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Drittes Kapitel

Kaffeehaus

Fast alle Räume waren von Gästen leer. Hier und dort stand ein Kellner und las die Zeitung, und richtig, als Georg durch die große Glaswand den Mittelraum betrat, stand in der offenen Türe links Frithjof in schöner Attitüde, einen Fuß überm andern, den Ellbogen gegen den Rahmen gestemmt, die Hand am Hinterkopf, gesenkten Blicks verloren in Betrachtung. Doch zog er bei Georgs Anblick erstaunt und doch achtungsvoll die Lider empor, machte sich aus sich los und kam auf seinen Plattfüßen eifrig und wackelnd herbei, den Mund wie stets in Falten ungeheuren Ernstes verzogen.

»Durchlaucht,« flüsterte er, Georg Schirm und Mantel abnehmend, »wieder zurück?« Und als Georg auf der rotsamtenen Sichel des Ecksofas Platz genommen hatte, beugte er sich zart und vertraulich über den runden Marmortisch und raunte: »Zu Hause ists doch immer am besten!« Er lächelte. »Was sag ich?« Er lehnte sich triumphierend zurück und lachte voll Stolz. »Na, is es nich so?« Und da Georg nickte und lachte, schloß er befriedigt ab: »So ist es!« völlig mit Georg in Übereinstimmung.

»Was solls denn sein, Durchlaucht? Pilsner, Münchener, Kulmbacher?«

Georg bestellte drei Eier im Glase, Butterschnitten und ein Kulmbacher. – Merkwürdig übrigens, dachte er, wie man am Gewohnten hängt. Ich hätte im Hotel ganz einsam essen können, – freilich, aus welcher Fremde komm ich! ja, das spür ich erst nun, wo dies hier mich so heimatlich berührt! Herztröstlich klang ihm da Frithjofs alte Stimme nebenan, der an der Theke: »Ein Kulm!« sagte. – Er griff nach einer daliegenden Zeitung, stellte sie sich mit dem Griff in den Schoß, blätterte sie auf, ließ sie gegen die Tischplatte sinken und glitt durch sein eigenes aufblühendes Lächeln wie durch ein zitterndes Gewebe von Süße hinunter ins Dunkel seiner Seele, wo in einem Kranze von Abenteuern Renate lieblich stand, eine verzauberte Säule, eine Karyatide, eine Galatee ...

Danach aß er und trank, unbekümmert wieder, versöhnt mit den äußeren Geschicken, künftiger Entzückungen gewiß. Nahe vor ihm sah er die roten Fische im grünen Wasserdickicht des großen Aquariums an den Glaswänden auftauchen und wieder verschwinden. Der sechseckige Riesenkasten stand auf einem, von kleinen roten Sofas umringten Unterbau, die jedes einen ganz kleinen Marmortisch, oval, wie mächtige Eier, und gegenüber zwei Stühle vor sich hatten, und aus einer, im Wasser halb verborgenen Pyramide von Tuffsteinen stieg ein feiner Wasserstrahl. Diese ganze Üppigkeit städtischen Wesens erfüllte Georg mit Beruhigung. Springbrunnen, Wasserwildnis, Fische, Marmor und roter Plüsch – das war so viel für das Gemüt, das arme Wesen, das er recht deutlich auf der untersten Stufe seines riesigen Seelentempels sitzen sah, so klein, daß eine einzige Stufe für es höher war als ein ganzes Haus, und dort hockte es in seiner Dürftigkeit und Unbestimmlichkeit, da nicht im entferntesten zu erkennen war, ob es eigentlich einen Hund vorstellte, einen Zwerg, einen Frosch oder einen Zaunkönig.

Aber war dies nicht jener Montfort? Da kam er hinter dem Aquarium zum Vorschein, seltsam anzusehn in einem kurzen sandfarbigen Mäntelchen mit hochgeschlagenem Kragen, einen steifen schwarzen Hut tief in die Stirn gerückt, die Ellenbogen eng an den Hüften mit etwas gezierter Haltung, einen dicken braunen Stock von knotiger Bambusart unter den Arm geklemmt. Nach einem Platz unendlich hoffärtig umherspähend, übersah er Georg, trat links in die offene Tür und verschwand, während nun hinter dem Aquarium etwas Anderes, weitaus Prächtigeres zum Vorschein kam: den unteren Saum eines scharlachroten Mantels über die linke Schulter geschlagen, auf leichten Füßen, sehr schlank, auch groß, – sehr frei und beweglich im Hierhin- und Dahinschaun den kleinen Kopf mit glattschwarzem, von Stirne und Schläfen straff zurückgespanntem Haar drehend, – groß-, braun-, klugäugig, – ein Mädchen, wie es schien. Aber das schönste war, daß dieser leichte Kopf über dem Scharlachtuch sich von einem groß hinter ihm stehenden, schwarzen und goldbestickten Stuartkragen abhob. Wenn sie zu diesem Montfort gehört, dachte Georg, so hat er das entzückend gemacht.

Montfort kehrte indessen zurück, erkannte Georg, zog den Hut und trat heran, um Erlaubnis bittend, sich niederlassen zu dürfen. Richtig: Georgs Wunsch erfüllte sich, sie gehörte zu ihm, er wurde ihr vorgestellt, konnte ihr beim Mantelablegen behülflich sein, ein schönes Kleid von matterer Farbe unter dem fallenden Scharlach hervorkommen sehn, schließlich die Biegung des Sofas mit ihr teilen. Auch sah er nun, während sie sich lächelnd und mit einer gewissen Bereitwilligkeit zurechtrückte, die kindliche Rundung ihrer Stirn, die übervolle Schwellung der Lippen in der Mitte, deren obere ein wenig emporstand, und vor allem die außerordentliche – ja, die höchst erstaunliche Rundheit ihrer Brauen und Augen, die, in ihrer wundersamen Offenheit dasitzend, dem ganzen Gesicht das eigentümlichste Aussehn verliehen, und sie erinnerten ihn – – schnell, woran erinnerten sie denn? Jawohl, jawohl: an den Hund in Andersens Märchen vom Feuerzeug mit den Augen so groß wie Teetassen.

Montfort, kaum ihnen gegenübersitzend, auf eine unerhört nichtachtende Art umherschauend, die Streichhölzer an sich ziehend, um eine große Zigarre zu entzünden, sagte:

»Was meinst du zu kleinen Hunden, Käthe, die ins Wasser geworfen werden?«

Er blies einen Dampfstrudel, schob Georgs ›Jüngling‹, den der bis hierher geschleppt hatte, von sich, lehnte sich zurück, als habe niemand etwas gesagt, am wenigsten er selber, und schlug die Beine übereinander. – Nein, dieser Hundevergleich, dachte Georg, war doch gar nicht passend, denn wie weich war das Fleisch ihrer Wangen unter sehr zarter und klarer Haut. Ein erstauntes Waldwesen, ein langhaariger Windgeist, eine Dryade – ja, das schien sie zu sein.

»Hunde, Josef?« erwiderte sie, bei großer Bereitwilligkeit leise besorgt, während Georg sich plötzlich in ungemeiner Heiterkeit befand. Frithjof stand, mit ernster Würde auf Montfort herunterblickend, den Mund in Falten, als ob er daran kaute, und nur das eine Augenlid schlief teilnahmslos und unbeweglich.

»Was solls denn sein, Herr Baron?«

»Pilsener, und eine Melange, nicht wahr?«

Sie nickte. »Ein Mellansch,« wiederholte Frithjof und watschelte davon mit Gravität.

»Hunde,« sagte Montfort, Georg ins Auge fassend, »die von ihren Herren zum Schwimmen ins Wasser geworfen werden. Man sieht sie an Sommerabenden um die Teiche stehn, groß und dick, diese Männer, Hausbesitzer mit Uhrketten auf dem Bauch, und die Hunde sind klein, weiß und unmäßig eifrig. Sie schwimmen atemlos nach einem unsichtbaren Gegenstand, sie klettern heraus, schütteln sich und stürzen auf Befehl wieder ins Nasse. Schamlose Gesellen sind das!«

Die Bereitwillige sagte: »Es sieht doch aber so niedlich aus, wenn sie –«

»Genau deine Worte brauchte meine elfjährige Muhme Elsbeth, als mein damaliger Hund einen andern bestieg und ich dazwischenfuhr,« sagte er eiskalt. Sie senkte geschlagen den Kopf und setzte sich zurück, dieweil er, seitwärts blickend, eine alte Blumenfrau gewahrte, die ihm eine Hand voll gelber Tulpen hinhielt. Er ergriff sie sorglos, legte sie vor seine Dame auf den Tisch, griff in die Hosentasche, holte etwas heraus, das er der Blumenfrau in die Hand drückte, saß und lächelte leise und gütevoll auf seine Zigarre hinunter. Sie legte langsam eine Hand auf die Blumen; Georg sah, daß sie zitterte. Hier, dachte er, hier ist nun sicher etwas nicht in Ordnung.

»Erzählen Sie mehr von Hunden!« sagte er mit Entschlossenheit.

Daraufhin, herzlicher lächelnd, blickte der Andre ihn an und begann, leichtherzig loszureden.

»Ist es Ihnen niemals folgendermaßen ergangen?« fragte er. »Sie setzen sich um einen Tisch, zu Dreien oder zu Fünfen, und nun? Nun muß was geredet werden. Das Karussell muß in Gang, wer, ist die Frage, holt jetzt den sicheren Haken aus der Tasche? Auf einmal ist er da. Hat Sie's nie geekelt vor dieser Verläßlichkeit des Sinnlosen? Also, da es völlig sicher war, daß Einer von uns Beiden hier diese Geschichte von den zufälligen Familien ergriffen hätte, worauf zweifelsohne, da Frau Ring beim Theater gewesen ist und eben aus dem Theater kommt – (Frau? dachte Georg. Beim zweiten Mal ists immer gelogen!) –, das Gespräch auf die hiesigen Theaterverhältnisse gekommen und von dort über Schnitzlers gerade gegebenen Anatol auf seine übrigen Werke und so weiter mit vollen Segeln in den Ozean der Literatur hinausgefahren wäre – so habe ich im Gegenteil von Hunden angefangen.«

»Und nun, – wars der Mühe wert?« fragte Georg belustigt, allein Montfort hörte es gar nicht, legte die Hand zu ihm hin über die Marmorplatte und fuhr lebhafter fort:

»Dabei giebt es die köstlichsten Dinge, von denen zu reden wäre, liebliche, verborgene, kleine, erfreuliche Sachen, die aber jeder für sich behält, als könnte man sie ihm beim Vorzeigen entwenden, denn wir sind ja schamhaftig und haben alle kein Herz voreinander. So kommt es dann, wenn das Herz einmal mit einem rechten Ungewitter zusammenstoßen und gebraucht werden soll, daß ein jeder hülflos dasteht und fragt, wie mans verwendet. Ich habe eine alte Tante,« sagte er, immer herzlicher lächelnd, »eine ganz entsetzliche Person, die zu nichts auf der Welt je gut war, und wir zanken uns, sobald wir uns zu sehn bekommen, jedoch in den geschliffensten Umgangsformen. Aber eines Abends sind wir uns in den Anlagen begegnet, wir sahen uns schon von fern, und da wir grüßend aneinander vorübergingen, so lachten wir uns Beide freundlich an und sagten: Sieh! und: Kuckeinmal! und es war uns Beiden erfreulich.« Er endete, legte die offene Hand auf die Stirn und strich kräftig mit ihr über das Gesicht bis zur Oberlippe hinunter, so daß es faltig und gehagert zum Vorschein kam.

Georg in seiner steigenden Heiterkeit hatte derweilen schon von weitem Frithjof daherschaukeln sehn, einen riesigen Kuchenaufsatz mit drei Schalen übereinander auf der linken Hand, während er, Daumen und Zeigefinger der rechten um das Bierglas krallend, es mitsamt seinem Untersatz auf einem kleinen Nickeltablett festklemmte, auf dessen anderm Ende das Glas Milchkaffee sein Zuckerschälchen als Deckel trug, und dazwischen war tiefen Ernstes das würdige Gesicht mit seinem stoppelschwarzen, fest gegen die Brust herabgedrückten Kinn. Sonderbare Tätigkeiten verübten die Menschen doch allen Ernstes ... Aber Georg, der Montforts Freundin darauf aufmerksam machen wollte, bemerkte erschreckt, daß sie zurückgelehnt dasaß, das Gesicht ganz zur Seite von ihm abgewandt und in sich versteift; doch rollte nach einer Weile eine Träne aus dem, Georg sichtbaren Auge über die Wange und fiel auf ihre Brust. Ihre Hand auf der Tischplatte war so fest um die schilfgrünen Blätter und Stiele der Blumen gekrampft, daß die Knöchel weiß hervortraten.

Unwillkürlich fiel Georg, der sich hastig fortwandte, Anna ein und im Augenblick danach Renate; dies war, als erhielte er einen Paukenschlag mitten auf die Brust. Es flimmerte vor seinen Augen. Langsam erschien dann der Kopf des Dostojewski auf dem Buche unter ihm, und er fing an zu sprechen, willenlos:

»Da Sie von zufälligen Familien sprachen –«

»Also doch, Durchlaucht, muß es denn sein?« fragte Montfort trüb und verdunkelt. Georg brauchte Sekunden, bis er begriff, daß Montfort ja gerade nicht von dem Buche hatte anfangen wollen, lächelte verlegen und sagte:

»Sie sehen eben: auch im Kleinsten läßt die Welt sich nicht regieren. Herr Bogner und ich sprachen in der Bahn mit einer Dame über Familienzufälligkeit. Wir kamen dabei –, Sie kennen vielleicht auch meinen Freund Prager?«

»Prager?« Josef erinnerte sich mit leiser Erheiterung. »So – ist das eine zufällige Familie? Ja, es giebt ja tausend heute.«

Er schien nun bereit, einzuschlafen. Georg aber hielt ihn wach, es vermeidend, Frau Ring anzusehn, zu der Josef, hinter der Tischplatte zusammensinkend, hin und wieder einen ernsten, nicht ungütigen Blick hinüberschickte.

»Warum meinen Sie?« fragte er. Josef ermunterte sich.

»Es wird am Besitz liegen, denk ich. Oder am Nichtbesitz. Es fehlt die Haltung.«

Georg, innerlich etwas beschämt, zitierte sich selbst:

»Besitz verleiht Sicherheit, meinen Sie, und Sicherheit Haltung ...«

»Ja, gewiß. Sie haben ja alle nur Geld –«

»Den einzigen Nichtbesitz ...«

»– von dem aber alle abhängig sind. Alle sind abhängig, alle Väter. Der Anwalt von den Klienten, der Beamte von den Vorgesetzten, der Kaufmann von der Kundschaft. Nur die Ärzte haben, wohl vom starken Verkehr mit dem Tode, ein wenig Haltung und umgängliches Wesen bekommen. Und der Kaufmann ist immer nur Zwischenhändler, vertreibt Lebensmittel oder Maschinengefertigtes, ohne es handgreiflich besessen, also ohne es be- oder verarbeitet zu haben. Also fehlt Zusammenhang und die Ehrfurcht vor sich selber. Es muß einmal Ideal eines Sohnes gewesen sein, zu werden, innerlich und äußerlich, was sein Vater ist. Heut ist es das Ideal aller Väter, daß ihre Söhne was Besseres werden. Mütter sitzen unselig dazwischen und müssen vermitteln von früh bis spät. Nun, darüber könnte man stundenlang reden.« Montfort gähnte geheim mit geschlossenem Munde.

Georg sagte leise, während Josefs Freundin aufstand und hinausging:

»Die Frauen sind so viel besser als die Männer ...«

Sie schwiegen. Montfort saß zurückgelehnt in äußerst dekorativer Attitüde, warf aber nun plötzlich den Rest seiner Zigarre in den Aschenbecher, ließ das Gesicht auf sein geleertes Bierglas herabhängen und sagte, unterm Tisch eine Zigarette hervorzaubernd:

»Ahnen Sie wohl, wie recht Sie haben? Frauen sind immer gut. Alle haben sie die Bereitwilligkeit in sich, gut und nur gut zu sein.« Dies sagte er ernst und mitleidig, lenkte aber nun auflächelnd ab und sagte: »Jetzt sind sie ja nun in diese merkwürdige Behinderung geraten.«

»Ach,« meinte Georg leichtherzig, »das wird vorübergehn, nicht wahr? Gewisse Verhältnisse, nicht wahr, mehr sozialer als humaner Art, haben sich zu schnell geändert –«

»Und die Frau, meinen Sie, hat es nun einmal an sich, überall zu spät zu kommen ...«

»Natürlich! Und nun stehn sie da ratlos zwischen Altem und Neuem, sehen auf einmal Widerstände überall, übertreiben es alles, wie sie ja immer gern tun, und nun sollen sie ja auch kämpfen, nicht wahr, sie, die bisher immer nur beschwichtigt haben. Da weiß keine, wie man das macht.«

»Die Ritterlichkeit, ja, die einmal zum Kämpfen gehört ... die haben sie immer nur erfahren und niemals selbst angewandt. Sie haben ein gutes Herz, Prinz, woher wissen Sie das alles?« fragte er plötzlich. »Zur Belohnung,« fuhr er ernsthaft fort, »sollen Sie einen Spruch geschenkt haben, den besten, den ich weiß.«

»Nun?« fragte Georg, leise geschmeichelt.

Montfort sah ihn durchdringend an.

»Erhalte dir dein Herz, sagt Salomo, denn aus ihm kommt das Leben.« Darauf erhob er sich, die Hände vor sich aufstützend, und ging langsam hinaus.

Georg suchte fiebernd nach Renates Augen in seltsam verschleierten Tiefen. Der starke Honigduft in der Büchse seines Herzens war sehr flüchtig geworden. Dann kehrte Frau Ring, leicht auf federnden Füßen, zurück, setzte sich und fragte heiter: »Nun, haben Sie von mir gesprochen?«

»Nein, mein Kind,« sagte Montfort, hinter ihr an den Tisch tretend, »wir sprachen vom Überhandnehmen der Kinos wegen der geistigen Faulheit der Männer.«

»Ach, bitte,« bat sie ängstlich, »nicht vom Kino, Josef, du weißt doch, ich kanns nicht –«

»Sie kommt vom Theater,« erläuterte Montfort friedlich, »daher die Voreingenommenheit. Durchlaucht, was denken Sie vom Kulturwert des Kien–«

Frithjof brachte ein großes Wasserglas herbei, und alle drei sahen zu, wie das Mädchen die schönen, eirunden und eigelben Blumen mit den schilfgrünen Stielen hineinstellte. Frithjof entfernte sich zufrieden.

»Eigentlich,« sagte Georg unschlüssig, »habe ich nie über diese Frage nachgedacht ...«

»Dann erlauben Sie mir, Durchlaucht, Sie zu bewundern!«

Schon wieder einer, dachte Georg.

»Ein Deutscher,« redete Montfort heiter fort, »der über eine nationale Frage noch nicht nachgedacht hat. Wundervoll und außerordentlich. Würde ein jeder so tun, hätten wir auch nicht das subalterne Gesicht, das nur hierzulande zu sehn ist.« Er blickte sich nach allen Seiten um, wo jetzt an den kleinen Tischen ringsum lesende Männer mit Zeitungen, auch ganze Familien mit Töchtern und Schwiegersöhnen saßen, für Georg so plötzlich vorhanden, als wären sie, oder als wäre er aus dem Boden dazwischen gezaubert.

»Meinen Sie, daß es daher kommt?« fragte er gedankenlos.

»Nun, oder von was andrem. Ich hatte nur die Bemerkung anbringen wollen,« versetzte Montfort gleichmütig.

Georgs Blick glitt langsam von ihm ab; niemand sagte etwas. Die Luft im Raum war nun dick von Tabaksrauch und schwirrend von Stimmen und Gelächter, die Kellner liefen geschäftig, Frithjof erschien, schwerbeladen, in jeder Hand schulterhoch einen ganzen Fächer von belasteten Tabletts, deren einen er schwingend in einen runden Familienkreis hineinschlittern ließ.

Oh Gott, dachte Georg gequält, so ist das nun! Warum sitze ich hier? Da hocken wir beisammen im Kaffeehaus. Der eine sagt, was er meint, der andre sagt, was er meint. Das Ganze ist ein Gespräch. Und alles hat diese gräßliche Blankheit von Nickelgeschirr. Ach, und eine sitzt daneben, das Herz bis zum Rande voll Tränen! – Dieser Montfort, da saß er, die Ellbogen auf der Marmorplatte, die Zigarre am Munde, an der er saugte. Georg, voll Haßverlangens, ihm etwas Heftiges anzuwerfen, und um wenigstens den Trumpf zu haben, daß er selber es sei, der die Gesprächekarre wieder in Gang brachte, fand auf der Suche nach irgendetwas endlich, daß es ihm schien, Montfort habe Deutschland beleidigt und er müßte es verteidigen. Also warf er, unwirsch wie ein zu geringes Trinkgeld, die Worte auf den Tisch:

»Sagen Sie nichts gegen Deutschland! Am Ende ist es doch das einzige Land, wo man leben und sterben möchte.«

Montfort wich plötzlich vor einer träg aufsteigenden Qualmwolke, die Augen zukneifend, zurück, wedelte mit der Hand, rieb sich das eine Lid und sagte:

»Leben? – das wäre die Frage. Sterben? – darüber ließe sich reden.«

Langsam, nachdem er seine Haltung wieder eingenommen, ließ er jetzt die Augen zu seiner Freundin hinübergleiten, so daß es Georg vorkam, als hätte er etwas gesagt, das für sie einen besonderen Sinn habe ... Gleichzeitig ergrimmt über Vorgänge des Herzens, die ihm verheimlicht wurden, und voll eifrigen Mitleids mit einem von diesen empfindsameren, weiblichen Geschöpfen, wagte Georg nicht, sie anzusehn, blickte auf Dostojewskis verschwommenen Kopf und sah trotzdem an seiner Seite das stille Gesicht des Mädchens, das vorgebeugt dasaß, die Arme auf der Tischplatte, eine Hand am Glas, mit der andern diesen und jenen Blumenstiel anzupfend und anders feststeckend.

»Nur die landschaftlichen Sachen,« sagte sie getrost aufblickend, »die mag ich hier und da recht gern ...«

Georg hätte sie in die Arme schließen mögen. Die reine Seele, da stieg sie nun aus ihrem Leid und brachte sich obendrein zum Opfer, bloß weil ein Gespräch wieder ins Fahrwasser kommen mußte, und fing richtig vom Kinematographen an, den sie nicht leiden konnte. Er selber dabei, er konnte sie nicht streicheln noch ihre Hand ergreifen, er konnte weiter nichts als sich zu ihr neigen und brüderlich lachend und scherzhaft rufen:

»Ha! daran glaube ich nimmermehr! Alle reden davon, und alle wollen sie die Detektivschlager sehn!«

Welch einen Unsinn er redete! Aber nun – sie verstand ihn doch und schüttelte nur lächelnd den Kopf. Montfort sagte:

»Sie, Durchlaucht, gehören, hoff ich, nicht auch zu den Leuten, die der Bevölkerung die Hintertreppe wegnehmen wollen. Was verbleibt am Ende dem gemeinen Mann? Zur Vordertreppe lassen Sie ihn doch nicht heran, wie? Ach, teure Cornelia, als Frau möchtest du natürlich alles schön und fortschrittlich und heilsam haben, und den Gegenstand für die Verbesserungen findest du natürlich in den Kreisen, die sich seit alters haben alles gefallen lassen müssen. Der begüterte Mann hat hundert Arten, sich zu ruinieren, geistig und körperlich, Kaffeehäuser und Kabaretts, Absynth, Pferderennen, Automobilunfälle, Luftschiffe, Haschisch und Nackttänzerinnen. Selbst der Gewöhnlichste hat noch Pilsener Bier. Das Volk hingegen hat gar nichts, es soll nur immer belehrt werden. Nun soll es schon kein Bier und keinen Schnaps mehr trinken, was außer dem Kindermachen seine letzte Freude ist. Fang doch oben an, Herz, wenn du bessern möchtest, ihnen aber gönn ihre Mordsgeschichten, damit wenigstens ein halb Prozent als anständige Schwerverbrecher zum Galgen rennt, wo neunundneunzig ein halb Prozent als halbe Lüstlinge, halbe Wüstlinge, halbe Säufer, halbe Arbeiter – – überhaupt flau, flau, flau – die Welt ist so gottserbärmlich flau, süßsauer und abgestanden wie kalter Kohl. Gott sei Dank, da kommt der Maler Bogner.«

Ja, Gott sei Dank! Georg atmete auf, als er den Maler wie einen lange entbehrten Herzensfreund um das Aquarium kommen sah.

 

Traumdeutung

Bogner mußte sich an den Tisch setzen und Pilsener Bier trinken. Josef Montfort lud alle dazu ein. Georg, um nur gleich durch gewechselte Rede dem Maler noch näher zu kommen, fragte, ob er von Chalybäus' Schlaganfall gehört habe. Augenblicks erschien ihm zwar Anna, aber der Gedanke: Renate! spülte sie hinweg wie ein gläserner Katarakt voll Visionen.

Das sei zu erwarten gewesen, erklärte Bogner. Er habe einen Grog nach dem andern getrunken, während al Manach ihm Geschichten erzählte, und Georg, der ihn nie hatte leiden können, bekräftigte das Gesagte mit Andeutungen über seine liederliche Wirtschaftsführung. »Seine Frau war eine Art Freundin von Mama, und so kam das Ganze.«

»Fuhr nach Böhne,« sagte Bogner, »lehrte die Honoratioren das Pokern und kam betrunken heim, aber von Januar ab blieb er in Helenenruh und trank Grog. Seine Tochter tut mir leid, sie hat genug durchmachen müssen.«

»Meinen Sie?« fragte Georg ratlos und sah Frithjof an, der unterm hängenden Lide prüfend auf Bogner hinabblickte.

»Was solls denn sein, Herr?« sagte Frithjof.

Montfort bestellte sein Pilsener für alle. Georg sah auf einmal Anna im Wiesendunkel an der Erde liegen und gleich darauf in einem gläsernen Sarge. Das mußte er geträumt haben ... Indem fiel ihm jener Morgen und das kinematographische Stück seines Traumes ein und so lebhaft, daß er sagte:

»Erinnern Sie sich noch, Bogner, an die Nacht, wo wir zusammen die Bowle austranken? Da wir eben vom Kinematographen sprachen, so fällt mir ein, daß ich gegen Morgen die sonderbarsten Dinge träumte. Nun hab ich das meiste vergessen, aber das Letzte weiß ich noch. Ich stand in einem Theaterparkett – nicht wahr – in der Finsternis unter vielen Menschen, und über mir in dem grellen Lichtstreifen aus dem Projektionsapparat fuhren meine gespreizten Hände hin und her, ungeheuer groß und als wären es hundert. Und vorher, das weiß ich noch, erklärte Papas Sekretär – ja, nun hab ichs doch vergessen,– aber dann sagte ich: Ich komme nicht hinein! Ich wußte, glaub ich, im Traum, daß hinter der durchsichtigen Leinwand ein richtiger Festzug war, und daß ich dazu gehörte ...«

Montfort bog sich über den Tisch, sah ihn durchdringend an und sagte, den Traum wollte er ihm auslegen. Ja, er wäre so ein komischer Mensch, hätte Ahnungen und so, – mit einem Wort: Kassandra! –

»Also bitte!«

Er schloß die Augen, bog sich zurück wie ein Scharlatan, stemmte die Hände gegen die Tischplatte, formte das Gesicht zu einer Art tragischen Maske, öffnete pythisch den Mund, plötzlich auch die Augen und verkündete: Jawohl, Georg käme nicht hinein.

»Sie scheinen nicht zufrieden?« sagte er dann, da Georg unverstehend lächelte. »Dann also weiter. Bitte, erzählen Sie Ihren Traum.«

Er nahm Frithjof, der mit den Gläsern dastand, eines aus der Hand, half die andern über den Tisch verteilen, hieß Frithjof das Kaffeegeschirr seiner Freundin wegräumen, die nichts vor sich behielt als ihre Tulpen, schaffte in jeder Beziehung Ordnung und Raum, – dieweil Georg gestand, wie schon gesagt, sei dies alles, was er wisse: ein Festzug, und Doktor Birnbaum, nein vielmehr Chalybäus, der ihn am Arme festgehalten habe ... Anna im Glassarge glaubte er unterschlagen zu müssen.

»Schadet nichts,« meinte Josef, »wir müssen uns besinnen. Bitte, hören Sie zu, meine Verehrtesten –« Er sah, den Maler neben sich am Arm fassend, die Cornelia oder Käthe an, oder wie sie nun hieß – »es wird hochinteressant. Also bitte! Jeder Traum, das ist ein Grundsatz der Deutung, ist mit einem kleinen Haken im vorhergehenden Tage befestigt, – also besinnen Sie sich bitte einmal! Halt, sehen Sie nicht umher, das lenkt ab, sehen Sie mich an, in meine Augen.«

Georg heftete mit innerlicher Verlegenheit die Augen auf das große, bräunlich bleiche und schwarze Gesicht, dann in die glühenden, kleinen, sonderbar weit voneinander sitzenden Augen, die sich zusammenzogen und wieder ausdehnten, als wollten sie seinen Blick wie mit einer Zange fassen, – allein nun kam er nicht los von dem gläsernen Sarge, zumal ja diese Erscheinung sichtlich im Abend vorher ihre Wurzelung hatte.

»Es geschah allerlei an dem Tage,« sagte er zögernd.

»Keine Umstände,« befahl Josef, »keine Begrifflichkeiten. Fassen Sie ein Bild und lassen Sie sich getrost weiter und weiter führen, bis ...«

Also half es nichts, er mußte mit dem Sarge herausrücken, nicht ohne peinlich zu argwöhnen, Bogner gegenüber errate sofort, was dies Bild bedeute, und so versuchte er das Gesagte eilig mit etwas andrem zu vertuschen, das ihm einfiel, daß nämlich die Menschen mit Fingern auf ihn deuteten und sagten: Er hats schuld!

»Halt!« gebot Montfort, »da haben wir schon eine Menge. Und vorher also war der Maskenzug?«

»Ja, und nun fällt mir auch ein, daß ich ihn für den Maskenzug im Grünen Heinrich hielt, wenn das von Wichtigkeit –«

»Im Grünen Heinrich?« Josef blickte nachdenklich seine Freundin an. »Da kommt freilich kein gläserner Sarg vor, aber – Sie erinnern sich wohl –«

Georg unterbrach ihn, um zu sagen, daß er sich erinnere, in jenen Tagen wieder im Grünen Heinrich geblättert zu haben; zudem wurde es ihm klar, daß Bogner ja nach der Windmühle gerannt war, also die Anna gar nicht liegen gesehn hatte.

»Kein gläserner,« fuhr Josef fort, »aber einer mit einer kleinen Glasplatte über dem Gesicht der Toten. Es ist der, in dem die tote Anna ...«

»Anna?« rief Georg erschrocken.

»Ja, was ist?«

»Nun,« versetzte Georg, »Sie kennen Fräulein Chalybäus nur unter dem Namen Magda, aber ich nenne sie Anna, seit unserer Kindheit schon. Und –« fügte er hastig hinzu, jetzt überzeugt, es sagen zu dürfen, »am Abend vor dem Traum hatte ich sie an der Erde liegen sehn. Sie erinnern sich, Bogner, nachdem sie auf den al Manach geschossen hatte, wurde sie ohnmächtig.« Eilfertig, weiterzukommen, in eigenartiger Beklommenheit, gab er Montfort noch ein paar Erklärungen über al Manach und das andre.

»Nun einmal zu Ihrem: Er hats schuld!« fuhr Josef fort. »Worte im Traum, bestimmte, deren man sich erinnert, gehen – das ist ein andrer Grundsatz der Deutung – immer auf bestimmte Worte aus dem Leben des Träumenden zurück. Können Sie sich – –?«

Georg versuchte, sich zu erinnern, doch gelang es ihm nicht; statt dessen sah er, Bogner gegenüber gewahrend, ihn in seinem Helenenruher Zimmer am Tisch sitzen. Es war ein Gewitter – richtig, er stritt sich mit Bogner, er sah ihn auf einmal seinen Bleistift in der Blechhülse hin und her schieben, und –

»Halloh!« rief Georg aufgeregt, »jetzt habe ich den Anfang! Herr Bogner suchte seinen Bleistift, es war in einer finstern Straße, er fluchte, und ich half ihm, und dann –«

»Nicht so eilig!« unterbrach ihn Josef mit halblauter Stimme aufmerksam. »Wir müssen untersuchen. Erstens die Straße. Was für eine Straße?«

Georg hatte sie nie gesehn.

»Also eine Straße aus Ihrer Kindheit,« sagte Josef.

Georg erschrak seltsam.

»Und es war dunkel?« fuhr Josef fort, »also Nacht?«

»Gewiß, ja, das heißt – eigentlich, – so wie es immer in meinen Träumen ist, – natürlich mit Ausnahmen.«

»Es ist immer dunkel in Ihren Träumen?«

»Ja, wie gesagt – dämmrig, kein rechtes Licht, – nicht wahr ... Übrigens auch keine Höhe eigentlich. Über meinem Kopfe ist es aus.«

»Und unten?«

»Unten? Ja – unten ist es ähnlich. Manchmal ist Boden da, meist aber – glaub ich – ist in der Kniegegend so – alles wie – verwischt ...«

»Durchlaucht ist ein sonderbarer Mensch,« sagte Montfort zu Bogner gewandt. »Er kehrt des Nachts immer in seinen Mutterleib zurück.«

Georg fuhr heftig zusammen. War das gewiß? Oh es überzeugte ihn, geradeswegs, durch das Gefühl! Es war sehr wundersam und schaurig. – Mit unsicheren Augen sah er das Mädchen Cornelia etwas von ihm entfernt im Sofa sitzen, tief zurück, und ihr ganzes Gesicht war entstellt von heftigem Nachdenken; sie hielt es gesenkt, die Augen starrten in den Schoß, die Oberlippe, in tiefer Vergeßlichkeit, stand empor wie bei einem Kind, und die runde, kindliche Stirn war in der Mitte gewaltsam zusammengerunzelt. Dann löste aus ihrer Angespanntheit sich langsam der tastende Strahl eines dunklen Blicks, der aber zurückgezogen wurde, bevor er ganz Josef erreichte.

Georg, in undeutbare Empfindungen aufgelöst, hörte nach einer Weile Montfort sagen: »Hören Sie mal zu, ich will Ihnen ein wenig erklären.

»Denken Sie mal an ein schlafendes Tier. Haben Sie je einen Hund schlafen sehn? Gut. Also Sie sitzen im Zimmer, Leute herum am Tisch, im Winkel liegt Ihre dicke Wally und schläft. Auf einmal sagt einer: Pst! seht ihrs? Wally schläft. – Was tut da Wally?«

»Sie wacht auf,« sagte Georg.

»Richtig! ausgezeichnet! Sehn Sie: so leicht schläft ein Tier. So leicht schlafen die Tiere, weshalb? Weil sie immer auf der Hut, weil sie immer in Angst sind. Der Hase bekanntlich hat sich vor lauter Furchtsamkeit die Lider abgewöhnt. Was beweist das? Mehreres. Erstens: Alles Lebendige, mit Füßen – zur Flucht – begabte, lebt in einer unablässigen Unruhe. Uralte Angst ist das, Urwaldsangst. Jeder Mensch ist mit ihr durchtränkt, aus Erinnerung an seine sämtlichen Vorväter und Millionen von gejagten Urwaldsleben, die er hinter sich hat. Eine metaphysische Angst, wenn Sie so wollen, die in Ihrem, in jedem Leben Ausdruck findet in den tausend persönlichen Ängsten des Alltags – Krankheit, Liebe, Ehrgeiz, Einkommen, Steuer, Examen, Karriere und so weiter. Könnten Sie Ihre Denkfähigkeit unterdrücken, Sie würden finden, daß Sie aus nichts als Angst gemacht – – Wie, Herr Bogner?«

»Ich sagte es ihm schon in der Bahn,« sagte der Maler lächelnd. Georg fühlte sich umstrickt.

»Um so besser,« fuhr Josef fort, jetzt mit unterdrückter Stimme, die allmählich zum Flüstern wurde: »Infolgedessen also haben Sie auch Angstträume, das wissen Sie ja selber, und infolge Ihres menschlichen Daseins überhaupt haben Sie noch etwas andres, nämlich Wünsche. Wünsche, teils positiver Art – zum Beispiel, daß Sie Schillers Werke zu Weihnachten kriegen; teils und meistenteils negativer – nämlich, daß Sie Schillers Werke nicht kriegen. Fast jeder Wunsch stellt sich, vermutlich kraft jener Grundangst, hundertmal häufiger als in positiver in der Form der Befürchtung dar, und der Traum, den Sie infolgedessen träumen, ist ein Beschwichtigungstraum. Ist Ihnen das klar?«

Georg, sonderbar und sonderbarer mitgerissen, bejahte fröstelnd. Montfort fuhr fort:

»Nun etwas andres. Sie legen sich zum Schlafen, strecken sich aus, möchten schlafen, was ist Ihr letzter Wunsch, ehe der Schlaf kommt? Der Wunsch, einzuschlafen. Wozu also dienen die Träume? Den Schläfer am Erwachen zu hindern. Sie hören etwa den Wecker rasseln, aber der Schlaf erzählt, es ist eine kostbare und sonderliche Fontäne, die auf diese Weise plätschert, und Sie ergötzen sich dran und schlafen weiter. Noch etwas. Ich will es durch ein Erfahrungsbeispiel erklären. Zu mir kommt ein Freund und liest mir ein herrliches Preisgedicht auf den Wein vor. Da er keinen guten Titel weiß, bittet er mich, einen zu erfinden, und ich sage, ohne mich groß zu bedenken, er soll es: der große Weingesang nennen. – Wie komme ich darauf? Weil die Finkenfänger verschiedene Arten des Finkenschlags mit Namen unterscheiden, und der schönste heißt: der scharfe Weingesang. Ja, nun fragen Sie sich aber, welche Erinnerungskette in mir nötig war, um diesen Zusammenhang zu Tage zu fördern. Halten Sie sich nicht mit Beantwortung dieser Frage auf, sondern übertragen Sie gleich das Beispiel in Ihr Traumleben – das ja in keiner Weise ein andres ist als das des Tages, ausgenommen seine stumpfe Art Logik – das heißt: in einen Traumaugenblick sind, wie am Tage hundert von den Dingen, die Sie ›Gedanken‹ nennen, Bilder, nämlich die gesehenen Gedanken zusammengepreßt, vermengt, verdichtet. Zum Beispiel –«

Er schöpfte leicht Atem, zog eine goldene Zigarettendose aus der Weste, legte sie vor Georg hin, nahm eine, Georg willenlos gleichfalls, entzündete beide und sprach leise weiter.

»Zum Beispiel: Ich sage: Busen. Nun natürlich unterdrücken Sie in Damengesellschaft sofort die Vorstellung, die Sie haben – genau so auch im Traum – und denken an einen Berg, an einen Meerbusen, an den Golf von Tarent, da liegt er schon vor Ihnen, blau und mit Segeln, und siehe, da kommt auch schon die bewußte Dame mit dem bestimmten Busen, sonderbarerweise nicht in entsprechender Bekleidung, sondern vielmehr in Gesellschaft von Herren und Damen, nämlich ganz wie an jenem Tage, wo Sie den Golf wirklich sahn, – die sich allesamt am Strande ergehn, bloß Sie selber, Sie haben statt einer Badehose Ihre blauseidene Unterhose an und schämen sich gräßlich, bis Sie entdecken, die andern machen sich gar nichts aus Ihrem Anblick, und die holde Dame ist überdies Ihre Frau Mama. Und nun zum letzten.«

Georg erholte sich, die Cornelia anlächelnd, aus seiner Verwirrtheit. Auch das Mädchen lächelte, so gut sie konnte, aus ihrer Denkangespanntheit heraus. Sie sah nun ganz elend aus. Montfort dagegen blühte durchaus, trank einen schönen Schluck, wischte sich den schwarzen Bart mit einem unbeschreiblich duftenden Tuche und sprach weiter.

»Durchlaucht also sehen im Theater einen Menschen, einen schiffbrüchigen Matrosen, vor einem zusammengerotteten Zuhörerkreis von Schiffern und Frauen seine Abenteuer erzählen. Auf den Gesichtern der Zuhörer spiegelt sich alles, sie machen die lebhaftes– – aber was ist das, Prinz?« unterbrach er sich erstaunt, »ich erzähle Ihnen hier die spannendsten Dinge, und Sie stochern mit Ihrem Zigarettenstumpf im Aschbecher und sehen mich nicht einmal an.«

Ehe Georg sich von seiner Verblüfftheit über die unverständliche Rede erholt hatte, brach Montfort in ein leichtes Lachen aus und sagte:

»Sehen Sie, teurer Freund, Sie machen es eben nicht wie die Leute auf der Bühne, die mit Gebärdenspiel den Erzähler begleiten, sondern im Gegenteil, Sie verhalten Ihre Erregung, Ihre Teilnahme, Sie tun dieses und jenes, und vor allem: Sie unterdrücken Ihre Mitgefühle, Sie zweifeln und stecken sich am Höhepunkt des Ganzen eine Zigarette an. Verstanden? Dasselbe tun Sie im Traum, indem Sie sich erinnern, daß Sie, von den Angstträumen abgesehn, die verwunderlichsten und gräßlichsten Vorgänge stets mit dem gleichen, ein wenig töricht fragenden Traumstaunen verfolgen, – und dasselbe tut Ihr Traum selber mit Ihnen. Befürchtung und Beschwichtigung, Wunsch und Verzicht, Angst und Freude, sämtliche Leidenschaften mit einem Wort, bilden ein einziges Kreuzfeuer, losgelassen aus dem Kerker Ihrer Tageslogik. Es herrscht ein wirres Durcheinander von alten und jungen, peinlichen und süßen Erinnerungen, alle Empfindungen schießen durcheinander, keine hängt an ihrem Ursprung, und keiner folgt ihre Wirkung, sondern der Ursprung der einen scheint mit einer andern verhakt und ebenso die Wirkung. Scheint! hören Sie wohl: scheint! Denn in Wahrheit, oh Freund, in Wahrheit herrscht der allergenaueste und der allertiefste Zusammenhang, in dem ein Ding sich im andern und durch das andre darstellt, und wenn Sie nur lesen könnten die ungeheure, flammende Schrift, die vor Ihren, in die blöde Tagesdämmerung abgewandten Augen durcheinanderwogt, so könnten Sie das Letzte Ihres Lebens und die Leben Ihrer Väter, allen Ursprung, alles Wachstum, Gott und Götter und alle Dämonen, die könnten Sie bei Namen rufen und sich von ihnen dienen lassen wie Alaëddin, – falls Sie ihren Anblick ertrügen!« Sein nahe zu Georg herangebogenes Gesicht plötzlich erloschen zurückziehend, schloß er leise und verzichtend: »Einstweilen freilich ist alles, was Ihnen und jedem aus hundert- und tausendfältiger Vermischung, Verdrehung, Verschiebung, Zertrennung, Annäherung, Zerspaltung um Zerspaltung, Verdichtung wiederum entsteht, nur – ein Traum.«

Georg, mit allen Sinnen grenzenlos ausgeliefert, hörte nichts als die flüsternde Stimme nahe unter seinem Gesicht, indem Josef fast den ganzen Körper unter der Tischplatte verschwinden ließ, nur den großen, schwarzen Kopf, wie Mimirs Haupt aus dem Brunnen, gegen Georg emporhebend, – und so fuhr er fort:

»Ein Mädchen will Nonne werden und darf nicht, sie träumt – was träumt sie? Die heilige Jungfrau zeigt ihr ein Bett und darin einen Mann, einen Kranken, wie sie sagt, den sie pflegen soll. Wunderliche Verdichtung, nicht wahr, von Liebesverlangen und klösterlicher Keuschheitsbeschwichtigung. – Nun – zwei Dinge aber sind es, durch die der Traum Ihrer Nächte sich von Ihrem bewußten und unterbewußten Hirn- und Herzensleben am Tage unterscheidet. Er erinnert sich tiefer. Denken Sie an Ihre Kindheit. Sie wissen nichts, und doch – eine kleine Nachfrage offenbart es Ihnen – mit welch ungeheurer Leidenschaft müssen Sie damals gelebt haben, damals, wo alles neu war. Wo alles riesenhaft war, blendend oder beschattend, immer neu, erschreckend erst, dann aus Entsetzen sich in unverhoffte Freude um so himmlischer auflösend, nächtliche Erscheinungen Ihrer Eltern an Ihrem Bett, die kamen, um nach Ihrem Schlaf zu sehn, und die Myriaden großer und kleiner Erlebnisse, durch die Sie die unbekannte Welt durchforschten und eroberten. Wollen Sie ernstlich glauben, das konnte jemals verloren gehn? Ein Dienstmädchen wird irrsinnig und fängt an, Seiten und Seiten Hebräisch und Griechisch aus Bibel und Kirchenfürsten aufzusagen, weil sie früher am Schlüsselloch ihres Dienstherrn, des Pfarrers, gehorcht hat. Bilden Sie sich ein, deren Gedächtnis allein habe eine derartige Saugkraft besessen? Nein, mein Freund, Sie geben mir ja recht, Sie kehren allnächtlich aus aller Daseinsangst in den dunklen, warmen, herrlichen Mutterleib zurück, wo Sie in Sicherheit waren, himmlisch in Sicherheit, vor der Welt, die keine Mutter verletzt, und vor sich selbst, vor Ihren eigenen, wüsten, kranken, tollen, giftigen, verruchten, begierigen, süßen, erhabenen, demütigenden, hoffenden Gedanken und Gefühlen.«

Vergebens versuchte Georg, die Lippen zu öffnen und von der Vision zu reden, die ihm schon lange brennend vor Augen stand, seine eigene Kindheitserinnerung, der Paradiesvogel und alles übrige, was er seinerzeit Benno geschrieben hatte, und über das er noch bedeutendere Aufschlüsse zu erhalten brannte, allein es war unmöglich, in diesen Geröllsturz von Worten einen Keil hineinzuschlagen.

»Und das andre Ding,« sagte Josef, »von dem Ihr Traum alles weiß und auch – wie Sie vielleicht gleich sehen werden – alles verrät, ist – Ihr Leib, Ihr Blut, Ihr Geschlecht.«

Bei Gott, dachte Georg, bei Gott!

»Alle Träume, die nicht Angst sind, sind Beschwichtigung. Alle Träume sind irgendwie geschlechtlich, wenn Sie das recht verstehen wollen, daß ich sage, der Geschlechtstrieb sei der einzig einige Trieb allen und allen Daseins auf Erden, – ungenau ausgedrückt, doch das würde uns zu weit führen. Demnach – wenn Sie sich etwa vor Enthüllungen fürchten, so wollen wir es mit dieser Probe meiner Traumdeutung bewenden –«

Georg fuhr hastig verneinend auf. Dieser Magier, dachte er, dieser Magier! Montfort hatte sich unterweil, wie Georg nun sah, ein neues Glas Pilsener kommen lassen, prostete Georg freundlich zu und trank mit Behagen die goldene Flüssigkeit unter der dreifingerbreiten weißen Schaumschicht fort, wischte sich danach sorgfältig mit seinem duftenden Tuche den Bart und fuhr, die gelbe Seide in den Händen zusammenbauschend, fort.

»Also dieser Maler hier suchte seinen Bleistift. Ja, nun sagen Sie mal ... waren Sie denn so wütend auf ihn?«

»Wütend? Im Gegenteil!« Georg, in Verlegenheit, da er den Maler lächeln sah, wehrte sich heftig. »Im Gegenteil, ich hatte ihn an dem Tage kennen gelernt, er machte einen außerordentlichen Eindruck auf mich, ich empfand die größte Vereh –«

Er stockte, da der Maler, die Unterarme auf den Tisch legend, sich zu ihm hinüberbeugte und leise sagte:

»Ach wo! Ich erinnere mich, daß Sie höchst aufgebracht gegen mich waren, weil ich Ihnen nicht meine Gedanken verraten wollte, als –«

»Genug, genug!« unterbrach Montfort leutselig, während Georg errötend alles zugeben mußte, »ich weiß nun alles. Sie hatten sich über den Maler geärgert, also mußte er sich im Traum ärgern, indem er suchte und fluchte und –«

»Aber ich selber hab ihm doch geholfen!« schrie Georg.

»Natürlich, das wars ja, was ich Ihnen auseinandersetzte. Sie empfanden gleichzeitig Ehrfurcht – als ob das nicht auch Furcht wäre, und ist Furcht keine Feindschaft? –, also beschwichtigten Sie Ihre unanständigen Gefühle, indem Sie ihm halfen. Wie gings denn weiter? Vermutlich verschwand der Maler alsbald, und Sie suchten allein.«

»Bei Gott!« versetzte Georg mißtrauisch, »genau so wars.«

»Mit andern Worten,« erklärte Josef ruhig und wieder gradesitzend, »Sie setzten sich selber an die Stelle Herrn Bogners, Sie hatten ihn ja unter Tage exemplarisch gefunden, ehrfurchtgebietend, nachahmenswert.«

Georg war sprachlos, denn er entsann sich augenblicks deutlich, daß er einmal an jenem Tage gewünscht habe, wortkarg zu werden wie Bogner. – Da er nun Montfort wie von fern nach dem Weitergange des Traums fragen hörte, so erschien ihm jetzt sein Vater, wie er in einem Theaterparkett ohne Sitze herumging und Händedrücke austeilte. Als er Josef das sagte, verwunderte der sich: sein Vater könne doch nicht gehn, – unterbrach sich jedoch selber flugs, schlug mit der flachen Hand gegen die Stirn und rief:

»Aber natürlich! Sagen Sie doch: haben Sie nie gewünscht, daß Ihr Vater gehend sein möchte?«

Georg, in einem kalten Schrecken, bejahte stammelnd und sagte, er wünsche ja nichts als das, wenn er seinen Vater nur sehe, ja, er glaube, auch schon mehr als einmal ihn in seinen Träumen gehend gemacht zu haben ...

Ihm war, als sei seine Seele mit hundert feinen Haaren besetzt, an denen unaufhörlich gerissen würde. Montfort, ganz gleichmütig, fragte nach dem Fortgang des Traums. Georg besann sich und meinte, dann sei wohl der Festzug erschienen, erst als Film, fiel ihm ein, »und das war natürlich,« sagte er, »denn wir hatten irgendwann am Tage – Sie erinnern sich, Bogner – verschiedentlich vom Kinematographen gesprochen. Und dann erschien Onkel Salomon, – ich meine,« verbesserte er sich, »Papas Sekretär, Anna Chalybäus und ich nennen ihn Onkel –«

»Also wieder eine Kindheitsfigur,« bemerkte Josef.

»Ja, und nun fällt mir ein, daß er mich ins Theater hineinwinkte mit Bogners Bleistift, und dann, als ich zum Festzug wollte, hielt er mich am Arm fest und –«

»Der getreue Eckhart,« murmelte Josef.

»– ich schrie dann, er solle mich loslassen, und: Ich komme nicht hinein, schrie ich und riß mich los, und dann – war da ein Menschengewühl, ich war angstvoll auf einmal, und nun sah ich Anna in ihrem Glassarge –«

»Und die Leute sagten: er hats schuld ...«, schloß Josef.

»Ja, aber – das bezog sich, glaub ich, nicht auf sie«, sagte Georg widerstrebend, da er wirklich in jenem Traumaugenblick keine Angst oder ein Schuldgefühl zu finden glaubte.

»Ja,« meinte Josef zögernd, »dann hilft es nichts, dann müssen Sie sich zu erinnern versuchen, wann im Leben Sie einmal diese Worte gehört haben.«

»Ich weiß es schon,« versetzte Georg, ganz kalt, nur ungeduldig, vorwärts zu kommen, »es war im Abiturientenexamen. Ich fiel durch in Mathematik, und als der Professor von mir abließ, murmelte ich ganz dumm und geärgert: Er hats schuld! Ich meinte: weil er so dumm gefragt hätte ...«

»Haben Sie denn vielleicht«, fragte Josef, »an jenem Tage vor Ihrem Traum mit jemandem über Ihr Examen gesprochen?«

»Freilich. Anna erzählte ich ausführlich davon, aber auch mein Vater erwähnte den Durchfall.«

Montfort, der ihn schon bei der Erwähnung Annas hatte unterbrechen wollen, sagte jetzt wißbegierig:

»So. Ihr Vater. Bitte, wie stehen Sie wohl mit ihm?«

»Er ist mein bester Freund,« versetzte Georg stolz.

»So. Aber an jenem Tage, oder – sagen wir nur – bei jener Unterredung –«

Georg erklärte auf Montforts fragenden Blick, es habe eine lange Unterredung über seine Zukunft und vieles andre stattgefunden, worauf Josef gelassen fortfuhr:

»Ja, dann waren Sie also von ähnlichen Empfindungen wie gegen Bogner auch gegen Ihren Papa erfüllt: nämlich Freundschaft, Ehrfurcht, aber auch Gefühl der freundschaftlichen Überlegenheit, Verwirrung vielleicht – – ja, ich rate ...«

Georg nickte nur, schwer atmend.

»Und mit: er hats schuld!« ergänzte Josef, »waren im Traum also nicht Sie gemeint, sondern Ihr Vater.«

Georg sah vor seinen Augen den Raum voller Tabaksqualm, Lampen und sitzender, schreiender Menschen verschwimmen. Das Mädchen Cornelia hing mit einem sonderlichen Ausdruck von Grauen und Zärtlichkeit an Josefs Antlitz, der vor sich niedersah, und jetzt schlugen in Georgs Verwirrung, aus seinem eigenen Innern tönend, die Traumworte: ich komme nicht hinein ... mehrere Male. Während er noch bedachte, daß er sie während des väterlichen Gespräches empfunden haben müsse, widerstrebenden Gefühls gegen die unbekannten Lebensgewalten, denen er durch seinen Vater plötzlich ausgesetzt wurde, hörte er jetzt Josef, immer gesenkten Auges, diese selben Worte sagen und weiter, sich aufraffend zum Zuhören:

»Diese Worte wären also das einzige, was noch bleibt.«

Indem er jetzt langsam seinen Blick von der Tischplatte erhob, ihn über seine Freundin gegenüber streifen und in Georgs Augen, seltsam prüfend, sinken ließ, sah Georg sich mit einem Mal in Annas Zimmer, sah sich auf ihr liegen, – er sträubte sich, aber es zwang ihn, – er sah sich, im Dunkel, kalt fiebernd, wie er den Eingang suchte, und er hörte sich zu sich selber murmeln: Ich komme nicht ... Da schüttelte er das gewaltsam ab, sein Blick irrte, schwankte gegen Josefs Augen zurück, er richtete sich im Stuhl auf, rückte an dem Bierglas vor ihm, sah ein unmerklich feines Lächeln Josefs Mundwinkel heben und hörte ihn sagen, während er die linke Hand auf Georgs Arm legte:

»Lassen Sie's gut sein, Prinz. Sie wissen nun alles, nicht wahr? Ich weiß es auch, denn – viele Deutungen gibt es da ja nicht mehr. Sie sehen also,« fuhr er ernst und ruhig fort, »die Verankerung Ihres Traumes ist so ziemlich aufgedeckt. Ängste und Beschwichtigungen, Entstellungen und Verdeckungen, Sie machen sich zu Bogner, Sie grollen Bogner und Ihrem Vater, Bogner muß suchen, Ihr Vater darf gehen, aber: er hats schuld! – Nun, damit können wir uns ja wohl zufrieden geben.«

»Ja,« fragte Georg entsetzt, »wollen Sie denn noch mehr herauswürgen?«

»Sie sind ein sonderbarer Genosse, Durchlaucht,« sagte Montfort nach einer Weile kopfschüttelnd. »Da hat man Ihnen an zwei und drei Stellen, wo Sie bislang nichts sahen, ein paar Kleinigkeiten gezeigt. Man hat Ihnen eine Schneeflocke in zehnfacher Vergrößerung gezeigt. Sie haben den Kristall gesehn, und nun – meinen Sie denn wahrhaftig nun, Sie wüßten, was Schnee ist? Ein gelehrter Mann hat jahrelang unsägliche Mühsal aufgewandt, um hinter das Wesen der Träume zu kommen – er überließ mir seine Erfahrungen für diesen Abend –, und hat etwas zutage gefördert, fabelhafte Dinge in der Tat, wie Sie bemerkten. Wieviel, meinen Sie, mögen denn das nun sein aus der wirklichen Zahl aller Möglichkeiten? Schon sind Sie überwältigt, Sie ehrlicher Ignorant, und sind gar entsetzt. Was wissen Sie denn nun? Sie wissen, daß Sie Ihre Kindheit nicht vergessen haben. Was beweist das? Daß Sie nichts, überhaupt schlechterdings keine Silbe vergessen haben, – wenn Sie sich bloß besinnen könnten wie jenes Dienstmädchen. Und was ist denn das: Sie? Hören Sie denn mit Ihrer Kindheit auf? Haben Sie keine Vergangenheit, keine Eltern, Ahnen, Adam und Eva? Haben Sie nicht eben gelernt, daß Sie beinah so leicht und behutsam schlafen wie Ihr alter Hund Wally? Wollen Sie vielleicht noch nicht begreifen –« er bohrte, sich weit überneigend, beide glühende Augen in Georgs Pupillen hinein – »noch nicht begreifen, daß Sie nichts, schlechterdings nichts aus allen Erdteilen, Völkerschaften, Tieren und Äonen vergessen haben? Daß alles noch in Ihnen ist, was je war? Wollen Sie mir vielleicht auch nicht glauben, daß Sie nicht nur in den paar Augenblicken träumen, an die Sie sich erinnern, sondern daß Sie immer träumen, unaufhörlich, die ganze Nacht, von Abend bis Morgen, immerzu? Und daß Sie Ihr ganzes Leben im Traum noch einmal leben, immer wieder, jede Nacht? Daß Sie Nacht für Nacht, wie der Fliegende Holländer rückwärts mit allen Segeln, Ihr ganzes Leben aufreißen und durcharbeiten, umwogt, wie von der Meerflut, von Milliarden und Milliarden aus ihrem Zusammenhang gesprühter Tropfen, Vermischung zehntausendfach, Entstellung, Verdrehung, Verbildung, Trennung und Einung aus Molchen und Affen, Urwäldern und Städten, Kindern und Greisen, die allesamt aus Unermeßlichkeit in Sie hineingebraust sind wie Karawanen und hunnische Heere, Vandalen und –«

Er brach ab, spöttisch auflachend, dieweil Georg, schon lange die Hände aufstützend, um sich zu erheben, aufstand, um hinauszugehn, sich behängt fühlend, als schwankten die Kleider und selber seine Haut in Fetzen um ihn herum. Betäubt und müde stand er sekundenlang unschlüssig, ohne zu wissen, nach welcher Seite er sich zu wenden habe. Kellner eilten vorbei, drängten an ihm vorüber, Geschirre klirrten, das Gelächter und laute Schwatzen toste sinnverwirrend herum, und Augenblicke lang wars ihm, als habe er das alles noch im Leben nicht gesehn und wisse nicht, was es bedeute.

Da erblickte er im Nebenraum, durch die Glaswand, die Rückenansicht einer stehenden Dame, die dort zu warten schien, und obgleich ihre Haltung – die Hände tief in einer riesigen Muffe, die Oberarme an den Leib gedrückt – nicht eigentlich bemerkenswert war, erinnerte sie ihn doch an Cora. Sie bewegte sich jetzt, verschwand, ehe ihr Profil sichtbar wurde, hinter dem Pfeiler und einem Kleiderständer voll gehenkter Mäntel, dann kam ihr Hut zum Vorschein, groß, flach, schwarz, mit grüngefärbten Straußenfedern um den Kopf, und es war Corinna Bogner, die aus der Türöffnung den schwächlich schmachtenden Blick gegen Georg aufhob.

 

Wiedersehn

Mehr erschreckt als erfreut, ging Georg auf Cora zu und fragte, die Hand ausstreckend: »Wie kommen Sie hierher?«

Sie blickte ihn ohne Erstaunen an, befreite ihre Hand aus der großen grauen Muffe, reichte sie ihm und entgegnete:

»Sie waren ja mächtig in Anspruch genommen, mein Prinz. Wir sind schon seit einer halben Stunde hier, ich und mein Mann, wir saßen dort hinten. Er ist noch einen Augenblick an einen andern Tisch gegangen. Diese Juristen haben immer etwas zu verhandeln.«

»Aber wie kommen Sie ...«

»Was machen Sie denn für böse Augen? Grade als ob ich Ihnen nicht als Corinna erschiene, sondern als Erynna oder wie's heißt. Soll ich Sie meinem Mann vorstellen?«

»Ich bitte sogar darum.«

»Sogar? Das ist gar nicht nötig. Wir sind seit dem Ersten hier. Herbert ist zur Staatsanwaltschaft versetzt. Warum schrieben Sie auch gar nicht mehr? Armer, ahnungsloser Engel! Sie werden morgen bei mir Tee trinken. Da kommt Herbert. Herbert, ich habe eben das Glück gehabt, des Prinzen Durchlaucht zu treffen, – ich erzählte dir ja ... Prinz Georg Trassenberg – mein Mann.«

Georg verbeugte sich gegen einen Herrn im Zylinder und Frack unter offenem Mantel, dessen Ähnlichkeit mit dem Maler besonders an den großen Augenhöhlen zu erkennen war, während er einen kleinen, bürstenhaft geschnittenen rötlichen Schnurrbart trug und einen etwas verfinsterten und abwesenden Ausdruck in den Augen hatte, wohl infolge einer kleinen Falte zwischen den Brauenbuckeln. Einen goldenen Kneifer nahm er hastig ab. Georg, dem jetzt der Maler einfiel, sagte:

»Aber ich habe ja eine mächtige Überraschung für Sie, – das heißt, wenn Sie noch nicht ... aber wohl kaum ... Kennen Sie den Herrn dort?« Er drehte sich zu dem Tisch hinter ihm um, zu Montforts Rücken und der still in sich versunkenen Cornelia drüben im Sofa, dieweil Bogner sich erhob und herantrat und sein Bruder, murmelnd, er sei kurzsichtig, den Kneifer wieder andrückte.

»Herbert! Erkennst du mich?« fragte Bogner ruhig und sonderbar gütig.

Das Gesicht des Bruders verschönte sich errötend in herzlicher Freude. Er sagte: »Benvenuto!« mit so viel Ergriffenheit, daß Georg rot wurde, während Cora zu weinen anfing. Ihr Mann legte seinem Bruder die Hände auf die Schultern und schüttelte ihn. »Also doch!« sagte er. »Nun, ich hatte ja schon von Mama gehört. Und hier im Café, da treffen sich die Menschen wieder. Ja, der arme Papa! Verzeih, Cora, dies ist nun mein großer Bruder. Ja, nun müssen wir noch eine Viertelstunde bleiben. Wir waren in so einer Abfütterung ...«

Georg hörte Cora noch zu Bogner sagen, wie es sie freue, daß er genau aussehe wie sein Bruder, ging, brennenden Auges und rauschender Ohren, durch die Nebenzimmer und durch den engen, gewundenen Treppenschacht zur Toilette hinunter, wo er indessen nicht zur Sammlung kam, denn am Treppenfuß, friedfertig neben der Telephonzelle hockend, begrüßte ihn freudestrahlend Sylvester, der Toilettenmensch, mit seinem ungeheuren, blonden Schnurrbart und seiner kleinen Tabakspfeife. Beim Wasserhahnaufdrehen und Handtuchreichen erzählte er Georg, wie in Primanerzeiten, kleine Stückchen von seinen Kindern, leise sprechend und wie ein Eichhorn immer hin und her, und Georg war wie jedesmal leise verwundert, daß auch diese unterirdischen Menschen Weib und Kinder hätten, sich erinnernd, wie er das erste Mal peinlich hatte denken müssen, ob wohl so ein Kind, in der Schule nach dem Beruf seines Vaters befragt, antworten müsse: Mein Vater ist Toilettenmensch. – Beschämt wie damals bei diesem Gedanken, suchte er vergebens nach einem netteren Terminus dieses Standes, und kam so, an Gefühlen wenig entwirrt, wieder nach oben.

Da aber konnte er plötzlich nicht vorüber an der Glastür des hintern Ausgangs, und nach einem zaudernden Umblicken im Raum, der vom beizenden Tabaksqualm der um alle Tische sitzenden Kartenspieler erfüllt war, trat er ins Freie unter das Überdach und stand im Garten.

Feucht und sehr kühl atmete die Nachtluft. Durch das nackte Gewipfel hoher Bäume fiel von rechts her der Lichtschein der Bogenlampen; in den Nischen von Buschwerk schimmerte weißlich Gestein, und hier und dort erglänzte die Platte eines der vielen Tische. Georg ging blindlings vor bis an das trockene Wasserbecken, sah das blecherne Mundstück der Fontäne sprachlos aus dem Hügel von Tuffstein hervorgestreckt und hielt sich dran, geistig, zu seiner Sammlung. Von Coras seltsam dürftiger Erscheinung schweifte er ab, eilfertig und im Bogen wie ein Jagdhund bösen Gewissens. Eine Beängstigung fiel auf sein Herz; er sah Renate im Garten stehn, sah das weiße Dreieck ihres Tuches, und langsam, aus der Beklommenheit, dehnte sich angstvolle Freude. Schön muß es werden, dachte er, schön wird es werden! inbrünstig hoffend, und die Vorstellungen: Montfort als Freund, Bogner als Führer, Renate als – als Geliebte! zogen, undeutlich in den Umrissen, aber verheißungsvoll, segenspendend und mit immer stärkerer Magie durch seinen Geist, so daß er schwoll, erzitterte zugleich und sich üppiger reckte. – Schon sah er einen Atelierraum, Bogners, Nacht und Lichter, die Rauchschwaden, Josef Montforts gewaltige Silhouette, und er vernahm die ruhige Stimme des unsichtbaren Malers ... Cora, wie war sie verblaßt im Augenblick!

Und nun erschien ihm sein Weg, und er ging ihn, umringt von königlich geleitenden Gestalten – Montfort, Bogner, Renate –, und vor seinen taumelnden Augen stellten die nächtlichen Umrisse des schwarzen Theaterbaus drüben sich dar als das Ziel, als das Schloß, Behausung seiner Würde, seines – ah nun, ja nun begann erst das Leben! Arbeit und Feste, Arbeit und Feste ...

Erquickt von der Kühle und dem Dunkel, gesammelt, entschlossen, aufgerichtet, kehrte er zu den Andern zurück.


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