen, »es ist himmlisch!«

»Was denn, mein Kind?« fragte er väterlich aus seiner Schattentiefe nach oben.

»Ach – alles!« sagte sie überzeugt, ließ seine Hand los und legte die freigewordene ihre auf seine Schulter, um drüben hinabzuspringen. Er folgte, ergriff einfach ihre Hand, und so schlenderten sie weiter, die Hände ab und zu im Gehen schwingend, wortlos; nur als sie die letzte Deichschrägung hinaufkletterten, meinte Georg, es würde Flecke geben.

Nun waren sie oben. Violetter Rauch lagerte über der See, die sie anatmete mit ihrer ganzen, riesigen Weite, darüber rötliches Gewölk, dann lange, feuergoldene und scharlachne Streifen, dazwischen ganz ferne, grüne, wie ewige Wiesen. Spiegelblank war die See, eine durchsichtige Glasplatte über einem milchigen, bläulichen Etwas, – doch nein, es war nicht die See, die war weit draußen, der rosige Streifen, das war die kleine Brandung, die rauschte, – und dies war nur der nasse Ebbeschlamm, der graue Schlick, der glitzerte, an vielen Stellen mit Lachen Wassers bedeckt.

Die unendliche Farbigkeit und die Stille verstärkten Georgs Beklommenheit. Leise sagte er: »Anna!« hörte ein schwaches: »Ja ...« und sah, daß sie das Gesicht ein wenig zu ihm wandte, ohne ihn anzusehn.

»Du hast so schöne Gedanken,« sagte sie auf einmal vor sich hin. – Sie meinte wohl das, was er von Bogner ...

Sie machte ihre Hand aus der seinen los. Die Sonne war verschwunden, überm Horizont ergrauten die Farben, aber seliger noch und tiefer und stiller schwelgten die andern ihre purpurne und lichtgelbe und silbergrüne Seele aus in die himmlische Leere. Es wehte stärker aus Nordwesten.

Und nun standen sie am Rande der Welt. Nur Farben, die sich wandelten, sich auslebten in Stille. Sie waren die einzigen Menschen, und dies war für sie eine ewige Aussicht in die andere Welt, die sich dort erging in Wesen der Farbe, die lächelnd ewige Spiele übten, nur leise lächelnd, weil sie wußten, es sahen zwei ihnen zu.

Georg empfand noch dies. Dann fragte er, süß fühlend, wie das Reuegefühl sein Herz umkrampfte:

»Bist du mir noch böse?«

»Böse?« fragte sie sinnlos und hob die Achseln. Auch ihre Stimme war halb erstickt. Und, o Gott, diese Bewegung der Schultern! Es übermannte ihn, – und wie sie atmete, so tief, so schwer, so unregelmäßig! Ach, noch nicht, noch nicht, noch diese Ewigkeit des Herankommens, des Zögerns, des Ahnens! Ihr Haar zu sehn, ihren Mund, in dem es zuckte, ihre Augen so von der Seite, den Blick darin, ihre Nase, ihre Wangen, in denen das Licht erlosch! – Da erfaßte er leise wieder ihre Hand, sie ließ sie ihm, sie drückte sogar seine Finger, und er hätte die Besinnung verloren, wenn er nicht hätte bemerken müssen, daß er dachte: Jetzt! – wie Bogner beim Eisenbahnunglück, aber die Sekunden verrannen, verrannen, und nichts geschah, bis endlich sein Kopf vornübersank und die Lippen auf ihrer Schulter ein Ende fanden.

Warm, – wie warm war das! Nun? – nichts! Ach, nur so liegen, so müde, so zum Einschlafen müde ... Bewegte sichs? Das Warme, Feste unter seinen Lippen bewegte sich leise – für einen Nu durchzuckte ihn die Seligkeit, daß er sie küßte, und daß sie es geschehen ließ, daß sie sich küssen ließ von ihm! – die geschlossenen Lider zitterten ihm, er fühlte ihre Schulter steigen, fühlte jetzt auch an seiner rechten Schläfe eine Berührung, ein leises Kitzeln, einen Hauch, ihr Haar ... und nun drückte es sich zusammen, nun fühlte er ihre Schläfe, sie ruhte auf der seinen, ach, ach! Sie hatte den Kopf auf seinen herabsinken lassen! Da nahm er ihre linke Hand, die er mit der rechten hielt, in die Linke, suchte ihre rechte Hand hinter ihrem Rücken, fand sie, legte sie langsam auf ihre Hüfte, vorsichtig und voll rasender Angst, hob endlich ihren Kopf mit dem seinen behutsam empor und ließ ihn an seiner Wange vorüber auf seine Schulter sinken ...

Ach! – – da war es nun! Ihr Gesicht, da lag es an seiner Schulter, ganz nah dem seinen, ihm zugewandt, mit geschlossenen Augen und nichts, nichts auf der Welt, das solchen Duft ausströmte, solch einen Odem von Süße aus seiner Kühle, die sich betrachten ließ, – die süßesten aller Wimpern, die herabgesenkten Lider, alles, so nah, so nah!

Und furchtbar zusammenzuckend preßte er sie mit aller Kraft an sich und fühlte ihren Mund mit den Lippen, fest und ganz kalt, einen fremden Mund, den er küßte, so daß sein lange schon steigendes Geschlecht sich bäumte, während die fremden Lippen warm wurden und weich und schmelzend und sich lösten und wieder kamen und in die seinen vergingen und er darin versank und nichts mehr dachte.

 

Mondaufgang

Georg merkte, daß Arme um seinen Nacken geschlungen waren, und tauchte aus der Versunkenheit nach oben und in die Umarmung eines weiblichen Wesens. Also dies war die Ewigkeit ... Er fühlte ihre Glieder, die an ihm hingen, ihre Brust, ihre Knie, welche an die seinen rührten. Er konnte seine Augen wieder aufbringen, er küßte ihr ganzes Gesicht trunken hundertmal aber keines war wie das erste. Plötzlich fühlte er sein Gesicht von festen Händen umgriffen, ihre Augen gruben sich in die seinen, überschütteten ihn mit einem Strom von Liebe, sie stammelte, die Lider sanken ihr, sie murmelte etwas von »fliegen« und ruhte aus. Die Augen waren wieder zu im stillen Gesicht, Georg blickte darauf nieder, als ginge drinnen etwas vor, das er sehen könnte, und nun bewegte sich etwas unter den Lidern hervor, drängte die Wimpern empor, glitzerte und rann, ein Tropfen, und ebenso jetzt aus dem andern Auge, und schneller kamen immer mehr unaufhaltsam geflossen. Sie weinte ja ... Als aber Georg sich wunderte, warum das so glänzte und blitzte, und das Gesicht nach der See hinaus wandte, erschrak er vor einem ungeheuer großen, dunkelgelben Monde, dessen runde, vollkommene Scheibe aus dem schwarzblauen, unsichtbaren Grunde in die mattblaue Luft rollte, aber still hielt, als er hinsah. – Wieder wandte er sich zu Annas Gesicht und sah in einem runden Tropfen, der an der Wimper hing, deutlich des Mondes winziges Spiegelbild.

Sie ließen sich los.

»Gieb mir dein Taschentuch,« sagte sie leise, »ich hab keins.«

Sie lächelte, als er's ihr reichte. Ja, da hatten sie auf einmal die Gebrauchsgegenstände gemeinsam. Waren sie so eines geworden, oder war es nur wie früher? ... Sie trocknete ihre Tränen, schneuzte sich und gab es zurück.

»Sieh, da ist ja der Mond«, sagte sie. –

»Und die Fledermäuse«, meinte er, da er einen Schatten durch den Mond huschen sah. Sie schaute ihn mit einem langen Blick an, warf sich ungestüm an seine Brust und brach in ein unendliches, schüttelndes Schluchzen aus.

Das ist so ... das ist so ... dachte Georg gerührt, ohne es ganz zu begreifen, streichelte leise ihr Haar und wunderte sich über den fleißigen Lornsen, der so spät noch die Mühle gehn ließ, die unfern im Norden stand, groß und schwarz in ihren riesig ausholenden Armen; gleichmäßig und eisern hieben sie im Kreis herum nach dem Monde, der sanft und ahnungslos oder jedenfalls unbekümmert dicht unter ihr heraufrückte und langsam golden und glänzend ward.

Annas Weinen ward ebenso langsam ruhiger und hörte endlich ganz auf.

»Frag nicht, warum ich weine,« bat sie nachschluchzend, »ich weiß es selber nicht. Komm, wir müssen gehn.«

Er war nicht dieser Ansicht, widersprach aber nicht, trocknete ihr Gesicht selber mit dem Tuch, küßte sie, und dann gingen sie umschlungen als ein Liebespaar, das sie nun waren, in der Richtung der Mühle, rutschten zusammen den Deich landeinwärts hinunter, küßten sich, gingen weiter, krochen durch eine Hecke und küßten sich lange. Auch wenn einer von ihnen etwas gesagt hatte, küßten sie sich, aber als sie wieder durch eine Hecke gekrochen waren und sich, im Aufrichten stecken bleibend, geküßt hatten, fanden sie sich drei Schritte hinter Maler Bogner, der dort in der Dunkelheit ganz still saß, glücklicherweise mit dem Rücken nach ihnen, auf einem Stuhlstock, der Betrachtung von zwei Kühen hingegeben, von denen die schwarze mit dem breiten Rücken nach ihm hin im Grase lag, während über ihren Beinen die andre stand, mit großen, geisterbleichen Placken, die Kinnbacken in mahlender Bewegung, den großen, töricht hochfahrenden Blick des dunklen Auges auf den Maler richtend, ohne zu merken, daß der Mond es sich auf ihrem Rücken breit machte. Welch seltsame Erscheinung im Dunkel der Wiesen! Rechts dahinter schwang die große Mühle aus ihrer Anhöhe in mächtiger Lautlosigkeit die Arme herum.

Georg, einen Augenblick betroffen anhaltend, wollte Anna stillschweigend davonziehn, aber da lachte sie leise, der Maler sah sich um, – oder er wollte es tun, doch sah Georg, daß sein Gesicht nach rechts gewandt stehenblieb, wo die Pappelreihe nach der Mühle hin führte, und dorthin blickend gewahrte Georg vor den Bäumen in den Wiesen eine Gestalt, die sich bewegte, schwarzweiß, oben mit einem Hemd, unten mit schwarzen Hosen bekleidet. Sie warf die Arme, als ob sie der Windmühle nachahmte, lief und –

»Wer ist denn das?« sagte Georg halb belustigt, »ist der verrückt?«

Der Maler stand auf und sagte: »Das ist doch al Manach.«

Indem stieß die Gestalt einen brüllenden Schrei aus, während gleichzeitig Georg sich am Arm ergriffen fühlte. Mit rudernden Armen, an denen die breitoffenen Manschettärmel flatterten, stürzte der Mensch auf die Mühle zu, laut schreiend und wahnsinnig. Der Maler setzte sich in Bewegung und lief, um ihm den Weg abzuschneiden, war aber ersichtlich zu weit entfernt, um zu verhindern – – ja, was denn, was denn? Wollte er in die Mühlflügel ...? Georg, noch immer verständnislos, starrte hin, der Maler lief wie ein Wiesel die Anhöhe empor, aber der Andre sprang in langen flatternden Sätzen gegen die Flügel hin, Georg erschrak, sie sausten wie schwarze Keulen herunter. Indem zerrte eine Hand an seinem Gewehrriemen, Annas Hand, die schon den Flintenkolben an die Schulter setzte, zielte und abdrückte. Klein und scharf peitschte der Knall und zerstiebte, oben warf die Gestalt im Rennen die Arme in die Höhe und brach zusammen, vornüber schlagend, während der eben heruntersausende Flügel mit sichtbarer Erleichterung an der andern Seite wieder hochschwang. Georg starrte das Mädchen an. Sie stand todblaß, schauderte, schwankte, schloß die Augen und fiel um. Er fing sie auf, ließ sie ins Gras gleiten, zog seinen Rock aus und bettete sie darauf. Sie lag still; wie eine abgebrochene Blume sah sie aus.

Georg blickte beklommen auf sie herunter. Er dachte, man müsse ihr Kleid öffnen, kniete neben ihr ins Gras, hielt aber inne, als seine Hand ihre warme Brust am Kleiderausschnitt berührte, – fast hätte er hineingegriffen. – Nun fing er langsam an zu verstehn. Sich umwendend, sah er oben undeutlich eine gebückte Gestalt, wohl den Maler. Was hatte sie denn getan? Geschossen, – aber wohl – – in die Beine geschossen ... Es war Schrot. Hatte sie das bedacht? Im einen Augenblick alles bedacht und ... Jählings entsetzt, sprang er auf und drehte sich schwindelnd. Etwas entfernt standen die beiden Rinder weit voneinander, drehten die Schwänze her und sahen sich um. Dann hob eine das Maul, ein dumpfer, klagender Laut kam hervor mit einem Stoß weißen Dampfs. Georg sah die Mühlenflügel groß und abgestorben herunterkommen und aufsteigen; sie begannen, vor seinen Augen sich zu vervielfältigen und zu flimmern, die Mondscheibe zog sich zu einer Reihe von ineinandergeschobenen, silberblanken Monden auseinander, und sein Blick fiel wieder auf die Liegende, die in ihrem blaßgrünen Kleid auf der dunklen Fläche lag, als sei sie vom Himmel gestürzt und er habe, zufällig des Weges kommend, sie hier gefunden.

Es ist ja wahr, schrie er innerlich, es ist wahr, sie hat es tun müssen, es ist ein Wahnsinn, was soll das heißen, wie kommt man auf so etwas, auf einen Menschen schießen, um ihn zu retten, und ich immer dabei, – aber sie mußte, sie mußte, es gab nichts andres, warum bin nicht ich darauf gekommen? Eben weil nicht ich verlangt wurde, sondern – verlangt? Ihm wurde unheimlich zumut, das Grauen schüttelte ihn jetzt, er warf bei erstickter Kehle den Kopf gegen den Himmel oben zurück und sah in der milchigen Blässe oben die Sterne, ein paar verlorene, weißlich flimmernde Tropfen. Er stammelte: »Anna! Um Gottes willen, Anna!«

Da schlug sie langsam die Augen auf, sah ihn seltsam erwacht und lange an, bewegte die Hand und hauchte: »Ist er tot?«

Georg warf sich neben ihr auf die Knie und schrie: »Nein! nein!« Legte den Kopf in ihr Kleid und glaubte, weinen zu müssen. Dann kam er zur Besinnung, sprang auf und sagte, so fest er konnte:

»Sei ganz ruhig, mein Herz, ich trage dich nach Haus.«

Sie lächelte schwach, er richtete ihren Oberkörper ein wenig auf, nahm seinen Rock vom Boden, zog ihn an, bückte sich und nahm sie auf die Arme. Einen Augenblick verwundert, daß solch ein Mädchenleib so schwer war, merkte er doch gleich, daß er ganz leicht zu tragen war, und eine Sekunde empfand er seine Körperkraft tröstlich. Also trug er sie über die Wiese davon auf den Sandweg zu, den die Pappeln bis auf den Hof des Verwalterhauses geleiteten, kaum drei Minuten zu gehn. Unterwegs rührte sie sich einmal, legte die Arme um seinen Nacken und das Gesicht gegen seine Brust. Einmal mußte er sich mit dem Rücken an einen Stamm lehnen und eine halbe Minute ruhn. So erreichte er das Haus.

Auf der Bank neben der Tür saß die alte Domina, glatthaarig, stand wortkarg wie immer in derartigen Fällen auf und ging ins Haus und die Treppe voran in Magdas Zimmer, wo Georg sie auf das schon zur Nacht aufgedeckte Bett legte. Sie ergriff seine Hand und küßte sie schnell und leise, plötzlich flammte die kleine Stehlampe mit grünem Schirm neben Georg auf dem Nachttischchen auf, sie schloß geblendet die Augen, während Georgs Blick auf das große alte Bild an der Wand fiel, einen grauen Stahlstich, – er hatte ihn lange nicht gesehn, diesen Engel, der ein totes Kind zum Himmel trug. Die Erinnerung an Magdas Mutter, die ein halbes Jahr nach der Geburt eines Knaben fast mit ihm zusammen gestorben war, zog durch ihn hin, während er sie flüstern hörte, er möchte zur Mühle gehn und ihr Bescheid bringen. Seltsam, dies kleine Zimmer in der Dämmerung ... das große, weißlackierte Metallbett mit dem langen Nachthemd schräg darüber, auf das er das Mädchen gelegt hatte.

Draußen vor der Tür im Dunkel stand er noch eine Minute, angeatmet vom Reinen, Duftlosen dieses Raumes hinter ihm, der anders war, sonderbar anders als jedes Zimmer, das er je betreten hatte.

 

Rheinweinbowle

Auf dem offenen, nur von Gebüschen und ein paar Bäumen umringten Hofplatz blieb Georg stehn, trocknete sich die Stirn und bemühte sich, etwas zu denken. Der Mond, von hier aus gesehn, stand hinter der Mühle, die gewaltig schwarz, mit zwei stillstehenden Flügeln wie ein riesenmäßiger Hase in weißlichem Glanze saß, der hinter ihr vom Monde ausstrahlte; schwarz stieg die lange Pappelreihe, sehr ernste Gestalten, von der Anhöhe den Weg herab.

Also es trifft ein, eins nach dem andern trifft ein, sogar an einem Tage, – ja, wird es nun noch eine Feuersbrunst geben? dachte er beklommen. Und sogar zum zweitenmal dieser al Manach! – Da setzte das Denken wieder aus, es war totenstill umher, in den Bäumen oben raschelte es, als bewegten sich dort Vögel. Georg ging durch die helle Mondesdämmerung auf die Mühle zu und die eiserne, schwarze Linie des Horizonts, über der weißer Flimmer in gelbliche und rötliche Hauche verging, und bei der Wegbiegung sah er wieder den Mond dicht neben dem Mühlkörper, klein und reinsilbern. Am Fuße der Anhöhe wurden auf einmal zwei schattenhafte Gestalten sichtbar, eine kleinere, dunkle, jetzt mit weißer Brust, daneben eine lange, graue, die langsam weißlich wurde, der Müllerknecht, der den al Manach auf den Armen trug wie eben er die Anna; Bogner daneben im Frack. Als sie sich begegneten, blieben sie stehn, der Christian grinste verlegen und sagte: »Da bringen wir ihn gebracht!« die Bürde wie ein Kind in den Armen höher rückend. Al Manachs Gesicht war wieder geschlossen und klein geworden. – Sie gingen nach Helenenruh zurück, schweigsam, nachdem der Maler erklärt hatte, der Schuß hätte sich über beide Unterschenkel ausgestreut, aber es sei wohl ganz ungefährlich und habe kaum geblutet.

Während die beiden Andern zum Gastflügel abbogen, ging Georg wieder zum Verwalterhaus, traf die Domina im Flur und trug ihr, da sie sagte, Magda schlafe, auf – falls sie erwachen sollte –, daß alles gut sei.

Auf die Terrasse zugehend, sah er ihre rechte Hälfte erleuchtet. Schatten mit beleuchteten Gesichtern saßen um den runden Tisch, in dessen Mitte eine Lampe mit buntgeblümtem Schirm brannte; ringsum war tiefe Nacht. Die Steinstufen hinansteigend, machte er seinen Schritt leise, um erst nachzusehn, ob seine Mutter noch da sei, doch entdeckte er nur das Gesicht seines Vaters hinter dem Tisch, der seitwärts saß, wie er pflegte, rechts von ihm den Leutnant in Grün und Rot, dann – nach einem leeren Stuhl – Annas Vater, der rauchend und verträumt in die Lampe blickte, die Oberlippe über den Zähnen wie stets etwas angezogen, so daß sie im Lampenlicht farbig blitzten; dann den Baschkirtseff, der weit im Stuhl zurücklag und mit gedämpfter Stimme etwas zu deklamieren schien. Georg, über das Geländer der Treppe emporgereckt, blieb eine Weile stehn, willenlos versinkend in diese friedliche Gesellschaft. Auch den Rücken von Onkel Salomon entdeckte er nun dicht hinter der Brüstung; er saß, Georgs Vater zugewandt, gebückt, schräge zum Tisch. Dunkelgrüne Römer standen vor jedem, jeder leise an einer Stelle der Wölbung und der Riffelung des Fußes blitzend, noch im Schatten; der bunte Schirm ließ nur einen kleinen Kreis in der Mitte des Tafeltuches hell. Gläserne Aschenschalen glänzten farbig hier und da; seltsam rötlich waren alle Gesichter. Sekundenlang festgebannt, schien es Georg unmöglich, nur eine Bewegung zu machen oder das Gesicht abzuwenden. Erst als er den Mimen mit steigender Stimme sagen hörte: »Unchristlich oder christlich!« und weiter:

»Ist doch die Welt, die schöne Welt
So gänzlich unverwüstlich!«

ergriff ihn der Ärger, daß sie hier saßen und Verse deklamierten, dieweil ... Also scharrte er mit den Füßen, um sich hörbar zu machen, und stieg die letzten vier Stufen hinan.

Alle wandten die Gesichter ihm zu, der Leutnant stand auf.

»Na endlich!« sagte sein Vater und, ein wenig ironisch: »Es ist wohl nicht besonders ersprießlich, im Düstern zu jagen!«

Der Schuß war also gehört worden ... Einen Augenblick unfähig, etwas zu sagen, fühlte Georg das eben Vorgefallene auf einmal verschwinden, ihm entgleiten, als habe er es geträumt, und er mußte sich wahrhaftig besinnen, ob es gültig sei, um davon zu reden. Wieder von dem Gleichmut und der Ahnungslosigkeit der Dasitzenden geärgert, fing er an: »Es ist etwas sehr Seltsames geschehn ...« merkte jedoch, daß eben diese Worte nun gänzlich alles Erschütternde und Fremde und Unheimliche fortnahmen. Wenn es sich schon erzählen ließ, was war es denn? Allein – ließ es sich denn erzählen? – Nun fuhr er geärgerter fort:

»Dieser al Manach – – er wollte in die Windmühle laufen, oben, Lornsens Mühle, und weil wir zu weit weg waren, hat Anna, Magda, ihn in die Beine geschossen, mit meiner Flinte.«

Er schloß, die Zähne zusammenbeißend, weil er fühlte, daß er lachen wollte, unweigerlich lachen, o, war es nicht zum Tollwerden! Und da saßen sie alle und lächelten.

»Bitte, Chalybäus,« sagte er kalt, »ich habe sie in ihr Zimmer gebracht, sie wurde ohnmächtig hinterher, stören Sie sie aber nicht, sie schläft jetzt.« Ja, da konnten sie ernst werden! »Wollen Sie so gut sein und Doktor Reiß telephonieren, damit er nach Herrn al Manach sieht.«

Nun fing Chalybäus an zu lamentieren, war drauf und dran, dem Herzog Vorwürfe zu machen, daß er Verrückte beherberge, besann sich und jammerte über seine Tochter, die auch verrückt geworden wäre. Einen erwachsenen Menschen in die Beine zu schießen! Und was zum Teufel sie sich um fremde Selbstmörder zu kümmern hätte; worauf ihn ihre Ohnmacht bis zu Tränen rührte, und er bedauerte das mutterlose Kind, dem er die Hüterin nicht ersetzen könne ... Dann wollte er sich von keiner Macht auf Erden abhalten lassen, an ihrem Bett zu sitzen und ihre Hand zu halten. – Onkel Salomon war unterweil schon im Haus verschwunden, Georg sah im Schreibzimmer das Licht aufflammen, dann ihn selber zum Schreibtisch gehn und den Telephonhörer abheben. Der große Chalybäus trank sein Glas aus und ging mit großen Schritten davon. Georg rief ihm nach, Doktor Birnbaum telephoniere bereits, und dann wurde es still. Der Leutnant füllte leise ein Glas aus dem, neben der Tür auf einem Tischchen stehenden Bowlenkübel und setzte es vor Georg auf den Tisch, der selber gedankenverloren auf den Stuhl davor glitt. Indem er trank, hörte er die hellen, rasselnden Schläge der Uhr im Turm, zählte zehn und dachte erschreckt: Erst zehn Uhr? Eine Stunde seit dem Essen? Was war denn alles seitdem? Ach, ich habe sie geküßt, sie liebt mich, wir lieben uns, das ist nun alles vorbei ... Sein Vater fragte einiges, er antwortete und trank in kleinen Schlucken das süße und eiskalte Weingetränk, allein plötzlich ertrug er das Dasitzen nicht, stammelte eine Entschuldigung, sprang auf, lief die Treppe hinunter und in den Park in der Richtung des Weihers.


 << zurück weiter >>