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Neuntes Kapitel

Dunkel

Die Nacht war warm, und nun, erhitzt nach dem langen Frieren zuvor, bewegte Georg sich in einem heißen Branden von Gedanken, die zergingen, ehe er sie faßte. Als er aber neben dem Ende des Nordflügels vorüber wollte, raschelte es rechts im Wäldchen, rauschte, ein schwarzer, fallender Klumpen schleppte sich, Ungetüm und schauerlich anzusehn, in das halbe Licht und aus den Weg, Artaxerxes. Verflucht, da ist der schwarze Bote schon wieder! schnob Georg ergrimmt, besänftigte sich aber, indem er gerührt denken mußte: So weit ist er inzwischen gekommen, geradeswegs auf seinen Weiher zu! Der Hals züngelte hervor, unbekümmert um Georg zog er seine Straße beschwerlich, arbeitete sich den Weg hinunter und verschwand im Dunkel der Wiese vor dem Weiher. – Und wenn er uns da oben nicht begegnet wäre, dachte Georg, hätte ich die Flinte vielleicht hängen lassen! »Verdammtes Vieh,« schrie er ihm nach, »mußt du einem denn überall in die Quere kommen!« – Ach, auch er tat, wozu es ihn trieb, da lag sein Weiher, – in einer graden Linie, wie ein Pferd, das nach Hause geht, war er daraufzugegangen, – was für eine Dämonszähigkeit! Und Georg ging weiter, lachte wütend und dachte: Der Schwan ist bei Gott der bewegende Teufel in alledem! Sie scheuchte ihn auf, als sie in den Teich ritt, und dann brach sie ihm den Flügel in der Luft, und dafür erschien er uns und zwang mich, die Satansflinte mitzunehmen. Sie ist also selber dran schuld, warum wollte sie fliegen! –

Plötzlich stand er am Teich, durch einen meterbreiten Grasstreifen nur vom Wasser getrennt, das er roch, schlug sich mit der Faust vor die Stirn, verfluchte sich und knirschte sich an, ob er denn zu nichts fähig sei als zu diesen Jämmerlichkeiten! Zu keinem guten, graden Gefühl! Immer Mißmut statt Demut, Ärger statt Traurigkeit, Wut statt Schmerz. Da lag sie nun oben! Wachte sie? Was ging in ihr vor? War ihr angst? Ach, wie sollte ers wissen, war sie nicht ein fremdes, unbegreifliches Wesen? Und er hatte sie geküßt!

Da war, im Dunkel absonderlich geisterhaft, die kleine Brücke zur Insel, deren schwarze, gewaltige Baumkronen in den großen und finstren, gestirnten Himmel ragten. Einen Augenblick dachte Georg, hinüberzugehn, jedoch – was sollte er dort? Anna – womöglich wurde sie krank, und sie konnten nicht zusammen in dem halbverfallenen Liebespavillon der Insel sitzen ... Da rannte er um den Teich in das kleine, niedre Fichtengehölz, zwängte sich mühsam durch Nadeläste und Spinneweben, innerlich sich beschimpfend, verteidigend, stolperte in einen trocknen Graben und ins Freie, ins helle Mondlicht auf die Chaussee, nach Böhne.

Hier war Totenstille; in weiter Ferne rollte ein Wagen. Auf der andern Seite der Landstraße standen die Garben im vollen Silberglanz auf den Stoppelfeldern, weithin grenzenlos dahinter lag schlafendes Land, weltfern, im silbrigen Dunst, waren graue Schatten von Bäumen, kleinen Gehölzen. Unfern zur Linken stand die scharf silberne Mondscheibe kaum haushoch über der Fläche und dem Dorf, dessen weiße Häuserwände, schwarze Dächer und weißer Kirchturm mit schwarzer Haube allmählich deutlicher zum Vorschein kamen. Kein Licht war mehr dort. Wogen der Stille, Wogen der Nachtwärme, der Nachtkühle kamen und verhauchten. Das Wagenrollen ward ein wenig lauter, – gewiß war es schon der Doktor aus Böhne. Georg wußte eine Bank in der Nähe am Waldrand und suchte sie auf. Und dort saß er, erschlafft und gedankenmatt, bis das Wagenrollen nahe kam, die Laternenlichter erschienen und der Sandschneider vorüberrollte mit dem kleinen, krummen Doktor auf dem Rücksitz hinter dem kerzengraden Kutscher. Georg hörte ihn eine Minute später von der Landstraße auf den Kies vor der Helenenruher Rampe einbiegen und auf dem Fahrweg um das Haus verhallen.

O wie still es war! Wie sanft, wie arglos diese schlafende Welt! – – –

Ob sie schlief? Ob er – –

Erinnerungsbilder des Tages begannen einen zuckenden, zerrissenen Vorübertanz. Auf einmal war der grüne Teich da mit Anna darin zu Pferd, die silberne Wasserbahn, die der schwarze Vogel aufriß, Gewitterregen strömte, der Schwan schrie, am Fenster war Bogners Gesicht, Bogner saß im Dunkel vor zwei Kühen, da lag Anna, in ihrem Zimmer, der graue Engel schwebte mit Blumen und dem Kind, da stand seine Mutter fürstlich in der Tür, Judith stand in braunem Samt vor einem Gebüsch, Jason al Manach saß, liebreizend anzusehn, und sprach über Gedichte, Onkel Salomon, der Baschkirtseff, Georgs Vater – im Zickzack hin und wider durchfuhr er den Tag, stand auf einmal unwollend auf, ging in der Richtung des Schlosses, unter der Rampe her, dachte, er müßte doch einmal nach ihr sehn, vielleicht hatte sie Licht, womöglich konnte er leise rufen und fragen, bei welchem Gedanken er einen ganz andern Wunsch als unziemlich zerdrückte, es trieb ihn vorwärts, er sehnte sich, verlangte nach ihrem Mund, ihren Gliedern, sein Kopf brannte ... wie fremd, fest, wie kühl ihr Mund zuerst gewesen war!

Nun stand er unterhalb des langen Gastflügels im Heckengang und blickte empor. Drei Fenster waren erleuchtet im Oberstock, – vielleicht sollte er auch nach al Manach sehn und vom Arzt hören ... Aber da tönte die Angel der Haustür, Schritte knirschten über Stufen, er hörte die überschnappende wohlbekannte Stimme des Doktors nach dem Kutscher rufen, stand und rührte sich nicht. Es dauerte endlos, bis er die Wagenräder im Sande knirschen hörte, er erschrak, der Wagen würde ja den Heckengang herunterkommen! und so diebisch und unwürdig er sich vorkam, mußte er durch das altbekannte Loch in der Hecke kriechen, und da er einmal im Bücken war, schlich er so weiter, während innerhalb der Wagen ihm entgegen und vorüber rollte, das Licht der Laterne ihn streifte.

Einen Augenblick später öffnete er die kleine Lattentür an der Ecke des Verwalterhauses, ging zwischen den hohen Stockrosen und Sonnenblumen den Gang hinunter, unhörbar im Gras, und stand an der Hinterseite des Hauses im Grasboden des Obstgartens eine Minute still, ohne zu atmen. Endlich entfernte er sich noch ein paar Schritte vom Hause unter die kleinen Bäume und sah, daß in allen Stockwerken alle Fenster mit Läden oder weißen Rouleaus verschlossen waren, bis auf das Annas, dessen gläserne Flügel nach außen offen standen; dazwischen bewegte sich das heruntergelassene weiße Rouleau leise im Luftzug.

 

Rausch

Lange Zeit verging. Georgs Herz klopfte schwere, dicke, langsame Schläge. Hin und wieder hielt er den Atem an. Die Nacht war hell. Die geweißten Stämme glänzten. Manchmal drehte der Nachtwind ein paar Blätter hin und her, erst hier, dann dort, als suche er etwas darunter. Georg starrte verschwimmenden Auges auf das weiße Rechteck des Vorhangs, hin und wieder zitternd, wenn er sich bewegte, geheimnisvoll, als müsse jemand dahinter stehn. Wenn er emporsah, flackerten zwei kleine, weiße Sterne im Laubwerk und verschwanden auf ein Weilchen, von Blättern verdeckt. Er bebte heftiger in angstvoller Erwartung, flüsterte ihren Namen, wünschte sie herbei, doch nichts kam, nichts, als daß nach einer Zeit ein sehr natürlicher Wunsch seines Körpers sich bemerkbar machte, und so entfernte er sich leise in die Tiefe des Gartens, bis er den Lattenzaun erkennen konnte, – sich verwünschend: muß einem das denn immer dazwischen kommen! – wagte aber nicht, sich umzudrehn, als könne grade in dieser Minute sich etwas ereignen, fuhr, sein Geschäft verrichtend, fort, nach dem Hause zu spähn, und richtig, kaum daß er hinter seinem Baum wieder vortrat, sah er den Vorhang sich nach oben bewegen, hörte er deutlich das Quietschen der Rolle unter der laufenden Vorhangschnur. Lautlos trat er näher und näher. Sie stand im Fenster, weiß, da verschwand sie wieder ... nein, sie hatte sich auf die Fensterbank gesetzt, den Rücken an den Rahmen lehnend. Nun sah er das Dunkle ihres Haars und eine Flechte, die über Schulter und Brust vorn herunterhing. Sie löste sie auf bis oben hin, legte den Kopf zurück, bewegte ihn leise hin und her und begann die Strähnen neu zu flechten.

Sie konnte nicht schlafen! – Warum? – Seinetwegen oder ... Ach, sie war es wirklich, kein Geist, kein Traum, sie flocht ihr Haar, sie hatte nichts an als ihr langes Nachthemd, und sein Herz begann wild und regellos zu hämmern in einer schrecklichen Angst, während Gedanken sich in ihm herumstießen. Im Obstgarten mußte doch irgendwo eine Leiter ... Ja, und dann? Plötzlich war alles leer in ihm, und auf einmal war er ins Freie vorgetreten und hatte ihren Namen geflüstert.

Er sah, daß sie die Hände auf das steinerne Sims stützte und sich herunterbeugte; dann hörte er seinen Namen durch das Sausen in seinem Gehör. Da stand ja die Leiter am Baum! Er holte sie und legte sie an; sie reichte bis unter das Fenstersims, und er stieg hinauf. Nun sah er ihre Augen, dunkle Flecke mit einem unkenntlichen Blick darin. Oben empfing sie ihn, legte die Arme um seinen Nacken, küßte ihn, o, wie küßte sie ihn denn? Wollte sie ihn verzehren? Sie stammelte etwas, das er nicht verstand, er fühlte ihre Schlankheit, ihre Schultern, die sich bewegten, und daß sie ganz nackt unter dem Hemd war, ihre linke Brust, – und er packte mit der einen Hand ihr eines Knie und preßte es. Da lag sie still, ihr Kopf sank langsam zurück, er dachte, eilig zu fliehn, wie er sich aber zurückbewegte, fühlte er die Festigkeit der Arme, die ihn umschlossen, und riß sie an sich, legte das Knie innen auf die Fensterbank und stieg, so behutsam er konnte, hinein. Ihm war eiskalt. Wie er noch stand und sie hielt, flog Erinnerung vorüber an Pappeln und den Sandweg, – zum zweitenmal trug er sie zu ihrem Bett, nun war es unordentlich, die Steppdecke zurückgeschlagen, und er legte sie hinein und deckte sie zu.

O Gott, wie entsetzlich langsam ging das Auskleiden vor sich! Er krampfte sein Hirn zusammen, um nur ja nichts zu denken, und was an gräßlichen Gedankenstücken von wüst unpassender Art hindurchschoß, zerdrückte er, wie mit den zusammengepreßten Augenlidern. Endlich war er fertig, hörte seine nackten Sohlen tappen, als er zu ihr schlich, und dann lag er in der Wärme neben ihr, umschlang sie und war, so heftig sein Herz klopfte, ruhig und beinah kühl, so daß es ihm im nächsten Augenblick schon zu heiß unter der Decke war und er sie fortstieß.

»Frierst du nicht!« fragte er leise, sich aufstützend. Die Dämmerung war schon so hell vor seinen Augen, daß er die ihren deutlich in dem unter ihm liegenden Gesicht erkannte. Da mußte er wieder denken, daß dies Anna war, seine Kindheitsschwester, und, gewaltsam den Gedanken zerpressend, warf er sich über sie, fühlte sich umschlungen, noch vergingen schauerliche Minuten des Tastens und Suchens nach dem Eingang, er hörte sie leise aufstöhnen, fühlte selber Schmerz, war ratlos, aber da kam die anschluchzende Sekunde, und jählings fühlte er sich von der unsichtbaren Riesenfaust zu rasenden Zuckungen der Lust schlotternd und schlagend zusammengerüttelt in sich selbst und verging sich im magischen Krampf.

Aus völliger Leere und Schlaffheit sich aufrichtend, küßte er leise ihre linke Achsel aus einer Art Pflichtgefühl und mit dem verdrückten Gedanken, daß sie ihm gleichgültig war. Neben ihr liegend, gelang es ihm, einen Tropfen Mitgefühls, den er Liebe nannte, zu sammeln, sie an sich zu ziehn und zu streicheln, allein er wußte nicht, was er hier noch sollte, und zudem fing ein heftiges Verlangen nach einer Zigarette an, ihn immer wütender zu peinigen.

»Ja – ich muß nun wohl gehn ...« flüsterte er. Sie richtete sich auf, strich das Haar aus der Stirn, stützte dann eine Hand neben sich auf und sah auf ihn herunter. Auf einmal merkte er, daß sie ganz wenig lächelte, und als er fragte, warum, warf sie sich über ihn und flüsterte unter lauter kleinen Küssen auf Nase, Kinn, Wangen und Hals, er sähe so süß aus, wie er daliege. Dies erleichterte ihn freilich sehr, er lachte leise und sagte: »Was fürn Unsinn, Anna!« innerst höchlich erstaunt: wie sie sich gleich hineingefunden hat ... Dann küßte er sie wieder, schob sie dann leise von sich, stand auf, ging zu seinen Kleidern und zog sie eilig an. Danach trat er noch einmal an ihr Bett, wo sie noch so lag wie zuvor, ohne sich nur bewegt zu haben, die Arme ausgebreitet, so daß die eine Hand über den Bettrand hing, die unterwärts mit Leinen bespannte Steppdecke bis zu den Knien nur heraufgezogen. Als er sich über sie beugte, küßte sie ihn leidenschaftlich, er ließ es eine Weile über sich ergehn, machte sich sanft los und verließ das Zimmer, wie er gekommen war. Aus dem Obstgarten entkam er über den Zaun und gelangte so auf einen engen Gang im Dickicht des Wäldchens, wo er hastig Zigaretten und Streichhölzer hervorzog und rauchte.

 

Tagesanbruch

Georg stand am Gatter der Mittelallee, die Arme auf dem obersten dünnen Balken, und sah über die grauen Wiesen hin in die helle, weißgestirnte Sommernacht. Ihm war so absonderlich leicht in allen Gliedern, daß er es kaum begriff, doch meinte er, das sei wohl so ... Irgend etwas, schien ihm, war fort aus ihm, fortgenommen, – eine Wärme, – oder er aus der Wärme, – und ihm war seltsam kalt. Er wußte nicht, was es war ... Heiter war er nicht, auch nicht unfroh, eher ernst, vielleicht schwermütig, – doch auch Gefühle und Gedanken hatten diese flüchtige Leichte, und eigentlich war er ganz und gar leer. Wenn er an Anna dachte, empfand er einen kleinen Stich Mitleid und Dankbarkeit, und nachdem er den Gedanken, warum er sie eigentlich liebe, und ob er es überhaupt tue, einmal gedacht hatte, so hütete er sich, ihn noch einmal zu denken. Die Nacht war ja sehr schön, wundervoll still und lau. Schläfrig war er gar nicht, er dachte, noch einmal auf den Deich zu gehn und nach der Flut auszuschaun, dann dachte er, es müsse schön sein, im Wiesenpark auf einer Bank zu sitzen, in der Mondhelle die Schattenzacken der Fledermausflügel zu sehn und einzudämmern, – jedoch Lust hatte er zu nichts, stand nur und stand, bald zu keiner Bewegung mehr fähig.

»O du Kindermund, o du Kindermund ... unbewußter Weisheit froh ...« Es summte in ihm, eine ganze Weile schon, ferne und wehmutvoll. Wie kam er nur darauf? – –

Dies war es nun gewesen? War das wirklich alles? Er hatte Lust, daran zu zweifeln, doch lauerte hier wieder die Frage nach der Tiefe oder Wirklichkeit seiner Liebe zu ihr, und er bog von diesem Gedankenweg ab, fand aber keinen neuen, stand auf einmal im Ungewissen und gab nun dem Verlangen nach, auf der Erde zu liegen. Er öffnete das Gatter, ging zwei Schritt in die Wiese hinein und legte sich hin.

Ach, das war wundervoll! Ach, war das wunderbar! Die Erde, diese Erde, wie sie ihn trug! Wie über alle Maßen köstlich das war, sie zu fühlen am ganzen Rücken, am Hinterkopf, an den Schenkeln und Fersen! Er breitete die Arme und fühlte mehr und kräftiger sich getragen, ganz wie wenn er auf dem gewaltigsten Riesen läge. Diese Ruhe, o, endlich einmal nicht mehr dies immer Aufrechtsein und wagerecht sehen! Liegen und doch das ganze ungeheure Oben, den Nachthimmel, die Sterne voll in den Augen zu haben, einmal in andrer Richtung zu leben, einmal nach oben die Brust zu dehnen, statt immer nach vorn, und tiefer im Genießen, ließ er sich noch einmal die ganze Unlust des Aufrechtseins empfinden, alles Hängende der Beine und Arme, die Schwierigkeit des dünngestützten und so schweren Kopfs, der vornüber wollte, und nun – – da lag er, da lag er! Da war die Natur, die gute, starke, mächtige, die ihn wortlos in Empfang nahm, ihr breites Lager auftat und – – da liege ich, ach! da liege ich, – da liege ich, – da liege ich ...

Endlich merkte er doch, daß er naß wurde, daß alle Halme trieften, und er setzte sich auf. Sieh, was war denn das für ein Lichtschein? War noch jemand auf der Terrasse? Es war ein buntfarbiges Licht, es mußte der Lampenschirm sein. Er zog die Uhr und las auf das Haar genau Mitternacht von dem gläsern in der Nacht blinkenden Zifferblatt. Ja, später konnte es auch wohl noch nicht sein.

Georg stand auf und ging durch das Gatter die Allee hinunter. Das Rosenoval erschien mondhell, graugestreift von Tau; der Mond selber hoch oben am Himmel zwischen den Helenenruher Türmen, die er, wie das Dach, mit Silberglanz belegte. Aber der Lampenschirm schien völlig mit sich allein zu sein und war also wohl nur vergessen. Georg überschritt die Wiese, ging die Treppe hinan, und siehe da – Maler Bogner! ganz einsam saß er, tief in einen Peddigrohrsessel hineingesunken neben dem Tisch, die Beine übergeschlagen, sein Skizzenbuch auf dem Schenkel, malte darin und hatte seine kleine, leise qualmende Pfeife im Mundwinkel stecken. Als Georg näher trat, hob er das nachdenklich gesenkte Gesicht, blickte ihm entgegen, nahm die Pfeife aus dem Mundwinkel, steckte sie in den andern und sagte durchaus nichts.

»Ganz allein?« fragte Georg heiser und hatte das unbehagliche Gefühl, Bogner wisse alles. – Der Maler nickte, griff, sich etwas hochrückend, nach dem neben ihm stehenden Römer, bemerkte, daß er leer war, und sah sich um. Georg entdeckte auf dem Tischchen an der Tür das Bowlengefäß nebst einem Brett voller Gläser, ging hin, nahm ein abseit stehendes, das ihm unbenutzt schien, und schenkte es aus dem Bowlenrest voll, danach auch das Glas des Malers. Sie hoben die Gläser gegeneinander und tranken, Georg im Stehen.

Ah, dies war nun wieder herrlich! Diese eiskalte, nach wenig, aber kostbar schmeckende Flüssigkeit, die in ihn hinabstürzte wie ein weißer Gebirgsquell. Er trank das ganze Glas aus, holte das Bowlengefäß und stellte es auf den Tisch, füllte sein Glas abermals und dachte, daß es wunderbar sein müsse, hier den Rest der Nacht zu versitzen in ernsten und tiefen Gesprächen. Aber ob dieser Maler dazu zu bringen war? Georg setzte sich mit dem Blick über die Wiese.

»Zeichnen Sie?« fragte er.

»Nein,« sagte Bogner, »ich mache bloß so Krickelkrackel.«

So, er machte Krickelkrackel. Er ließ sich auch nicht stören, rauchte, schwieg und trank. Georg füllte die Gläser mehrere Male. Es ward kühler, es ging langsam auf Morgen. Auf einmal kam es ihm vor, als müsse die Uhr seit Stunden aufgehört haben, zu schlagen, die Augen fielen ihm zu, er bekam plötzlich einen Ruck und merkte, daß sein Kopf im Einschlafen nach vorn gekippt war.

O, er liebte sie doch, gewiß liebte er sie! Nun war sie ihm ja wieder süß und er sehnte sich nach ihr, träumte wieder, bei ihr zu liegen, ihre Schulter zu küssen und jene weichste Stelle an der Achsel. Alles kam noch einmal und war doch sehr schön gewesen und erlosch nun, losch hin wie Nacht und Mond ins Morgengrau und die umherschaudernde Kühle. Ach, dieser ganze Tag, wie er und alles nun gewesen, alles sich nun gleich war, alles gleich, alles traumhaft und wallend und vergehend! O, stille sein, nichts denken, dieser Tag ist aus! Alles wird sich finden, alles wird kommen, wie es muß, die Zeit verrinnt, auch diese Stunde, sie verrinnt, der Maler trank allein allen Wein aus, Georg sah plötzlich einen Schatten hoch über der Lampe, die Bowle bewegte sich, Georg versuchte die Augen zu öffnen, da sie zufielen, er vermochte es nicht.

In einer nachtfinstren Gasse traf er Bogner, der dort umhersuchte. Georg, um ihm zu helfen, fragte, was er suche. Meinen Bleistift, fluchte Bogner, Gott solle ihn verdammen, sein Bleistift wäre fort. Dies schien Georg ein unseliger Verlust, und so suchten sie zusammen, bis Georg an eine Tür geriet, ein großes Vestibül, das von innen strahlend erleuchtet war, eine Menge Menschen ging Treppen hinauf, und auf einer Estrade stand Onkel Salomon und winkte und zeigte den Bleistift, so groß wie ein Spazierstock. Nun aber war da ein Theaterparkett und Georg wußte, er gehörte zu den Aufführenden, er mußte hier hindurch zum Bühneneingang, Frauen und Offiziere standen in Gruppen zusammen, keine Sitze waren da, und dazwischen ging Georgs Vater herum und teilte Händedrücke aus. Also kann er doch gehen! dachte Georg, ich wußte ja, daß es ein Irrtum war. Er wollte zu ihm hin, aber das Menschengedränge war merkwürdig zäh, er zwängte sich nur mit größter Mühe hindurch, und auf einmal wars finster. Es war ein Lichtspieltheater, die Leinwand flammte grell auf, es erschien der Maskenzug aus Kellers Grünem Heinrich, aber Georg wußte, daß es nur scheinbar ein Lichtbild war; in Wirklichkeit war die Leinwand durchsichtig, und die Menschen zogen körperlich dahinter vorbei, es wurde nun aber höchste Zeit für ihn, an seinen Platz zu kommen, jedoch hielt Onkel Salomon ihn am Ärmel fest, er erschrak, nein, das war ja der große Chalybäus, der ihn für irgend etwas zur Rechenschaft ziehen wollte und immerfort wiederholte: Der Kientopp ist das große Hurra! und das erschien Georg eine unerhörte Weisheit. Aber ich komme nicht hinein, schrie er aufgeregt, und zum Donnerwetter, lassen Sie doch meinen Arm los! Nun spaltete er das finstre Getümmel, daß es krachte, doch wurde es ein schwarzes Meer von Schultern und beleuchteten Gesichtern, die sich alle nach ihm umwandten und sagten: Er hats schuld! er hats schuld! Nun kämpfte er mit den Menschen, sie verdeckten ihm etwas, wollten ihn nicht durchlassen, er schlug wüst um sich, da lag in einem gläsernen Sarge Anna in ihrem blaßroten Kleide, das Gesicht zur Seite geneigt, und war tot. Entsetzen packte Georg, er schluchzte, warf die Hände empor und sah sie, schaudervoll erschrocken, die sich losgerissen hatten und über ihm in der grellen Lichtstraße, die gegen die Leinwand strömte, sich krümmten, riesengroß und kalkbleich, und er erwachte.

Erwachend erschrak er wiederum, denn vor ihm war wirklich eine bleiche Hand, seine eigene im Schoß, auf die sein Kopf hinabgesunken war. Verstört sich aufrichtend, bemerkte er, daß die Luft grau war, dann rasselte es in der Höhe, der Glockenhammer fiel einmal, der Schall verhallte, – nach ein paar Sekunden sagte Bogners Stimme: »Halb drei; es wird Tag ...«

Der Maler lehnte ihm gegenüber mit dem Rücken an der Terrassenbrüstung; es kam Georg vor, als habe er ihn beobachtet, während er schlief. Der Maler stopfte seine Pfeife aus dem roten Gummibeutel, gleich darauf flammte eine Streichholzflamme grell und blendend auf, Georg erhob sich, fühlte sich zerschlagen, seine eine Wange glühte, ihn fror. Sich streckend und gähnend, trat er an den Treppenrand und sah, daß die Wiese im Morgennebel schwamm; nur hoch oben ragten schwarz die Wipfelspitzen heraus. Ihn fröstelte heftiger, die Lider fielen zu, Bogner stand neben ihm, streckte ihm die Hand hin und sagte:

»Gratuliere zum neuen Lebensjahre, Prinz!«

Gedankenlos die Hand ergreifend, fragte Georg: »Wieso?« besann sich auf seinen Geburtstag, dankte und fühlte ein unbegreifliches Schamgefühl in sich aufsteigen. Zum Umfallen müde, nahm er sich zusammen und sagte spöttisch verlegen:

»Also fangen wir das neue Jahr mit Schlafen an, Herr Bogner! Guten Morgen.«

Ferne, heiser, krähte ein Hahn. Einer der Helenenruher Hähne antwortete nahebei, verschlafen und krächzend. Der Maler ging die Stufen hinunter, bog aber nicht ab nach rechts, sondern schritt geradeswegs über die Wiese, in deren Nebelsee er eine schnurgerade, dunkle Furche zog. Ich glaube, der will baden, murmelte Georg, als die Gestalt im Nebel verschwand.

Er drehte sich um. Da war der bunte Lampenschirm, aber er leuchtete nicht mehr, war gedrucktes Zeug mit Farben und türkischen Arabesken, sehr kalt, erloschen und trocken. Und Georg wandte sich ab von ihm und ging die Stufen hinunter.

Er fand, daß ein meilenlanger Weg und hundert Treppenstufen bis zu seinem Zimmer zurückzulegen waren, entkleidete sich irgendwo und irgendwie, sank in die Kissen und schlief im Augenblick ein, während die Hähne häufiger und lauter krähten, der Nebel sich verdichtete, die Sonne heraufstieg, den Nebel wegschmolz, Starenkehlen weckte und auf allen Wiesen die Grillen, die wieder zu feilen begannen, tausendstimmig und ununterbrochen.

 

*

 

Hier enden des ersten Buches neun Kapitel oder doppelt so viele Stunden.

 


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