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Siebentes Kapitel

Erzählung

Magda wandte, als sie den Saal betraten, den Kopf nach ihnen, lächelte und spielte weiter. Bogner setzte sich auf den Klaviersessel vor dem mittleren der drei Flügel drüben. Alle Türen zur Herzogin standen offen wie stets; in den verhangenen Gemächern herrschte goldener Schatten mit etwas einfallendem Sonnenlicht am Boden hier und da und güldenen Streifen Sonnenstaubes. Georg nahm einen Stuhl und setzte sich neben das geöffnete Fenster, wo es hell war, während die jenseitige Hälfte des Saals mit den Klavieren in der Dämmerung der goldgelben Vorhänge blieb.

Magda spielte eine kleine halbe Stunde mit geringen Pausen zwischen den einzelnen, sehr einfachen alten Stücken. Endlich nahm sie die Hände von den Tasten, und eine Weile herrschte Stille. Fern wurde eine Tür geschlossen.

Georg, Annas Augen folgend, die zu dem Bilde über ihr emporblickten, fragte, in unbestimmte Gedanken verloren, zum Maler hinüber:

»Warum sind Sie eigentlich nicht musikalisch?«

Eine törichte Frage! – Allein der Maler öffnete nach einer Weile den Mund und gab, ebenfalls zu seinem Bilde schauend, eine ganz richtige Antwort.

»Sie«, sagte er, »hat mich einmal genau so gefragt. Ich wußte es natürlich nicht, aber sie hat es mir dann selbst erklärt. Ich wäre zentripetal, sagte sie, und das wären alle Dichter. Die Musik und die Tondichter dagegen wären zentrifugal (zentrifugalisch, verbesserte Georg im stillen.) Nämlich die andern Künste drängten den Menschen auf seinen Kern zusammen, die Musik dagegen löste auf. Sie fand es ja nun schön, daß ich unmusikalisch bin. Es wäre so reinlich, sagte sie. Dann klagte sie über sich selbst, daß sie von allen Künsten was verstehe, aber von keiner was Rechtes, und keine ausüben könne, abgesehn von ihrem bißchen Klavierspiel. Ihre Fertigkeit war ja nun glänzend, aber ihr Spiel ließ kalt. Die Leute sagten, es wäre sehr geistreich, aber sie hätte kein Gefühl. Sie hatte schon Gefühl, aber sie konnte es nicht anbringen, das wars.«

Bogner legte langsam ein Bein über das andre, faltete die Hände und stützte einen Ellbogen auf den Klavierdeckel, doch erwies sich der als zu hoch, da das alte Klavier bis vorn geschlossen war; er öffnete es, legte den Deckel leise zurück und nun den Ellbogen auf den vorderen Rand vor die vergilbten Tasten.

»Sah sie so aus wie auf diesem Bilde?« fragte Magda, die sich mit dem Drehsessel umgewandt hatte.

Nein, die Ähnlichkeit wäre sehr gering, entgegnete der Maler zerstreut.

Eine Minute verging mit Schweigen. Im Augenblick dann, wo Georg dachte, nun würde er wohl anfangen, etwas zu erzählen, begann Bogner.

»Judith Österreicher hieß sie und war das einzige Kind eines verwitweten Bankiers in Berlin. Sie war schmal und mager, ihre Hand empfindsam und beweglich, nicht schön, zu dünn. Ihr Kinn stand vor. Es und die Stirn und die flach aufliegende Nase bildeten eine schräge Fläche. Im Profil sah sie besonders jüdisch aus. Die Augen lagen tief und waren grau, die Haut gelblich, die Brauen schwarz und hart, das Haar orientalisch schön, schwarz, fest und reich. So sah sie aus. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, als ich sie kennen lernte. Ich war etwas über zwanzig.

»Ihren Charakter kennen Sie ein wenig aus dem Brief. Sie hatte alles mögliche studiert, Kunstgeschichte, Bibliothekswissenschaft, Literatur, auch Sozialistisches, und Musik. Immer hörte sie Vorträge und Vorlesungen. Ins Theater ging sie nicht, außer zur großen Oper. Sie haßte das Theater. Sie haßte stark, zu lieben hatte sie nie viel. Dann wurde sie weicher, später. Ihr Verstand war unmäßig scharf, sie sagte nie etwas Unlogisches, im Gespräch blieb sie bei der Stange wie ein Mann, ihr Geist wurde durch nichts Weibliches beeinträchtigt Oder gemildert. Sie war unweiblich. Zum Beispiel las sie nie Aufsätze und dergleichen, was über etwas handelt. Sie haßte Briefsammlungen und Biographien. Das läsen die Menschen nur aus einem idealischen Klatschbedürfnis. Ein Künstler war für sie kein Mensch. Der Mann ist tot, sagte sie, ihm ist nicht mehr zu helfen. Sein Leben war natürlich schwer, alle sind schwer, und großes Wachstum will harte Arbeit. Aber die innern Kämpfe waren schwerer als die äußern, sagte sie, und die lerne ich aus den Werken besser kennen, wo Schönheit und Klarheit daraus geworden ist. So etwas klang aber sanfter, wenn sie es sagte. Sie hatte eine schöne, melodische und tiefe Stimme. Am liebsten waren ihr Radierungen, Stiche, Schwarzweißsachen und Holzschnitte, in die sie sich mit der Lupe stundenlang, unermüdlich vertiefte. Dann die Japaner, die festen, gesparten Linien und die genährten, unumstößlichen Farben. Über einen schwarzen Flecken, ein schwarzes Kleid mitten in einer Teehausszene von Hiroshige oder Utamaro geriet sie außer sich vor Wonnen. Dann war sie wohl wie ein Kind, ganz ausgelassen. Sie beherrschte alle Fachausdrücke, sah einer Radierung von Vogeler an, der wievielte Abzug es sei, und einem Buch, wer die Type gezeichnet hatte. Ihre Kleider machte eine Schneiderin, und sie saßen, das war alles. Mit sich selbst wußte sie nichts anzufangen. Ihr Gehaben war so weiblich, wie der Verstand männisch. Sie war launisch, oft mißgelaunt, überschwänglich bald und bald kalt. Vor allem aber wußte sie selber immer und jeden Augenblick, wie sie war und was sie war, also, was sie nicht war. Immer sah sie sich im Spiegel und gefiel sich durchaus nicht. Von sich selber beobachtet Tag und Nacht, alles verstehend, alles zersetzend, auflösend, immer unzufrieden mit sich selbst, weil alles in Fetzen ging, zu weiblich, um es sammeln zu können, immer das Fehlende, das Negative sehend, sich selbst verachtend und doch sich selber liebend – das Leben ist ihr eine böse Qual gewesen.«

Bogner schwieg. Georg, ins Hören emsig verloren, die Augen auf den Wandstreifen zwischen den beiden Klavieren rechts geheftet, sah dort undeutlich die Gestalt der Fremden erscheinen; wie ihm schien, war es ein Samtkleid, was sie anhatte und das ihm sonderlicherweise deutlicher war als ihr Gesicht, denn da störten ihn die hellen Farben und die Undeutlichkeit der Züge auf dem Bilde. Die langsamen Worte des Malers, der eine Pause ließ hinter jedem seiner kurzen Sätze, banden ihn seltsam. Nun, da er schwieg, seinen Bleistift wieder aus der Westentasche holte und darauf niedersah, wie er ihn vorm Schoß in seiner Hülse hin und her schob, merkte Georg, daß er sprach, wie wenn er malte oder zeichnete: eine Linie zog – und einen Bogen daran setzte, eine andre Linie an ganz andrer Stelle des Blattes, und ganz von unten herauf eine dritte, langsam hin und her gebogene, und plötzlich alle drei noch zusammenhanglosen und unkenntlichen zusammengriff mit einer vierten, und absonderlich war aus drei und vier Unverständlichkeiten eine Klarheit, ein Bild und ein Sinn geworden; ja, ein Gesicht – auf einen Augenblitz erschien es Georg in seiner dunklen Abgeschlossenheit – ein Leben, Blick und Gebärde, und Erinnerung schon, Gewordensein und Vergangenheit. Georg sah deutlich das Blatt, auf dem der Maler zeichnete; es lag auf seinem rechten Knie, er sah darauf nieder und sprach und zeichnete gleichzeitig, und das war nun merkwürdig, daß seine Worte und seine Zeichnung aneinander hinliefen, unverbunden ... Georg, da der Maler noch immer schwieg, hätte gern den Mund geöffnet und gesagt, wenn er es hätte sagen können, wie ihm soeben klar geworden sei, daß alles Gedachte, aller Sinn gar nicht in den Worten bestehe, in denen er gefaßt wurde, sondern ganz fern dahinter sich selbst gestalte – denn diese Wahrnehmung schien ihm bedeutsam zu dem zu passen, was er vor Stunden mit dem Maler gesprochen hatte, weil das Bild, das der Maler im Innern hatte, und das, welches Georg sich selber herstellte aus des Malers Worten, gewiß einander ungemein fremd waren, lose zusammenhängend, o so lose nur in der Schilderung ...

In diesem Augenblick hob Bogner das Gesicht, sein Blick traf auf Georgs Gesicht von ferne, glitt wie von einer leeren Fläche davon ab und zu dem Gemälde überm Harmonium, wo er einen Augenblick anhielt, und der Maler sprach weiter.

»Nun muß ich sagen, wie ich sie kennenlernte. Irgendwie war ich von Paris nach Berlin verschlagen – so – mein Vater war Sanitätsrat und ist es wohl noch; ich mußte mit siebzehn Jahren das Haus verlassen. Ein Freund unterstützte mich eine Weile, nun – das tut nichts zur Sache, jedenfalls – – es kam jener Winter in Berlin, wo ich Schnee geschippt habe. Ein gefallenes Pferd, dem wir aufhalfen, warf mich gegen einen Laternenpfahl. Mit Frühlingsanfang kam ich aus der Klinik und hatte nun nichts mehr. Nun ... Nun war ich sehr schwach, irgendwie vergingen noch ein paar Tage, an die ich mich nicht erinnern kann. Eines Tages bekam ich auf einer Bank im Tiergarten einen Schwächeanfall, und als ich erwachte, hatte ich zwei Taler in der Tasche. Der eine reichte eine Zeitlang für Essen, für den andern gab ich eine Anzeige auf, ganz dumm, eine Heiratsannonce. Junger Künstler, dicht am Verhungern. Wie man so ist. Ich bekam drei Briefe. Einer war Ulk, in einem war ein Hundertmarkschein, den dritten bringe ich wohl noch zusammen ... Ihre Annonce im Anzeiger ist so eigenartig, daß ich nicht weiß, ob ich mehr über sie staune oder über mich, die sie beantwortet. Sollte sie die Wahrheit enthalten, so scheint mir Eile das Notwendigste zu sein, das heißt, Ihnen muß geholfen werden. Ich bitte Sie deshalb, mir zu schreiben ... hier kam ein Postamt und eine Chiffre ... wo ich Sie kennenlernen kann. Drunten standen die Initialen Jot O und eine Nachschrift: Vielleicht eilt es wirklich, ich werde deshalb morgen vormittag um elf Uhr in der Nähe des Luisendenkmals im Tiergarten sein. Ich zweifle nicht, daß wir uns erkennen werden.

»Sie erkennen Judith Österreicher. Ich war ja nun ein Stockfisch, ich wollte mir nicht helfen lassen, ich wollte heiraten und das Vermögen der Frau mit Ruhm bezahlen, und nun hatte ich doch hundert Mark. Aber ich ging hin. Sie hatte ein braunes Samtkleid an, und ich erkannte sie gleich. Sie stand, auf ihren Sonnenschirm gestützt, vor einem Rhododendrongebüsch mit dicken Knospen. Welches Mädchen stellt sich wohl auf, wenn es bei einem Stelldichein wartet! Nun ging ich auf sie zu, nahm den Hut ab und sagte steif, ich wäre es, es wäre aber ein Irrtum, und ich wollte nun nicht mehr heiraten, wobei sie mich entgeistert anstarrte. Sie können sich ja vielleicht vorstellen, wie ich ausgesehn haben mag. Dann wurde sie aber wütend und sagte, ich sollte sofort still sein, sonst liefen die Leute zusammen, packte mich beim Schlafittchen, zog mich in eine Allee und fing an, dergestalt auf mich einzureden, daß ich weinte. Da tröstete sie mich.

»Ihr Vater war reich und sehr kunstliebend, ein kleiner, dicker, jüdischer Mann mit einer schönen hohen Stirn und schwermütigen Augen. Er besaß eine kleine Galerie mit damals unbeachteten Sachen von Leibl, Schuch und Hagemeister. Nun wurde mir ein Atelier eingerichtet, und sie erzog mich. Immer hatte ich übers Handwerk gegrübelt, über die neuen Wege, wie man tut, wenn man ganz jung ist. Nun bekam ich Bücher zu lesen, mußte meine Meinung von ihnen ausformen, womöglich schriftlich, wurde im allgemeinen wie ein Genesender und im besondern wie ein gutes Kind behandelt, das durch Krankheit geistig zurückgeblieben ist.

»Sie war nur gütig zu mir, hartnäckig im Verfolgen ihres Plans, aber milde und freundlich. Sie lehrte mich Erfahrungen erkennen und schrieb jeden Tag das große Warum auf die Tafel. Schwerfällig war ich sehr, ich konnte begreifen, aber nur langsam. Was ich dann hatte, hielt ich fest. Zum Beispiel Manieren, daraus machte ich mir gar nichts, aber sie bewies mir, daß jede einen kleinen feinen Sinn hatte, und das gefiel mir. Gemalt hab ich lange Zeit gar nicht. Also ich wurde gereinigt, gelüftet, leer geblasen und ordentlich ›renoviert‹. Judith durchschaute mich vollständig, und alles, was sie tat, war richtig. So bin ich wohl einigermaßen ein Mensch geworden.

»Nun ... Nun, das übrige ist gleichgültig.

»Nun der Schluß.

»Ich weiß nicht, wer von uns dem Andern damals mehr gewesen ist. Da ich weniger war, werde ich ihr wohl mehr gewesen sein. Dies ist so. Früher war sie ein Mädchen gewesen, ihr Vater war ihr alles, hatte sie unterrichtet, erzogen und gebildet, sie hatte nie einen andern Freund gehabt als ihn. Ihm zuliebe wahrte sie die alten Gebräuche und liebte sie. An den Freitag Abenden brannten die Kerzen, lag das weiße Brot unter der roten Samtdecke, das Glas Wein ging herum, und ich habe keinen Freitag erlebt, an dem sie nicht zu Hause gewesen wäre. »Nun bekam sie mich, wie einen Sohn, gewiß. Sie war ein weiblicher Hieronymus. Das dacht ich oft, wenn ich in ihr Zimmer kam, abends, wenn sie bei der Stehlampe saß, umschlossen von den beschatteten Wänden hoher Bücherregale. Ihr Leben war ohne Schmerz und ohne Sorge verlaufen, nie hatte es fremde Willkür gelenkt, sondern väterliche Zartheit und die eigne klare Absicht. Sie liebte es wie ein hübsches Kunstwerk, und sie haßte es, weil es unfruchtbar sei. Eine Zeitlang täuschte ich sie darüber hinweg, ich meine, es tröstete sie, mir geben zu können. Dann wurde sie mißtrauisch und fing davon zu reden an, daß ich über kurz oder lang meiner Wege gehn werde. Das war richtig, daran war nichts zu ändern. Der Tag mußte kommen, wo sie mir alles gegeben hatte. Sie hatte ja nur Wissen für mich. Freilich auch Güte, wie Mütter, aber immer wollen die Söhne allein gehn und suchen sich ihre Wege.

»Nun, vorläufig lebten wir miteinander wie Pallas Athene und Odysseus, und wenn sie einmal schlechte Reden führte, versprach ich ihr, sie zu malen als jenes Mädchen, das der Dulder im Phäakenlande am Brunnen traf und das ihm den Weg zeigte. Es war ein schöner Abend in den Wiesen, und sie trug den vollen Krug auf der Achsel, gab ihm zu trinken und wies ihm den Weg in die Stadt und zu den Männern, die ihn heimbrachten. – Ja, so wäre es, sagte sie, sie könnte mir den Weg nach Hause zeigen, aber sie käme nicht hinein.

»Ach, Kinder, sie war gut, sie war gut. Sie war bescheiden, sie lehrte mich und ließ es mich nicht merken, sie wußte es immer so darzustellen, als ob sie beschenkt würde, als ob sie alles erst durch mich recht von Grunde kennenlernte. Ich erinnere mich an schöne Abende bei der Lampe. Schon als Junge hatte ich Silhouettenschneiden geliebt, und sie stellte mir Aufgaben. Sie trennte beliebige Stücke, große und kleine, aus dem schwarzen Bogen, dachte sich etwas aus, und dann mußte ich es herausschneiden, damit ich lernte den Raum ausnutzen wie ein Japaner.

»Nun das Malen ...«

Bogner war still. Er schien nachzudenken; auf einmal holte er, vor sich hinblickend, seine Pfeife aus der Tasche, dazu einen Beutel aus rotem Gummi, stopfte sie langsam, tat den Beutel fort, nahm Streichhölzer und rauchte. Schließlich fing er an:

»Also ich wollte sie malen ...«

Georg kam es vor, als ob er etwas ganz andres, das er sich unterweil im stillen vorgesagt und das von ihm selber und der Malkunst handelte, verschwiege.

»Als wir eines Tages«, sagte er, »am geöffneten Fenster saßen – sie hatte einen Arm auf der Fensterbank und sprach zu mir ins Zimmer hinein und dann wieder zum Fenster hinaus –, hielt sie auf einmal inne und sagte: Da! indem sie den Kopf wandte, nach oben, so wie dort. Ich sah aber nur den Schatten des Schmetterlings auf der Fensterbank, ihn selber erst später, wie er im Garten herumschaukelte, ein weißes Stückchen. Ich weiß nun nicht, wie sehr ihr Wesen in dem gewesen sein muß, was sie grade sagte, so daß es dann plötzlich ganz in diese Bewegung hineinschlug, mit der sie sich unterbrach. Jedenfalls – dies blieb aber hängen, nur wurde lange Zeit gar nichts daraus. Es kam der Sommer, der zweite, seit wir uns kannten. Judith verreiste, sie mußte eine erkrankte Schwester ihres Vaters nach der Riviera bringen. Ich war einige Wochen auf Sylt, aber lange vor ihr wieder in Berlin.«

Der Maler hatte ein paar neue Briefbogen hervorgenommen. »In jener Zeit«, sagte er, »bekam ich den Brief, den ich Ihnen vorlas, und unter andern auch den folgenden:

»Heute möchte ich einen Rat von Ihnen, lieber Freund. Das heißt, es wird wohl darauf hinauskommen, daß ich mir Rat schreibe, statt ihn zu bekommen. Ich habe einen Brief erhalten von einem Mann in Transvaal, der mich zur Frau haben will. Schon vor einem Jahr, als er fortging, fragte er an, ich habe aber um Bedenkzeit gebeten bis jetzt. Er schreibt nun, seine Aufgabe – er ist Ingenieur – sei beendet, er habe es in der Hand, nach Europa zurückzukehren oder einen Bau in einem andern Weltteil zu leiten, was er von mir abhängig macht. Was schreibe ich ihm?

»Nein, Sie können mir natürlich nicht helfen. O wie traurig das macht, nicht zu wissen, was gut für uns sein wird! Wissen Sie, was mein Leben bisher gewesen ist? Gut war es, reich, liebevoll und angefüllt mit tausend schönen Dingen. Klingt es nicht lächerlich, zu sagen, daß ich oft sehr unglücklich bin und darbe? Mein Leben ist wie ein blaues Wässerlein hingeflossen, wohin rinnt es? Muß es nicht irgendwo hinlaufen, all seine kleinen Schätze zusammenraffen und sagen: Da!? – Niemals wird es das können. Ich habe ja nichts, ich habe alles ja nur für mich, es bleibt in mir und bringt weiter nichts hervor. Das bißchen Gutsein mit Uto (das bin ich) meinen Sie, das gilt? Nichts kann ich ordentlich. Ein bißchen zeichnen, ein bißchen malen, ein bißchen schreiben und ein bißchen Klavier spielen. Dafür weiß ich freilich entsetzlich viel, was hilft mir das? Ich bin doch eine Frau, und die will, was sie auch habe, immer nur drei Dinge, das Allereinfachste: einen Menschen liebhaben, für ihn sorgen – da hab ich ja nun Uto – und so viel Kinder haben, wie sie kriegen kann. Ich werde niemals Kinder haben können, weil ich als Mädchen einmal krank gewesen bin und operiert werden mußte. So hab ich denn mein Leben nur für mich allein. Mit keinem andern Leben kann ich es verbinden und weitergeben, ich kann hier nicht bleiben, wenn meine Zeit um ist, ich gehe ganz fort, wie ich allein gewesen bin. Nur die Erinnerung bleibt vielleicht eine Weile.

»Hier,« sagte der Maler, »legte ich damals den Brief fort. Ich hatte inzwischen das Bild dort angefangen und saß davor, als ich den Brief las, und an dieser Stelle fing ich wieder an zu malen, als ob irgend etwas mich antriebe, es fertigzumachen. Ich arbeitete auch einige Tage, mußte aber wieder aufhören, weil ...«

Er unterbrach sich: »Ich will eben zu Ende lesen.«

»Nun, schreibt sie, bin ich also bei diesem Briefe aus Afrika angelangt. Mein Vater ist ja so reich, daß schon früher, so unglaublich es scheint, Leute gekommen sind, die mich mit in Kauf nehmen wollten. Als Juden waren sie aber patriarchalisch gesinnt, wollten also Erben haben, und wenn mein Vater ihnen in meinem Auftrage sagte, daß sie darauf bei mir nicht zu hoffen hätten, gingen sie wieder. Ich glaube auch, daß kein ordentlicher Mann, der eben nicht eine Frau über alles liebt, sie heiraten wird bei der Gewißheit, daß die Ehe kinderlos bleiben wird. Nur dieser Christ hier ist standhaft geblieben. Er ist ein guter, ernster, tüchtiger Mensch, er teilt auch meine Neigungen in seiner Art, wir würden uns gewiß vertragen.

»Denken Sie, mein guter Junge, das ist nun das erstemal, daß man mich vor einen Entschluß gestellt hat. Ja, und hier, wo es einmal aufs Leben ankommt, habe ich also nichts gelernt. Was werde ich ihm schreiben? Noch nie habe ich einem Menschen etwas geschrieben, das ihn traurig machen konnte. Es muß aber wohl sein ... Nun und so weiter.«

Der Maler faltete den Brief, steckte ihn ein und schwieg.

Überdem ward Georg inne, daß seine Gedanken, wie seine Augen, schon seit geraumer Zeit an Anna hafteten. Ob sie wohl ganz verstand, was der Maler gelesen hatte, ob sie es empfunden hatte? – Er sah ihren am Boden stehenden linken Fuß im weißen Schuh und das sichtbare Stück des sanft gerundeten weißen Beins, wie es im hellen Schatten des Rockes verschwand, und er fröstelte leicht, auf einmal, da seine Augen höher gingen, im Unsichtbaren, denn er konnte sich keine rechte Vorstellung machen von dem Bein und seiner Bekleidung, nur daß dort alles süß und süßer und atembeklemmend wurde, empfand er. Abgleitend, verwirrt, sah er mit kälterem Schauder ihr liebliches Gesicht, gesenkt, Schatten der Lider unter den unsichtbaren Augen, den blassen, zarten Mund und das seltsam lebendige Haar, in dem ein Hauch, ein Gold und ein Wesen war, das Sehnsucht erregte, das es so anders machte als jedes andre Haar, als sein eignes vor allem, dergestalt daß es sinnlos schien, es mit ein und demselben Namen zu nennen. War nicht – ja, war nicht seines nur gewachsen, um den Kopf zu bedecken, – aber das ihre war Verlockung über und über. Seine Haut im Nacken krauste sich, es durchloderte ihn, sie an sich zu drücken, ganz und gar, ihren Leib zusammenzudrücken, alles zu wissen, alles ... Und sie? dachte er, dies abschüttelnd. Ach, was dachte sie, was dachte sie nun? Flog sie vielleicht – nur scheinbar, nur mit ihrer Haltung lauschend – über Meer und Inseln, Wolken zu, von Wolken beschattet, unbegreiflich hoch über der festen Erde? Dachte sie an ihn? fühlte sie ihn? –

Magda hob langsam die Lider, langsam das Gesicht, und plötzlich waren da ihre Augen, dunkel und fremd, auf ihn gerichtet – und dann lächelte sie – und wurde wieder ernst – und jetzt – jetzt errötete sie ganz langsam, aber immer tiefer ...

Georg hörte die Stimme des Malers, zwang sich fortzusehn und zu hören, erinnerte sich der Judith, sah einen fernen, unbestimmten Frauenkopf in einer Dämmrung, – was hatte sie geschrieben? » ... mich in Kauf nehmen wollten, so unglaublich es scheint ...« O, das war hart wie eine Stahlfeder! – Der Maler sagte:

»Nun also das Ende. Ende September ... So, ich muß erst noch sagen, daß ich inzwischen ein Atelier in der Nähe von Judiths Wohnung bezogen hatte. Ende September also schrieb sie mir den Tag ihrer Ankunft aus München. Am Tage vor dem für ihr Kommen angesetzten wurde ich durch einen Boten zu ihr gerufen Sie war schon da, war zwei Tage eher gekommen. Nun war ein Unglück geschehn, sie war überfahren worden, sie lag im Sterben.

»Wie das zugegangen war, klärte sich eigentümlich auf. Ein Augenzeuge des Unfalls war ein Bekannter des Hauses. Er hatte, besonders von weitem, eine gewisse Ähnlichkeit mit mir in Gang und Haltung. Judith war kurzsichtig. Nun hatte dieser Herr Judith an einer Straßenkreuzung auf dem jenseitigen Gehsteig herankommen sehn – zwischen ihrer und meiner Wohnung. Er hatte gesehn, daß sie ihn bemerkte und ihm lebhaft zuwinkte, was ihn verwunderte – es galt aber mir –, und sie war dann, ohne achtzugeben, über den Damm gelaufen und von einer Straßenbahn zu Boden geschleudert.

»Sie konnte noch ein paar Tage leben. Am Morgen des folgenden Tages kam sie zu Bewußtsein, sprach mit ihrem Vater, schickte ihn hinaus und blieb mit mir allein. Sie wußte, wie es mit ihr stand, und sprach ruhig davon. Ich habe Papa beauftragt, dafür zu sorgen, daß du nie wieder Mangel leidest, sagte sie. Es fiel uns nicht auf, daß sie mich du nannte. Dann kam ein Augenblick der Schwäche, wo sie die Hand über die Augen legte, etwas weinte und gestand, das Sterben sei so bitter. Nun sterbe ich aber doch durch eine gute Torheit, sagte sie, ich, die ich so viel nichtsnutzige Klugheiten konnte. Um deinetwillen bin ich auf einen fremden Menschen zugelaufen, aber wir laufen immer auf fremde Menschen zu, und dann liegen wir unter den Rädern. Sonderbar geht es zu im Leben ... Und sie fand es sehr gut, daß ich noch viel törichter gewesen sei und nicht gemerkt hatte, daß eine Frau einen Mann über alles lieben muß, für den sie das tut, was sie für mich getan hatte. Sie wußte alles, und alles –« Bogner lächelte fremdartig vor sich hin – »alles konnte sie ausdrücken wie der al Manach.«– –

»Was sie sonst sagte, war nur für mich.«

»Nun fragte sie nach ihrem Bilde. Als ich sagte, es sei unterlegt, verlangte sie, daß ich es fertig machte. Sie wollte vor ihrem Tode noch wissen, sagte sie, daß doch ein Hauch von ihr hier oben bliebe, wo es hell und warm sei. – Ihr Schlafzimmer war groß und licht, das Bild wurde hereingeschafft, ich fing auch gleich an« ...

»Aber vorwärts kam ich nicht. Das Fenster war offen, ich hörte die Bienen und Käfer unter den Kronen der Bäume summen und konnte nichts sehn, bis ich fühlte, wie die Zeit fortrann. Vom Bett her hörte ich sie mehrmals etwas sagen, – ich sollte doch rauchen, sonst würde es wohl nie etwas werden. So ward es denn alltäglicher.«

»Sie starb, aber daran durfte nicht gedacht werden. Nicht gedacht, das ist es. Aber das Sterben war im Zimmer, es war in meinen Augen und meiner Hand, und es ist auf die Leinwand gekommen, und – und so sieht es nun aus.« – –

»Die Nacht wurde schlimm, nun – alles das braucht nicht gesagt zu werden. Ich begann zu malen am andern Morgen, als sie noch schlief, malte bis zum Nachmittag, und dann wurde ich lahm. Nur ihr Gesicht fehlte. Ich konnte es nicht mehr finden. Das war schlimm.«

»Sie selbst war schon sehr verändert, ihr Gesicht sah kindlicher aus und ganz klein, die Augen wollten sich nicht mehr öffnen. Nebenan hörte ich ihren Vater über den Teppichen auf und ab laufen. Wenn ich ihr Gesicht in der Dämmrung hinter den Bambusrohren und fliegenden Reihern ihres japanischen Wandschirms betrachtete, konnte ich sehn, wie das Leben gleich dünnen Schalen davon weggenommen wurde. Als sollte überhaupt nichts übrigbleiben. Einmal faßte ich mir ein Herz und redete sie an, in der Hoffnung, sie möchte noch einmal die Augen öffnen, aber sie konnte nicht. Die Zeit verging, und dann half es ja nichts, ich ging zur Staffelei und öffnete ihre Augen.

»Das wurde es, was Sie da sehn. Sie ist es nicht. Ich weiß nicht, was es ist. Es ist das, was ich gemacht habe.

»Gegen Abend wars fertig. Ich trug es in die Nähe ihres Bettes, sie erwachte, sagte, es sei so bunt, – und schlief noch einmal für eine Stunde ein.

»Später sprach sie noch mit uns, aber – – nun, das reichte für viele Jahre. Sie schwieg, wir warteten noch aus ein letztes Wort, aber es kam nur das langsame Kaltwerden.«

Der Maler war still. Es war dunkler geworden, und Georg sah, daß die Sonne hinter einem riesigen Gemäuer von weiß und grauem Gewölke stand, gerade in der Öffnung der Allee durch das Wäldchen. Magda hatte sich mit ihrem Stuhl wieder herumgedreht und sah zu dem Bilde auf. Bogner erhob sich, kam langsam durch den Saal bis zu Georgs Fenster und klopfte seine Pfeife aus auf dem äußeren Sims. Eine Weile später sagte er, hinausschauend:

»Sie war so dunkel und traurig innen. Aber das Bild, das von ihr gemalt wurde, ist Sonne, Wärme und kein Schatten als der eines Falters, der vorüberfliegt. Ich habe es nicht gemalt; durch mich wurde es gemalt. Sie war der Gottheit lieb. Ihr Sterbliches liegt auf irgendeinem Friedhof bei irgendeiner wilden Stadt. Es ist eine schmerzliche Frömmigkeit in der Welt, – sie hat keinen Namen. Sie war in ihr und in dem, der dies gemacht hat. Das genügt.«

Georg hatte vor verdunkelten Augen undeutlich die Schrift auf dem Bilderrahmen, und es zog ihm, seltsam einschnürend, durch die Brust: Liebe vergeht, doch es bleibt, was der Liebende schuf ... Vorgebeugt sah er von weitem einen Schein des Gemalten. Es leuchtete selbsteigen und zeigte geheimnisvoll sein unsterbliches Eigentum, den Schmelz von Dauer und Verhängnis auf einem Gesicht, das die goldene Luft berührt.

Augenblicke später merkte er, daß ein überstarker Seufzer seine Brust anfüllte, er mußte sich zurücklehnen und ihn langsam und vorsichtig entlassen, damit er nicht hörbar würde.

Im gleichen Augenblick gewahrte er, daß der Maler neben ihm sich zusammenraffte, einen Schritt zurücktrat und sich tief verbeugte. Georg wandte sich. Seine Mutter stand in der Tür.

 

Die Herzogin

Für Georg ging von der Erscheinung seiner Mutter ein Licht aus – Schreck und Staunen –, das er im ersten Augenblick kaum begriff. Sie stand da, voll in einem tiefen Sonnenglanz, gekleidet in ein gelbliches Gewölk, das an ihr rieselte, schlank, unverhofft groß, jedoch zierlich, und über dem sehr schlanken, freien Halse schwebte das schmale und zarte, hagre Gesicht mit gebogener Nase, zu deren Seiten, unter starken, schmerzlichen Brauen, die unbeschreiblich klugen und dunklen, braunen Augen leuchteten, – und aus dem dunkelbraunen Haupt kurzgeschnittener Locken fiel hinter der linken Ohrmuschel hervor die eine, kostbar lang und schwer gewundene bis hinunter am Hals in den Ausschnitt des Kleides. Ja, so stand sie, schwebend; Georg erinnerte sich nicht, sie je so gesehen zu haben, – freilich – wie oft hatte er sie gesehn in den letzten Jahren? keine sechsmal, und das letzte war Monate her. – Überdem streckte sie nun lächelnd den rechten Arm nach Bogner hin aus, und während der sich zum Kuß auf diese plötzlich erschienene kleine Anmutslinie, diese Welle von Fingern, Fingergliedern und Knöcheln, Handrücken, Handgelenk und Arm beugte, eilte Magda von der Seite heran, um an ihrer linken Hand zusammenzusinken, die vom leicht und schräg emporgestützten Unterarm so leicht herabwehte wie ein Blatt, worauf sie das Mädchen an sich zog, mütterlich mit dem Arm umschloß und küßte.

»Wie schön, Herr Bogner, daß ich Sie gleich zuerst treffe!« sagte sie, »nicht wahr. Sie sind der Maler?« Und, wieder zu Magda gewandt: »Nun, mein Kleines, was giebt es denn Gutes?«

»Ach, Tante Helene, etwas Herrliches! Ich bin geflogen, denke dir, mit einem Flugapparat, den Onkel Woldemar erfunden hat, er ist hier, ja, du kannst ihn sehn, wenn du magst, er steht gleich hinterm Wäldchen auf der Wiese!«

»Aber natürlich, den muß ich sehn. Stiefeln wir los!« sagte sie munter, »ist noch Zeit vor dem Abendessen?«

Georg blickte auf die Uhr, fand, daß es halb acht war, und sagte, es sei noch eine halbe Stunde. Seine Mutter nahm Magdas Arm und wandte sich zum Gehn, indem sie, den Maler mit einem zweiten, womöglich noch köstlicheren Lächeln beschenkend, zu ihm sagte, sie liebe sein Bild sehr, weil auf ihm das Allervergänglichste zu so viel Stille und Ruhe geworden sei; immer sei es wie der tröstliche Wink eines holden Geistes, sooft sie daran vorübergehe.

»Und nun,« sagte sie, über die Schulter den Kopf zu dem Bilde hinwendend und wieder zurück, »nun müssen Sie mir gleich etwas erklären. Wie ist das mit der Kontur? Darüber wird doch heut so viel gestritten, und die einen sagen, es gebe gar keine ...«

So ist sie nun ... dachte Georg. Einmal alle hundert Jahr kommt sie zum Vorschein und weiß alles –, aber was sagte denn dieser Maler da, dieser unglaubliche Mensch?

»Hoheit,« sagte der Maler, »wenn ich bei meiner Malerei je einen Grundsatz befolgt habe, so weiß ich von diesem Augenblick an, daß er recht war ...«

»Ach,« meinte sie lächelnd, »von diesem Augenblick? das ist reizend! Und nun den Grundsatz!«

»Alles, was lebt, Hoheit, leuchtet – wie es beleuchtet von außen wird – von innen, und wo das äußere Licht mit dem inneren sich mischt, da ist die Kontur. Sie ist sehr flüchtig, sie ist der Augenblick, in dem Gegenwart aus Vergangenheit und Zukunft besteht, die Ruhe auf der Flucht. Bin ich zu verstehn, Hoheit? Die Linie, wo das äußere Licht Seele wird und die innere Seele zu Licht, das ist die Kontur.«

Sie sah ihn ernsthaft an. »– wo das äußere Licht Seele wird?« antwortete sie. »Aber wie wird es Seele?«

»Ja,« sagte er nicht minder ernst, »und wie wird die innere Seele zu Licht?«

»Das war eine schöne Antwort«, nickte sie, im langsamen Vorwärtsgehn mittlerweil an der Saaltüre angelangt, die der Maler öffnete. Georg wollte folgen, als ihn plötzlich ein Zufallsblick auf Bogners Gemälde zurückhielt. Er ging rasch darauf zu, trat darunter und spähte angestrengt zu ihm empor.

Nein, sagte er bei sich selber, sie sieht doch nicht wie Mama aus, wie kam ich nur darauf?

Ihm war auf einmal sonderbar ängstlich zumut. Er suchte, weshalb das so war; vor seinen wieder gesenkten Augen flimmerten die auf dem Tapet liegenden Noten, er setzte sich auf den Drehstuhl, drückte gefühlsverloren eine Taste nieder, und minutenlang verging ihm alles in Leere.

Ja, nun weiß ich schon, sagte er aufschreckend und aufatmend. Hoheit, sagte er, und sie war nur ein Freifräulein aus Schleswig, und wie hatte er doch recht! Einen Tropfen königlichen Abenzerragenbluts soll sie freilich haben, ja einen Hauch womöglich von Boabdil el Chico her, aber –, den Zusammenhang einen Augenblick über phantastischen Vorstellungen versunkener, alhambrischer Herrlichkeiten verlierend, glühte er wieder auf. So sieht sie aus, so tritt sie hervor aus ihrem Dunkel, und dies Dunkel ist ihr Leben, da muß sie begraben sein, und es ist kaum einer, der es weiß und danach fragt. Ein Tier kann sich klaglos verkriechen und untergehn, aber mit ihr – – es ist doch –, ja, sollte man nicht meinen, daß mit dem Augenblick ihres Untergangs ein ganzer Hofstaat mit Damen und Rittern und Trabanten und Sklaven versinken sollte? Aber wie komm ich darauf? Ach! Boabdil el Chico, er zog ja wohl mit dem Untergang seines Reiches in den Berg ein, wo sie alle mit ihm schlafen, um in Mondnächten einmal zu geisterhaftem Leben zu erwachen ...

Wieder emporsehend aus seiner Beklemmung, gewahrte er noch immer und unwandelbar die leuchtende Fremde über sich sitzen.

Ja und du, sprach er vor sich hin, dich hatten wir gleich wieder vergessen, und ich weiß nicht einmal: ist das, was er von dir erzählte, wirklich gewesen oder nur erfunden, als könnte ich es in einem Buch gelesen haben? Nein, nein, es ist nur so mit dir: sprechen kann man nicht mehr von dir, kein noch so gutes Wort macht dich lebendig, alles, was von dir übrigblieb und lebt, das bist du dort oben. Wäre das dein Leben gewesen, was er erzählte? Begriffe warens doch, Auszüge, erklärende Exzerpte aus dem Lebensbuch, nicht das Leben selbst. Nicht Feuer des Auges und Luft beim Gang und Eintreten ins Zimmer, nicht die schlaflosen Nächte selbst und das Ankleiden am Morgen, wenn alles fremd scheint, und man weiß nicht, wozu. Die Stimme nicht, nur ein paar Gedanken, eine Flaumfeder des Daseins, – es war ja nur Bogners Stimme, war nur sein Ohr, sein Auge und Herz, die von alledem einen Abdruck genommen hatten und uns nun fühlen ließen mit schlecht empfindendem Finger. Was fehlte nicht alles an Wirklichkeit! All das unwichtig Scheinende grade, das doch das Allerwichtigste ist! – daß – ja was? Man vergißt es ja, so leicht ist es, aber daß, wenn sie sagte: Wir wollen zum Garten gehn, – sie eben davon nichts sagte, oder etwas sagte, das gar nichts galt, denn da war die Gebärde, in der schon der Garten war, an der man schon erriet, was sie wollte, eine Wendung des Halses, zu der sie vielleicht sagte: Wie wärs ... Oder: es ist ganz klar geworden, wir können am Ende ... Ach, und so war ihr Hauch fern an ihm vorübergezogen, lebend und sterbend, aber ihr Leben und ihr Sterben, die hatten ihn nicht getroffen, die waren ja lange abgetan, sondern daß der Maler sagte: Es ist eine schmerzliche Frömmigkeit. ... Nein, nicht einmal das, sondern: Das genügt ... Oder – auch dies nicht, sondern wie er es sagte, wie er die Pfeife ausklopfte und dann dastand und aus dem Fenster sah, und wie zu fühlen war, daß wieder in ihm lebte, was er einst getan und litt, und wie er das nun am Ende alles, alles zusammengriff und knotete in diese zwei Worte: Das genügt ... Und dann? Ja dann stand Mama in der Tür ... Lieber Gott, wie furchtbar, wie seltsam ist nur das Leben ...

Plötzlich fiel Georg ein, daß er sich ja zum Essen anzukleiden hatte, er schrak zusammen und lief hinaus.

Wie er aber den Flur hinunter am Treppenhaus vorübereilte, gewahrte er plötzlich unterhalb, in der ersten Biegung des Geländers Maler Bogner, der sein Skizzenbuch darauf gelegt hatte und darin zeichnete. Georg trat einen Schritt näher und blieb stehn, gleich darauf hob der Maler unten den Kopf, sagte: »Sie sinds«, machte wieder einen Strich und rief auf einmal, erwacht und emporsehend: »Achtunddreißig Jahre, nicht wahr, Durchlaucht?«

»Wie?« fragte Georg unverstehend.

Der Maler richtete sich auf, schlug sich mit der Hand auf die Stirn und sagte: »Welch abscheuliche Taktlosigkeit! Ich fragte nach dem Alter der Herzogin.«

Georg lachte. »Ja, das kann stimmen, sie ist drei oder vier Jahre jünger als Papa, und der ist im Februar –«

»Ich wußte es ja«, sagte Bogner, der ganz heiß und rot aussah, wie Georg jetzt entdeckte. »Eine Frau von achtunddreißig Jahren, wenn sie schön ist, ist der Inbegriff.«

»Ist Mama denn schön?« fragte Georg, nicht weil er es nicht glaubte, sondern um es zu hören. Der Maler zog die Brauen hoch und lächelte.

»Dummheiten«, sagte er. »Schönheit ist das einzige, was es nie gegeben hat!«

»Nanu?« – Ihre Stimmen hallten im Treppenhaus. »Was ist denn Schönheit, bitte?«

»Sie giebts ja nicht, sag ich doch. Oder – – ich will Ihnen sagen – – es steht im Faust. Wissen Sie die Stelle? Wie fängt es gleich an?

Wie alles sich zum Ganzen webt.
Eins in dem andern wirkt und lebt ...

»Hören Sie wohl, junger Mensch? Eins in dem andern wirkt und lebt!

Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Harmonisch all das All durchklingen!

»Harmonisch, haben Sie es gehört? Vollendung in sich selbst, Ordnung, Harmonie, etwas andres hat es nie gegeben. Warum giebt es uns denn, Maler, Dichter und so weiter? Damit wir sie herstellen. Wir sehen sie, und wir stellen sie her, indem wir das eine weglassen und das andre betonen, jene Teile betonen, welche die Harmonie ergeben. Wir breiten das Kleid der Muttergottes und ordnen die Engel herum, wir ziehen aus einem Bündel Suppenkraut, einem Tontopf und einer gewürgten Ente drei Tupfen von erlauchtem Grün, und da fühlen Sie sich wohlgetan an Ihrer plötzlich sehenden Seele! Was aber schön ist, leuchtet aus ihm selbst! Haben Sie das nie gelesen? Unglaublich! Achtunddreißig Jahre alt und die Mutter dieses Knaben!«

Er lachte, aber merkwürdig verwirrt. Georg lachte mit, an seiner ganzen Seele geschmeichelt und getröstet, daß die Mama einen solchen Feuerbrand in diesen Maler geworfen, vielmehr Wasser aus dem Felsen geschlagen hatte, denn wie strahlte er auf einmal von Beredsamkeit. Jetzt, da er sich schon zum Tiefersteigen gewendet hatte, kam der Maler hingegen die zehn Stufen heraufgelaufen, blieb unter Georg stehn und sagte:

»Haben Sie das eigentlich gesehn? Die rechte Hand, mit dem Arm, wie ich sie bekam, und wie das floß! Und die linke erst, wie der Oberarm nach unten ging, und der Unterarm wieder nach oben, und dann die Hand und die Finger herabflatterten wie ein Weinblatt, und wie all das floß aus der Gestalt und wieder zurück, und dann die Locke, haben Sie vielleicht die Locke überhaupt gesehn? Ach, sieh an, waren Sie das nicht, der mich heut fragte, was eine Seele wäre? Haben Sie sie nun gesehn, diese Seele eines Armes und einer Hand? Herzogtümer!« rief er, »und ich werde es malen!«

»Wenn sie nicht so leidend wäre ...« sagte Georg traurig und leise.

»Ach,« meinte Bogner, der sich um das Leiden nicht zu kümmern schien, »es brauchten ja keine endlosen Sitzungen sein! Eine gute Photographie täte es auch, und wenn ich die Herzogin nur noch dreimal, nur noch einmal sehn könnte ...«

Georg nickte lebhaft. »Bitten jedenfalls müssen Sie darum! Es wird sie ja so freuen! Wir müssen uns hinter Papa stecken, wissen Sie! Er muß sich das Bild als Geschenk ausbitten, aber es wird höchste Zeit, wir sind beide noch nicht im Frack, entschuldigen Sie, und auf Wiedersehn!«

Aufgeregt und entzückt und beklommen entlief er.

Nach dem Waschen, nötiger Befriedigung sonstiger Bedürfnisse und dem Ankleiden, womit er, vom Diener unterstützt, in Minuten fertig wurde, fand Georg, daß seine Erregtheit einen hohen Grad von Kälte und seltsamer Starrheit angenommen hatte. Er mußte die Brust dehnen und tief atmen, allein es half nichts, die Pressung, die Atemnot blieb, die Hände, obwohl blank und trocken, schienen ihm feucht, seine Gedanken irrten, er dachte fortwährend, in solchen Bruchstücken jedoch, daß ihm selber nichts mehr bewußt wurde, doch dachte er an Anna. Die Uhr einsteckend, bemerkte er, daß noch ein paar Minuten an acht fehlten, und trat, um sich zu sammeln, noch einmal in sein Zimmer und am Schreibtisch vorüber vor das rechte Fenster, das er öffnete. Die Hände flogen ihm plötzlich dabei, sein ganzer Oberkörper zitterte nach, in heftigster Angst neigte er sich vor, um nach ihr zu sehn ...

Aus den vielen Schatten umher war unterweil alles Schatten und Abend geworden. Ringsum standen die Wipfel in schöner Glut, die sie von Westen durchbrach; das Geräusch des Meers war in der Ferne hörbar, die Luft war kaum bewegt und schon kühl. Auf der Terrasse war der Abendtisch gedeckt. An der Brüstung lehnte Onkel Salomon mit einer Zeitung und las. Egloffstein, alt, rasiert und gebückt, ging lautlos um die Tafel, rückte an den Stühlen und drückte eine gefaltete Serviette zusammen; plötzlich glänzte der Atlas seiner Kniehosen ganz rot auf der einen Seite. – Sonst war niemand zu sehn.

Wie einsam bin ich auf einmal! dachte Georg. Ja – bin ich es nicht immer, wir alle? Aber der Abend! Es ist so fremd und verworren alles, aber der Abend dringt so einfach und so sanft in das Blut. – Wieder von innerem Frost geschüttelt, grub er sich heftiger ins Gedachte. – Das Wirkliche, ja – wie ist es immer so fern und wie verschollen, unbegreiflich wie die Toten und ihre Erinnerung, wie diese Judith, die gewiß allen glücklich schien, – so wie Mama, wenn sie einmal erscheint, – und die lebte, damit ihre scheidende Seele in die Farbe eines glückseligen Bildes schmelze, ach, eines Bildes, das tröstet und belebt, wie Mama doch sagte. So über alle Maßen stark ist das einfach Sichtbare und das Leuchtende, das Schöne! –

Georg sah die rote Sonnenscheibe plötzlich durch die alten Baumwipfel glühn. Gereinigt lag alles da, atmete sanften Eifers und ward dunkel.

Ach, da gehen die Beiden! – Hinausgebeugt sah Georg weit zur Linken ein paar ganz goldene Stämme am Rande des Hains, ein Busch daneben stand in feurig roter Lohe, unbegreiflich stille brennend und unverzehrt. Wohl von der äußeren Allee her, die Georg nicht mehr sehen konnte, kamen die beiden Frauengestalten langsam Arm in Arm, auf den Busch zu und vorüber, die weißlichgelbe und die lichtgrüne, und jetzt, da sie vor die Lichtung der Mittelallee gekommen waren und stehenblieben, flammten sie, glutübergossen, rötlich und golden auf; dann bewegten sie sich wieder, erloschen und wanderten im Bogen um den riesigen grünen Platz unter dem Nordflügel einher, so daß Georg nun auch die Gesichter sehen konnte. Hoch darüber, in seliger Lautlosigkeit brannte ein feuerdurchronnener Wipfel. Der Himmel war nun weit aufgetan und nur Licht. Georg hörte die Tauben auf dem Dache unsichtbar, dort, wo es noch ganz hell war; unten der Schatten ... Geliebte und Mutter, beide wie fremd, wie schön, wie verzaubert! Da schien ihm der Garten unten ein magischer Garten, eine Gegend, wo Abgeschiedene sich ergehn, die mehr still als glücklich sind, obgleich von vieler Schwere befreit. Er, oben darüber, konnte nicht hinein, – und wollte er vielleicht?

Ach, das war der Schein, das war der Abend! Nun war sie für eine Stunde von den gröbsten Qualen befreit, für eine Stunde ... Du lieber Gott, es gab ja viel Ärmere, immer noch Ärmere! solche, die unter Brückenbogen schliefen, und Zuchthäusler und Sibirien und entsetzliches Menschendasein, zu Dutzenden in einem Zimmer, mit allem Schmutz und allen Verrichtungen zusammengepfercht, und dies war der Grund der Welt, abgründig in immer tieferes Leiden hinunter, und er hier oben, nach Thronen und Kronen lüstern, wie rechtlos!

Da erinnerte er sich. Ja, habe ich das denn ganz vergessen? fragte er sich fast entsetzt. Warum vergaß ich denn das so? – Überdem aber erschien ihm das Gesicht seines Vaters während der letzten Minute ihres Beisammenseins, erschien ihm Zug um Zug, wie eingebrannt in die Luft, und plötzlich mußte er denken: Aber wie sonderbar, daß er immer nur von mit sprach! Das bedachte ich ja gar nicht! Von meiner Großjährigkeit sprach er, und daß dann die Jahrhundertfrist abgelaufen sein würde, – und übrigens, warum lächelte er fortwährend so geheimnisvoll? Und warum will er selber, er ist doch kein alter Mann, warum also will er selber nicht zur Regierung? Er hielt ja freilich vom Ganzen nicht viel, aber mich wollte er doch, scheints, dazu haben! Seine Lahmheit? Oder ist es der Kummer um Mama, die an nichts mehr teilnehmen kann? Ja, würde es anders sein, wenn er, wenn sie Beide gesund wären – – ?

Indem erschienen der große Chalybäus und Baschkirtseff vom Verwalterhause her und trafen mit den Frauen, die sich umgewandt hatten, zusammen. Der Mime verneigte sich vielmals. Er wird sie belustigen, dachte Georg, und sie wird ihn am Halfter haben wie ein Maultier. Jetzt wurde in der weit offenen Tür zum Vogelsaal der Herzog sichtbar, wankte, mit den Stöcken vorausfußend, eilig zum Tisch und setzte sich; Egloffstein trug die Stöcke ins Haus.

Georg, Anna mit einem Blick streifend, mußte plötzlich die Augen schließen. Es brandete rot, grüne Kreise erschienen, und während sie sich vor und zurück dehnten, zwang er Anna, zu erscheinen, sie kam, nein, sie lag an ihm, er spürte ihren ganzen Leib, Brust und Knie, ihr Kopf lag an seiner Schulter, von übermäßigem Durst erfüllt, beugte er sich darauf, es zerging ...

Der Leutnant, grün und rot in Jägeruniform, kam mit Bogner um die Ecke des Nordflügels, Magda ging ihnen entgegen, Georgs Mutter stieg eben die Terrasse hinauf; an Doktor Birnbaum, ihm zunickend, vorüber ging sie um den Tisch zu ihrem Mann und küßte seine Stirn, während er sich halb erhob. Nun haben sie Beide Mitleid miteinander, dachte Georg und konnte sich, verschwimmenden Auges, nicht losreißen vom Hinsehn. Ist das Leid, fragte er sich, vielleicht noch trauriger, wenn es so schön ist? – Ach, du, du, du, herrschte er sich an, du siehst ja immer nur zu, und was zum Teufel liegt daran, wie etwas aussieht, oder was es bedeutet, da doch ganz blind ist, wer leidet, und nichts sieht als die Qual, tage- und jahrelang!

So entschloß er sich, aufzustehen, und ging hinaus.

 

Abendtisch

Also darum? Merkwürdig! dachte Georg, als er, anstatt durch das Haus zu gehn und vom Vogelsaal her die Terrasse zu betreten, um die Ecke des Flügels kommend, Magda allein zur Seite der Treppe bei den Rosenstöcken stehn sah, in der Absicht scheinbar, eine zu pflücken, derweil oben über der Brüstung eben die Andern sich um den Tisch niederließen, so daß von ihnen alles verschwand, während Georg näher ging, bis auf Köpfe und Schultern. Eiskalt, von Schaudern Zitterns innerlich mehr als äußerlich fortwährend überlaufen, klopfte ihm stärker das Herz bei dem Gedanken, daß sie und er jetzt von keinem gesehen wurden. Als er den Weg von der Seite her auf sie zuging, blickte sie um, errötete sonderbar und lächelte. Georg, nach einem Einfalle jagend für eine Verabredung nach dem Essen, fand nichts und sagte schließlich stockend, auch von einer plötzlichen und süßen Reue ergriffen: »Du mußt mir noch von deinem Fluge erzählen, ja?«

Da hatte sie sich wieder dem weißen Rosenstock zugewandt, der etwas niedriger war als die andern; das Gras um ihn her war wie bei den andern mit abgefallenen Blättern bedeckt, und von den Blüten am Strauch waren nur wenige noch vollkommen, auch diese, weit offen, zeigten ihre gelben Staubgefäße. Er sah das alles, neben ihr stehend, während sie nur leise, ohne zu antworten, den Kopf hin und her bewegte, dann, vom Wege sich etwas überbeugend, den Stamm erfaßte und leicht schüttelte, so daß noch Regentropfen und eine Menge Blätter abflatterten; gleichzeitig, als ob sie allein wäre, sah sie nach oben, wo Stimmengewirr und Gelächter tönte und ganz rechts der Kopf von Georgs Vater im Profil sichtbar war, links von ihm Kopf und grüner Rücken des Leutnants. – Sie wollte nun eine noch halb geschlossene Rose ablösen, aber der Stiel war zäh, Georg sah versunken zu, wie sie heftiger zerrte, – Blätter über Blätter entflatterten beständig, er dachte, sie macht Schmetterlinge ... endlich hatte sie die weiße Blüte in der Hand, nahm sie in die andre, bemerkte einen roten Tropfen am Mittelfinger der rechten, drehte sich langsam zu Georg und streckte ihm lächelnd den Finger entgegen, sanft damit über seine Lippen streichend, so daß der Tropfen sich verwischte. Ihr Kopf sank allgemach auf die Brust ...

»Anna! – Ist dir etwas? – Anna!« brachte er heiser hervor.

Sie sah verwirrt auf, schien plötzlich zu begreifen, wo sie war, lachte hell auf.

»Nachher! Nachher!« rief sie ihm zu, während sie den Weg hinab, um die Ecke und die Treppe hinauflief. Georg begriff nichts und sprang hinterdrein; die letzten Stufen ersteigend, sah er, wie sie die Rose, um den Tisch laufend, vor Bogner auf den Teller warf. Georgs Mutter neben ihm sah auf, lächelte und nickte erst Magda, dann ihm selber zu, und er setzte sich auf den freien Stuhl ihr gegenüber zwischen den Leutnant und Magdas Vater. Noch sah er, wie sie, links von seiner Mutter sich setzend, sich vorneigte, um dem Maler zuzunicken, dann glitt ihr Blick zu ihm herüber, und als er ihn traf, versüßte ihr ganzes Gesicht mit einem innern Erschrecken sich dergestalt, daß ihm das Herz stillstand. Sie schlug die Augen nieder. Nun wußte er alles, alles! Einen Augenblick war alle Angst verflogen, das Süße, das er bekommen hatte, durchsickerte ihn, langsam kehrte die Angst, und heftiger nur, zurück, aber nun lauerten Ahnungen, überwältigend schon von fern, in der Tiefe, Triumphe, von denen er den Blick wegwenden mußte, um alles aufzusparen, und so saß er denn in sich selbst wie in einem schütteren Gehäus von Gluten und Frost, aß derweil, nahm von Schüsseln und Platten, die links von ihm erschienen, und aß Salat, oder Mayonnaise, kalten Braten, oder was es nun war, saß und brauste, und war umbraust von vor- und rückwärts bewegten Gesichtern, Augen, die ihn streiften, lachenden Mündern, Gabeln, die auf und nieder gingen. Gläsern, sah dazwischen plötzlich das Gesicht von Franz, der, eine Schüssel reichend, mit unerschüttertem Ernst und teilnahmslos darauf niederblickte, und schon war alles vergangen, eine Wasserfläche schien vor ihm zu sein, in die beständig kleine Steine geworfen wurden, so daß es Ringe gab, die sich ausdehnten, einander kreuzten, aufhörten und wieder begannen, bis das Wasser schaukelte und Wellen schlug. Tief unten darin war vielleicht Annas Gesicht oder ein Rosenstrauch und ein durchdringendes Auge in ihm.

Einmal hörte er lauter Gelächter aus dem Wirrwarr, jedes einzeln, Annas leichtes, reines, Baschkirtseffs prächtiges, schön abgedämpftes Bühnengelächter und das helle, ehrliche des Leutnants. Einmal war da Bogners Gesicht, einsam, irgendwie dunkler als die andern und wie aus Erz. Einmal dachte er, sie schössen unablässig mit kleinen Pfeilen aufeinander über den Tisch, und eine Weile später merkte er, dies Pfeileschießen war die Unterhaltung. Richtig, wie Federbälle, ungefährlicher als Pfeile, flogen die Reden hin und her, wurden aufgefangen und zurückgeschlagen, wobei der Auffangende sich mitunter weit hinten überlegen mußte, und übrigens schienen mehr Bälle im Spiel zu sein, als verwandt werden konnten, denn nicht selten kam es vor, daß einer ganz unbeachtet blieb und irgendwo auf die Tischkante fiel und hinunter, wobei nur der, welcher ihn geschlagen hatte, ihm nichtssagend nachlachte. Ja, was war das nun eigentlich?

Da sah er sie alle um den Tisch sitzen, aus der ganzen Windrose schienen sie zusammengeweht: Leutnant und Mime, junges Mädchen und Maler, Papa, Mama, Onkel Salomon und der große Chalybäus, und doch war dies ein schönes und glattes Hin und Her, und war ein Wetteifer dabei, so wars der, möglichst sicher zu werfen, nicht zu gewinnen, sondern im Gegenteil es dem Mitspieler leicht zu machen, aber wie brachten sie das fertig bei ihrer Verschiedenartigkeit, und wie hatten sie sich mittags gestritten, wo es doch noch weniger waren?

»Warum so still, mein Junge?« hörte er indem seine Mutter sagen und sah sie auf einmal zu ihm herübernicken.

Freilich, natürlich! Sie war das Ganze. Mittags waren es ja lauter Männer gewesen – unter denen Anna kaum gelten konnte. Dies aber war ein Gewebe, und seine Mutter war die Meisterin davon. Sie hatte den Aufzug unsichtbar bereitet, sie hielt alle Fäden des Einschlags in der Hand und ließ sie hineingleiten, ohne daß jemand es merkte, als hätte sie sich in alle verteilt und lenkte sie von innen, in jedem erratend, was paßte, und mochte sie sich einmal geirrt haben, so war sie es wieder, die es mit unmerklichem Griff veränderte, so daß es paßte und im Gewebe verschwand. Sogar der Baschkirtseff hatte alle Selbständigkeit aufgegeben; zwar glaubte Georg sich zu erinnern, daß er eine Schnurre von Kainz und ihm selber erzählt hatte, aber sie war ganz klein, und ein Anekdotenerzähler mit Maßen durfte in einer richtigen Gesellschaft ja so wenig fehlen wie der Narr im mittelalterlichen Hofstaat. – Und bei alledem hatte sie es noch fertiggebracht, seine Schweigsamkeit zu bemerken ...

»Mein Sohn Georg«, sagte sie jetzt, »war gewiß sehr traurig, daß er nicht mit Ihnen fliegen konnte, Herr Leutnant! Meine kleine Magda war ja außer sich vor Entzücken. War denn das aber nicht zu gefährlich, auf die See hinaus ...«

»Ach,« sagte der Leutnant, »das Meer war immer vorne, weil ich aber doch mit geistigem Auge immer hinter mir war, hab ichs gar nicht gesehn.«

»So, sie saß hinter Ihnen«, bemerkte die Herzogin leicht, wie zur Erklärung für sich selber, während der Leutnant Magda anlachte, die dunkelrot wurde, aber tapfer erwiderte, davon hätte sie nichts gemerkt, er hätte ihr bloß die Aussicht weggenommen mit feinem Lederrücken und außerdem ihren Schwan überfahren.

»O, war das Ihrer, Gnädigste? Ich lasse sofort einen neuen kommen. Wo bekommt man die?«

Die Herzogin wies ihn an Doktor Birnbaum, der wisse alles, und er sagte gleich: »No – in Alfeld, oder jedenfalls bei Hagenbeck.«

»Hagenbeck?« sagte der Baschkirtseff, von der Herzogin angesehn, »der hat ja bloß Apen und Boren, und auf einem Pappfelsen hat er einen Kondor angebunden, ich hab mal 'n Plakat –«

»Wer war bei Hagenbeck?« fragte die Herzogin. »Ich muß wissen, ob er Pinguine hat. Die sollen ja die klügsten Tiere sein, und seit mein Mann das Buch von Anatol France gelesen hat, wünscht er sich immer Pinguine zu Weihnachten.«

Sie blickte auf Chalybäus, und richtig, der hatte sie gesehn. Sie gingen hin und her, sagte er, und wackelten mit dem Kopf. Sie sähen wie Dekane aus und könnten nicht mal fliegen.

»Man wird es ihnen beibringen«, erklärte der Leutnant Georg großmütig, während seine Mutter sagte:

»Ich fürchte, Woldemar, Herr Leutnant Kaspar wird beim Fortfliegen noch die Wetterfahne von Helenenruh mitnehmen oder ...«

»Die Wetterfahne, Helene? Ein Leutnant und Wetterfahnen? So was mußt du nicht sagen. Wenn noch – Georg hörte den Baschkirtseff einen Vers aufsagen, in dem sich Mensch auf wetterwendsch und »äußerst wenig vaterländsch« reimte, während der Herzog zu Ende sprach: »– der alte Stechlin lebte, der sammelte ja welche, da könnte er sie hinbringen.«

»Also, Chalybäus, da müssen Sie aufpassen!« mahnte die Herzogin.

»Ums Himmels willen, Durchlaucht! Ich habe eine erwachsene Tochter, man wird sie mir über Nacht entführen, samt Wetterfahne und allem!«

»Was für Zeiten!« klagte sie. »Früher kamen Götter in Schwanengestalt, heute werden Schwäne überfahren, wobei mir die Leda von Klinger einfällt. Hat er nicht jetzt ein Wandbild in Leipzig gemalt? Kennen Sie es, Herr Bogner?«

Bogner war seines Wissens nie in Leipzig gewesen.

Dann mußte Georg es wissen, und, von seiner Mutter lächelnd angeblickt, merkte er sich schon den Mund öffnen und erklären, es wäre eigentlich kein Bild, sondern mehr eine große Illustration.

»Was für einen klugen Sohn ich doch habe«, sagte seine Mutter und hob die Tafel auf. – –

Zu Georg sagte sie dann, als er zum Handkuß zu ihr kam, er dürfe jetzt einmal eine Weile verschwinden, sie habe mit seinem Papa ein paar Worte zu reden, und er merkte an ihrem Lächeln tief gerührt, daß es sich um seinen Geburtstag handle, – auch daran dachte sie. Anna, die plötzlich neben ihm stand, meinte leichthin, sie könnten vielleicht noch ein Stückchen gegen den Deich gehn, zu Lornsens Mühle, und sehn, wie der Mond aufginge.

»Schieß Mäuse! Georg!« rief sein Vater, »bleibt aber nicht zu lange, sonst trinken wir die Bowle allein!«

Georg nickte und lachte, sich erinnernd, daß von einer »Pelikanbowle« die Rede gewesen war, und hörte im Enteilen noch seine Mutter ihm nachrufen, er solle Stiefel anziehn, da es gewiß noch naß in den Wiesen sei.

Über Treppen und Flure gestürmt, schöpfte Georg Atem auf einem Stuhl im Ankleidezimmer. Jetzt kam es, jetzt, jetzt! Alles stand in ihm still, Leere war, furchtbare Beklommenheit, die selig machte. Aufspringend, wühlte er sich in den Kleiderschrank und fand einen pfefferundsalzfarbenen Rock mit Taschen, Klappen, Riegeln und Hornknöpfen, den er anzog, während er mit dem Fuß die Türen zum Stiefelschrank öffnete. Eine Minute später stand er völlig besinnungslos auf dem Flur und suchte in allen Abgründen seines Gedächtnisses, was er vergessen hatte. Endlich fiel ihm das Teschin ein, er lief die Treppe hinab und durchs Billardzimmer in die Gewehrkammer, wo er sich dreimal im Kreise drehte, ahnungslos, was er hier wollte, das kleine Jagdgewehr in der Ecke stehn sah, einen Schrank aufriß, eine Handvoll Schrotpatronen heraus, und sie in die Tasche stopfte. Den Flur ging er langsam hinunter, jetzt in großer Furcht. Er merkte, daß er, das Gewehr in der Linken, eine Patrone in der Rechten, beständig beide miteinander verglich, ohne ihren Zusammenhang zu erraten, doch ging er ihm nun auf, er schob die Patrone in den Lauf, sicherte und hörte sich halblaut und zitternd murmeln, was er innerlich schon die ganze Zeit gemurmelt hatte: »Warum gabst du uns die tiefen Blicke ...«


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