Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Nun durchbebte ein Leben voll Jugend, Lachen und Heiterkeit das einsame Haus. Des Morgens früh schon ertönten die Hallorufe der Brüder, mit denen sie sich und die andern begrüßten, das Jauchzen des Kindes, das im Hemdchen, bloßfüßig, von der Mutter auf den sonnenbeschienenen Hügel getragen wurde, wo Mutter und Kind miteinander jagten und im Grase sich wälzten. Bei den Mahlzeiten und am Abend erzählten die Söhne von ihrer »Heimat«, von ihrer Farm, die wohl zehnmal so groß an Äckern sei, als sie in Treuen gehabt hatten, von den Büffelherden, von den Negern, die bei ihnen arbeiteten, von dem schweren, großkörnigen Weizen, den man »drüben« baute, wie die Erde dort fett und schwer und fruchtbar sei, das Obst üppig wachse, Äpfel dreimal so groß würden wie die hier. Und wenn sie bei ihren Vergleichen von der Heimat, der wirklichen Kinderheimat sprachen, verzogen sich ihre Lippen in leichter, übermütiger Verachtung. Aber sie erzählten auch, wie man kämpfen müsse, noch ganz anders arbeiten als hier, und auch dabei lächelten sie verächtlich. Sie erzählten, wie man dort bete und Andacht halte, einen Altar im eigenen Hause habe, und der Bischof zu ihnen käme, die Kinder zu taufen, die Toten zu segnen und die Kirchensteuer zu erheben. Von den Riesenstädten erzählten sie, von den Eisenbahnen, in denen man tage- und nächtelang fahre, dann von dem Schiff, ihrer Reise über das Meer. Sie erzählten laut und etwas prahlerisch, als wäre alles nur ihr Besitz und ihr Werk, doch waren sie nicht stolz. Der Knecht und die Magd staunten sie an. Klara und Emma ließen ihre Blicke mit trauriger Bewunderung auf den energischen Männergesichtern ruhen. Sie suchten die Kinder in ihnen, die einst fortgezogen waren, sie fanden in Augen, Haaren und ihren vollen, geschwungenen Lippen die Erinnerung an die tote Mutter wieder, an ihren fremden Zauber, der doppelt fremd ihnen in den Kindern sich wieder zeigte, doch sie fanden das nicht mehr, das sie geliebt und mit Herzensfreude zurückerwartet hatten. Auch sprachen die Söhne nie von Vergangenem, und auch von den Alten wurde ja nie mehr daran gerührt. Klara trug die kleinen Erinnerungen, die sie wach hielt, streng verborgen in ihrem Herzen. So war in das Haus Frohsinn und Heiterkeit gekommen, ohne jedoch Freude, innige Teilnahme oder Vertrautheit zu erwecken.

Nur der Vater schien völlig zufrieden und mit allem einverstanden zu sein. Wenn die Söhne am meisten prahlten, am lautesten lachten, wenn sie den beiden Frauen am fremdesten erschienen, dann lächelte auch er, er stand von seinem Platze auf und klopfte jedem von ihnen auf die jungen kräftigen Schultern. Dann wurden die Männer zu Kindern, sie erröteten und senkten die Blicke. Dagegen war der Vater zurückhaltend zu dem Kind, das er nie liebkoste, kaum beachtete, und zu dem er nicht sprach. Das Kind und seine junge Mutter konnten nicht Deutsch sprechen, und wenn die beiden Brüder sie die heimatlichen Namen lehren wollten, konnten sie es kaum nachsprechen, so sehr wurden sie von Lachen geschüttelt.

Die Mutter und das Kind lachten und spielten den ganzen Tag zusammen, niemals war die junge Frau bei einer Arbeit zu sehen. Das Kind war sehr stark und groß für sein Alter. Es hatte braune Haare wie seine Mutter, und sie waren schon so lang, daß sie in einer kleinen Frisur aufgebunden wurden. Seine großen und dunklen Augen glichen denen des Vaters. Es schrie, sang und sprach mit kräftiger, auffallend tiefer Stimme. Es war sehr wild und quälte seine Umgebung oft mit trotzigen Launen. Von den beiden Frauen, die es voll Entzücken umwarben, wandte es sich ab, und als Emma es einmal mit sanfter Gewalt in ihre Arme schließen wollte, wehrte es sich schreiend und schlug ihr mit den Händchen in das Gesicht, vor dessen Narben es sich anscheinend fürchtete, denn von diesem Tage an lief es davon, wenn Emma ihm allein begegnete. Dagegen wendete es sich mit der ganzen Hingabe kindlicher Liebe dem Knechte Martin zu. Der lebte still und unerkannt vor den Augen seiner wiedergekehrten Freunde, lauschte ihren Reden, betrachtete ihre Gesichter, ohne daß sie auf den schweren, dicken Mann mit dem großen vollen Bart und dem fremden Namen achteten. In schweigendem Einverständnis hatte auch niemand seiner erwähnt, auch von seiner früheren Existenz niemand gesprochen. Das Kind aber war sofort am zweiten Tag zu ihm gelaufen, hatte seine Beine umschlungen und sein lachendes, braunes Gesicht zu ihm emporgerichtet.

Er hob es auf seine Arme. Es schlug zausend die Händchen in seinen lockigen Bart und lachte, plötzlich aber legte es ernst und still seinen kleinen Mund auf den des Mannes und küßte ihn. Dann lachte es wieder.

Es lief ihm bei der Arbeit überall nach, in die Ställe, auf die Wiesen, ja die Mutter mußte es sogar auf die Felder tragen, wenn er dort arbeitete, so lange schrie und bettelte es. Martin ließ das Kind auf seinem Nacken reiten, oder er setzte es auf eines der Pferde, hielt es sorgsam fest und ließ es traben, er schnitzte ihm aus Holunderzweigen eine kleine Flöte, faltete ihm Helme aus Papier, flocht ihm aus Kornblumen und rotem Mohn einen Kranz, und als die Mutter ihn scherzend auf ihr eigenes Haar setzte und das Kind eigensinnig schrie, flocht er auch einen für die junge Frau. Immer in der Mittagspause oder am Feierabend saßen das Kind und er hinter dem Hügel auf dem schmalen Wiesenrain am Bach, innig ineinandergeschmiegt, und das Köpfchen des Kindes war gespannt und unbeweglich über die Hände des Knechtes gebeugt, die einen winzigen Gegenstand hielten und hin und her bewegten.

In solchen Augenblicken kam wohl Emma in trauriger, zweifelnder Vorsicht an die Gruppe heran und wollte das Kind mit sich nehmen. Doch das Kind weinte, schrie, wehrte sich mit aller Kraft, indem es mit den kleinen kräftigen Gliedern so um sich schlug, daß Emma es wieder zu Boden setzen mußte; darauf lief es sofort wieder zu Martin, und, noch schluchzend, schmiegte es sich an seine Knie. Und wenn in Zukunft Emma in ihrem furchtbaren, nie schweigenden Mißtrauen, nur in weitem Bogen noch, spähend die beiden umschlich, begann das Kind, sobald es die alte Frau erblickte, zu strampeln und zu schreien, aus der Ferne mit dem Händchen nach ihr zu schlagen. Dagegen besänftigte sich sein ungebärdiges Wesen sofort, wenn es bei Martin war. In den Stunden, da die beiden allein an dem Bache saßen, zusammen über die kleine rätselhafte Arbeit in den Händen des Mannes gebeugt, war das Kind still wie nie, saß andächtig da, ohne sich zu rühren.

Sie sprachen miteinander, obwohl eines des andern Sprache nicht verstand. Das Kind fragte, und der Mann nickte mit dem Kopfe oder schüttelte ihn. Dann aber sprach er. Er sprach leise murmelnd, in langanhaltenden Gesprächen, und das Kind lauschte, den Blick seiner glänzenden, dunklen Augen auf seinen beim Sprechen wogenden Bart gerichtet. Er erzählte von »dort«, von den Kameraden, von der Arbeit, von dem Geistlichen, von dem Frühling auf dem Gefängnishof, und daß es einmal sehr schlimm mit ihm gewesen sei, jetzt aber sei es viel besser mit ihm geworden. Er tue nie mehr Schreckliches den Kindern, um die kleine Anna habe er noch sehr geweint, er habe sich totschlagen wollen, die Mutter habe es gewollt, alle hätten ihn gehetzt, so sei es einmal gewesen mit ihm, bis er ganz krank geworden sei; aber nun sei mit ihm alles gut. Aber die andern seien gemein, die Magd lecke mit den Mistfingern die Sahne von der Milch, und im Frühling habe sie die jungen Lämmer unter ihre Röcke geklemmt, bis sie beinahe erstickt seien, und der Knecht treibe sich im Dorf herum mit jungen Mädchen. Das alles sollte nicht sein, es sei besser, man bleibe wie als Kind. Karl und Gustav erkannten ihn nicht mehr, aber er erkenne sie noch gut. Sie seien groß und klug geworden und Amerikaner, aber hier sei es schöner als in Amerika, hier sei es schöner als in Treuen; dort seien schreckliche Dinge vorgegangen, man dürfe sie nicht denken, man dürfe nicht von ihnen sprechen, er wolle ihr das nicht erzählen. Er sprach von seinen Tieren, von den Staren, pfiff dem Kinde die Melodie vor, die er sie gelehrt hatte, er ahmte das feine Singen der Maus nach, die in dem Heuhaufen versteckt lebte, und erklärte, im Herbst wolle er sich einen Igel fangen. Und während er sprach, mit sanfter Stimme seine arme, von Geheimnissen bedrängte Brust freisprach, vollendeten seine fleißigen Hände das kleine Kunstwerk, dessen Erlernung er den Mußestunden des Gefängnisses verdankte, nämlich mit Hilfe einer winzigen Säge aus geschärftem Draht aus drei Kirschkernen einen Wagen mit zwei vorgespannten Pferden zu feilen. Aus zwei Kernen entstanden je ein Pferd, aus dem dritten ein Wagen. Das war es auch, was die Aufmerksamkeit des Kindes fesselte und es so stundenlang still und unbeweglich festhielt.

Im August war trotz der Erntearbeiten das kleine Geschenk fertig. Es war Sonntag und der letzte Tag vor der Abreise der Söhne. Da zugleich auch die Beendigung der diesjährigen guten Ernte gefeiert ward, war dieser Tag festlicher noch gerüstet als der der Ankunft. Es war gebacken und seit langer Zeit auch wieder einmal ein Kalb geschlachtet worden, es war das Haus gefegt und mit Kränzen aus Garben und Blumen geschmückt worden, und für den Abend war wieder einmal ein Fäßchen voll Beerenwein bereitgestellt.

Vor dem Mittagessen war es, als das Kind, das in einer rätselhaften, stummen Übereinstimmung mit seinem Freund das Geheimnis der Kirschkerne gehütet hatte, nun mit freudigem Geschrei, das Händchen fest um sein winziges Geschenk geballt, herbeigelaufen kam. Alle waren schon in der Küche versammelt, um sich zu Tisch zu setzen. Die Mutter des Kindes beugte sich zu ihm nieder und nahm voller Erstaunen das wunderbare Spielzeug aus seinem Händchen, und erst, als sie es dicht vor ihre Augen führte, erkannte sie die winzigen und doch deutlichen und feinen Formen des Wagens, eine leichtgeschwungene Karosse mit Rädern und deren Speichen, mit Trittbrett und Wagenschlag, mit einer schmal ausgefeilten Deichsel, an der rechts und links die winzigen Pferde, zierlich ausgeführt bis auf die Hufe, Schweife und Mähnen, bis auf Nüstern und Augen, mit Zügeln aus Seidenfäden angeschirrt waren. Auf die Ausrufe des Staunens und Entzückens der jungen Frau scharten sich alle um sie, der Vater des Kindes, der jüngere Sohn, nahm das kleine Kunstwerk in die Hand und betrachtete es. »Hallo!« rief er erstaunt. »Ah, das ist sehr fein. Bei uns in Amerika hat niemand Zeit für so etwas, das machen nur die Gefangenen, die alten, in den Zuchthäusern.« Und während er zwischen zwei Fingern das feine Spielzeug umherwendete und sich mit dem Bruder in seine Betrachtung vertiefte, ruhte der Blick dreier Augenpaare voll Schrecken, Flehen und Drohung auf Martin, dem Knecht, der breit, dick und lächelnd unter seinem gelockten Bart, mit sanftem Blick an der Tür lehnte. Voll Schrecken blickte Emma, voll Bitte um Schweigen Klara, der Herr aber hatte zuletzt seinen Blick auf ihn gehoben, er war klar, hell, voll eisiger Drohung. Martin lächelte weiter.

»Hallo,« sagte der jüngere Sohn wieder, der das Spielzeug noch immer hielt, und wandte sich an Martin, »die Pferde sind fein gemacht, und das Geschirr tadellos, wo hast du das gelernt, Kamerad.«

»Ich habe einmal viel kutschiert«, sagte der Knecht sanft. Der Blick des Herrn wandte sich von ihm ab, die schweren Lider senkten sich.

»Oh, in Europa,« sagte der Sohn wieder, »da haben die Knechte Zeit, in der Ernte Spielzeug zu machen. Warum willst du es dem Kind verschenken?« wandte er sich an Martin; »ich kaufe es dir ab, für zwei Dollar. Das sind zweieinhalb Taler. Es ist es wert. Willst du?«

»Nein,« sagte Martin, »die kleine Anna soll es haben.«

Das kleine Spielzeug wurde nun in ein Kästchen gebettet, das das Kind mit beiden Händen umklammerte. Endlich setzten sich alle zu Tisch. An Emma war es, das Gebet zu sprechen. Als alle schon die Hände gefaltet hielten, sagte sie plötzlich mit weicher, bewegter Stimme: »Nein, der Martin soll beten«, und setzte sich nieder. Der Knecht stand ohne weiteres auf, senkte sein Haupt, das längst wieder mit einer Fülle blonder Locken bedeckt war, die in diesem Augenblick von einem schräg einfallenden Sonnenstrahl umglüht wurden, und sprach mit seiner schönen Stimme das Gebet. Das Kind saß neben ihm und ließ sich von ihm füttern, da es das Kästchen mit dem Spielzeug nicht aus seinen Händchen lassen wollte. Als alle gegessen hatten und sich die Hände reichten, legte Emma einen Augenblick lang ihre linke Hand auf die Schulter des Knechtes, aber sie wußte nicht, warum sie das tat, und in ihrem Herzen, das bewegt war, nannte sie ihn weder Sohn noch Knecht.

Des Abends saßen sie dann alle in der Laube auf dem Hügel, der silbern übergossen war vom Licht des vollen Mondes, der zwischen der Ebene des Himmels und der Ebene der Erde schwebte. Sie tranken von dem Wein, der feurig durch ihre Adern schoß. Die Gesichter der Frauen röteten sich, über die vollen, feuchten Lippen der jungen Frau sprudelte übermütiges Lachen. Klara blühte auf, in einem weichen, träumerischen Lächeln versank das Alter ihrer Züge, in schnelleren Atemzügen hob und senkte sich ihre Brust, über die sie kreuzweise die Hände legte, wie junge Mütter es tun, denen in freudigem Schmerz die Nahrung wächst. Ein verzückter, sehnsüchtiger Schimmer lag über ihren Augen, ein Schimmer, der in Emmas Augen zu einem strahlenden Glanz, gemischt aus Güte und Trauer, aus Liebe und Verzweiflung, sich steigerte und so schön und verklärend war, daß er die rotflammenden Narben ihres Gesichtes verlöschte. Die beiden Frauen, Greisinnen fast, trugen in ihrem Blut noch unvergangen den Traum von Glück, das zitternde Streben nach Hingabe und Seligkeit, das nur mit dem Tod ihrer Herzen erlöschen konnte.

Unter ihnen saß auch Christian. Voll Kraft noch immer sein alternder Körper, voll Wärme des Weines und des Sommerabends auch sein Blut, sein Herz aber unbewegt, fest in den Fängen des Unerbittlichen. Sein Sinn ungerührt und stumm. Er hatte die schweren Lider nur wenig gehoben, um den Söhnen zuzusehen, die, berauscht von Wein, Jugend und Kraft, auf dem silbern glänzenden Rücken des Hügels miteinander rangen. Wenn ihr Lachen, in das die junge Frau das ihre mischte, und ihre anfeuernden Rufe im Kampfe für eine Zeit schwiegen, hörte man von unten, wo der Knecht Martin an dem lichtströmenden Bach saß, das sanfte Tönen seines Gesanges. Die junge Magd war ins Dorf geschlichen, der zweite Knecht lag in der Nähe des Stalles und schlief, schnell berauscht von zwei Gläsern des Weines.

Am nächsten Morgen zogen die Gäste wieder fort. Diesmal reiste der Vater mit ihnen, um sie bis zum Schiff zu bringen. Die Abschiednehmenden umarmten einander mit derselben traurigen Verlegenheit, mit der sie sich begrüßt hatten, denn sie waren sich fremd geblieben. Der Knecht Martin war des Kindes wegen zum Abschied fortgeschickt worden, und das Kind schien ihn auch ganz vergessen zu haben. Sein Spielzeug hatte man ihm im Schlafe fortgenommen und in einem der Koffer gut verwahrt. Der zweite Knecht spannte ein und kutschierte auch. Abseits im Felde stehend, sah Martin den Wagen vom Feldweg auf die Landstraße lenken und von da weiterrollen.

In der Hafenstadt, im Anblick des mächtigen Ozeandampfers, sprach der Vater zu den Söhnen und sprach auch das erstemal von der Vergangenheit. Er sagte: »Lebt wohl. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ihr habt eine neue Heimat gefunden, das ist gut, das habe ich so gewollt. Ich bin alt, und ihr braucht mich nicht mehr zu besuchen. Zu euch reisen werde ich auch nicht. Ihr waret gute Kinder. Meine Liebe konnte ich euch nur beweisen, indem ich euch von mir gegeben habe, weil es das beste war. Eure Mutter hat an Unglück nie geglaubt, das war Sünde von ihr, aber sie hat ein leichteres Leben gehabt bis zu ihrem frühen Tode. Ich habe das Unglück getragen und es auf mich genommen, ich habe ein schweres Leben, und der Tod kommt viel zu spät. Darum sage ich euch, lebt, wenn ihr könnt, wie eure Mutter gelebt hat, und lebt ferne von mir. Bleibt gesund, und Gottes Segen für eure Arbeit!«

Er umfing schnell einen jeden Sohn mit seinen Armen, die junge Frau aber nicht und das Kind nicht, wandte sich ab von ihnen und ging, ohne die Stunde der Abfahrt zu erwarten, fort, tauchte unter im Gewühl. Die Söhne waren betroffen über seine Worte, deren Sinn sie nicht verstanden, denn mehr und glücklicher noch, als der Vater es ahnte und wünschte, waren ihre Empfindungen und Geschicke von denen der Eltern, der Heimat, getrennt. Nichts von dem Bösen, nichts von dem Schweren war für sie geblieben. Zwar hatte der Älteste jetzt Tränen in den Augen, denn er liebte den Vater noch aus der Erinnerung der Kinderjahre, wo er mit ihm die erste weite Reise in ein fremdes Land gemacht hatte, wo sie die kleine Schwester gefunden und auf dem fremden Kirchhof begraben hatten. Doch versank auch diese Erinnerung und beiden die entfremdete Heimat, als sie mit dem Schiff das offene Meer erreichten, das sie an die Stätten ihrer Arbeit, in die Zukunft ihrer noch so jungen Leben trug.

Auf dem kleinen Bauerngut lebte nun alles in leeren, schnell verwehenden Jahren dem Ende zu. Die Arbeit hielt die langsam sich verringernden Kräfte der Alternden noch lange aufrecht, der Gedanke an die Arbeit erfüllte ihre bis zum Grund durchwühlten Gemüter, der Frieden des unsichtbar ihnen entgegen ziehenden Todes besänftigte ihre Herzen. Als Stütze ihrer Arbeit, als Zeuge ihres Sterbens lebte Martin mit ihnen. Sein Fleiß verdoppelte sich, wenn die anderen ermüdeten, seine Kraft entfaltete sich, wenn die anderen verzagten. Seine Stimme sang in das Schweigen der Wortlosen, er betete für die zitternden Stimmen. Er lenkte den Wagen zur Kirche, er spaltete das Holz für den Herd, er trug das Wasser zum Kochen herbei. Er wachte über das Vieh, im Sommer arbeitete er auf den Feldern Tag und Nacht.

Sein Glück und seine Freude waren lange Zeit die Kinder. Und das war so gekommen: An dem Tage, als die Söhne mit dem Kinde fortgefahren waren, hatte ihn eine große Traurigkeit überfallen, stets hatte er in Sehnsucht des Kindes gedacht. Oft stand er mitten in der Arbeit still, als warte er auf seinen Ruf, auf sein Kreischen und Lachen, als warte er darauf, daß es herbeigelaufen käme, sich an seine Beine schmiege, sein kräftiges, dunkelhäutiges Gesichtchen zu ihm emporhebe. Am größten war sein Verlangen nach dem Kinde in den Feierstunden, wenn er allein an dem Bache saß, die fleischigen Hände in leerem Spiel bewegte und die Worte, die aus seiner einsamen Brust aufstiegen, unförmlich murmelnd ins Leere sprach, unhörbar selbst dem eigenen Ohr, denn er sprach nicht zu sich selbst.

Da fand er eines Abends zwischen den Feldern einen jungen Igel, wie er es sich gewünscht hatte. Er zog seinen Rock aus, rollte das Tier, das sich zu einer stachlichen Kugel zusammenzog, vorsichtig mit seinem Fuß darauf und brachte es in seine Kammer, fütterte es mit Milch und Fleischbrocken, die er sich von seinem Mittagessen absparte. Der Igel kam abends, wenn er seine Kammer betrat und einen tiefen, rollenden Lockruf ausstieß, mit laut tackendem Lauf heran, grunzte leise und begann die Milch, die er ihm reichte, zu schmatzen. Er ward völlig zahm. Der Knecht konnte ihn auf den Arm nehmen, ihn zwischen den Händen umherwerfen, ohne daß er seine Stacheln sträubte. Er war jetzt das einzige Tier in dem Gelaß, und Martin begann ihn zu lieben. Doch die Sehnsucht nach dem Kinde verlor er nicht.

An einem Sonntagmittag im Oktober, nach dem Essen, als die Sonne mild den kleinen Hügel, den Wiesenstreifen, den sanft fließenden Bach bestrahlte, ergriff ihn solche Traurigkeit, daß er floh. Aber er floh langsam, schwer zögernden Schrittes, die Landstraße entlang ins Dorf, umkreiste scheu die Gruppen spielender Kinder und trat dann ins Wirtshaus ein, das um diese Stunde leer war. Er hockte breit und dick hinter einem Tisch, das haarumwallte Haupt und Gesicht zur Brust gesenkt, und trank still ein Glas Bier nach dem andern. Es war das zweite Mal in seinem Leben, daß er Bier trank. Eine Erinnerung, dumpf und undeutlich, meldete sich, etwas in ihm dachte: »Es will ja keiner was von mir«, und er trank sein Glas gierig aus. Als sich um die spätere Nachmittagsstunde die Wirtsstube mit Menschen und Lärm füllte, ließ er den Wirt in seinen Taschen nach Geld suchen, um sich bezahlt zu machen, dann ging er hinaus. Als er vor die Tür ins Freie trat, taumelte er und stürzte. Er kämpfte mit seiner Trunkenheit, denn sein Kopf wurde plötzlich klar, aber es gelang ihm lange nicht, die Herrschaft über seine schweren, fleischigen Glieder zu erlangen. Er wandte sich von einer Seite auf die andere, kniete hin, um sich so, auf die Hände gestützt, besser vom Erdboden erheben zu können. Jedoch ein aufsteigender Wirbel in seinem Kopf riß ihn um, so daß er, mit der Stirn schwer aufschlagend, auf dem Leib liegenblieb.

Eine große Schar von Kindern umstand ihn sofort, johlte und schrie lachend über das hilflose Gebaren seines dicken Körpers. Die größeren Kinder warfen mit Steinen nach ihm. Kämpfend zwischen Angst, Neugier und Grausamkeit, wollten die kleineren das gleiche tun, näherten sich ihm, Steine in den winzigen Fäusten, wichen jedoch sofort angstschreiend zurück, wenn er sich regte. Einige Männer und Frauen, die ihre Jüngsten auf den Armen trugen, sahen lachend zu. Der Knecht, auf dem Bauche liegend, fühlte die Steinwürfe in seinem Nacken und auf den Beinen in der Trunkenheit nur wie leichte Schläge von Weidenruten. Er erhob seinen Kopf und sah, von unten emporblickend, die kleinen Gestalten der Kinder mit lachend geöffneten Mündern vor sich stehen. Etwas von der alten, bösen Gier regte sich in ihm. Er kroch auf allen vieren zur Mauer des Wirtshauses, richtete sich erst in den Knien, dann stehend auf. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und sah auf die Kinder, die lachend ihn umstanden. Sein Haar und Bart waren von Erde bedeckt. Die Kinder schrien: »Dreckbär! Alter Dreckbär!« und streckten ihre Zungen nach ihm aus.

Rausch von Traurigkeit und Wut stieg in ihm auf, seine Augen, bis jetzt trotz des Biergenusses klar, verdunkelten sich, das Blut rauschte in seinem Kopfe, ertäubte sein Ohr. Ohne Blick, ohne Gehör, die Glieder leicht, wie von fremder Kraft getragen, mit auf und zu sich krampfenden Händen, begann er in torkelnden Schritten nach den Kindern zu jagen, in unverständlichen Worten böse Drohungen gegen sie auszustoßen. Den Kindern war es ein leichtes, seinen unsicher taumelnden Schritten auszuweichen, sie lockten ihn und hörten nicht auf, ihn zu höhnen. Einer der Männer, die dem Schauspiel zusahen, scheuchte sie endlich fort und führte den Knecht zum Dorfe auf die Landstraße hinaus, wo er, von Baum zu Baum wankend, in doppelter Trunkenheit, nach zwei Stunden, als es bereits dunkel war, daheim wieder anlangte.

Die andern saßen in der Küche, in geheimer Sorge ein jeder. Das Abendbrot war schon abgegessen, sie saßen und lauschten. Gerade als der Herr sich erhoben hatte, um nach dem Knecht zu suchen, hörten sie seine schweren, taumelnden Schritte, mit denen er am Hause vorbeiging, dem Stalle zu. Dann war es lange völlig ruhig, und alle atmeten auf. Aber plötzlich drang in die Stille ein furchtbarer Lärm, ein grauenvolles Toben, gemischt aus dem rasenden Takt stampfender Füße, der dröhnend von dem hölzernen Boden der Scheune im Stall herüberdrang, und einem tierischen Quieken und Pfeifen, das anschwoll zu einem mächtigen Schmerzensschrei, der dem eines Menschen in Todesnot glich; dann war wieder plötzliche Stille, aus der der langgezogene Gesang des Knechtes klar aufklang, der bisher allen Lärm umtönt hatte.

Die Frauen erbleichten, gelähmt vor Entsetzen. Der Herr sprang auf und eilte zu dem Stall. Als er zur Treppe kam, die zum Gelaß des Knechtes führte, war alles, auch der Gesang, schon verstummt. Der Herr kehrte wieder um und holte eine Laterne.

Als er das Gelaß des Knechtes betrat, fand er diesen, schwer atmend, in halbem Schlaf, über dem Bette liegend. Im Schein des Lichtes glitzerten gläsern Tränen in den Locken seines Bartes, seine Beine hingen herab, und die schweren Stiefel waren an den Sohlen mit Blut beschmiert. Am Boden lag der Igel, auf dem Rücken, tot, blutend aus dem zerstampften Kopf und dem Bauch. Der Herr holte ein Bündel Heu, hüllte das tote Tier ein, wischte das Blut vom Boden auf und von den Sohlen des Knechtes. Dann ging er in die Küche zurück, wobei er das tote Tier auf dem Hof in die Mistkuhle warf, und sagte den Frauen: »Es ist nichts. Er ist betrunken.« Dann stieg er wieder zu dem Knecht empor. Er rüttelte ihn wach und richtete ihn auf. Er schöpfte mit der hohlen Hand Wasser aus dem Waschgefäß und kühlte seine Stirn, er reichte ihm, der bittend den ausgetrockneten Mund bewegte, den Krug zum Trinken. Der Knecht sah den Herrn dankbar aus kindlichen, in Tränen und Trunkenheit schwimmenden Augen an. Der Herr nahm den hölzernen Stuhl, der als einziger in dem Gelaß stand, rückte ihn zum Bett des Knechtes und setzte sich zu ihm.

»Weißt du, was du getan hast?« fragte er.

Der Knecht bewegte müde und traurig den Kopf.

»Ich habe meine Söhne fortgeschickt,« begann der Herr wieder, »und dich habe ich zu mir genommen. Ich habe für dich gesorgt über meinen Tod hinaus, bis zu deinem Tode. Ich habe nie gefragt, ob du der Mörder bist oder nicht Es gibt größere Fragen. Du gehörst zu meinem Leben mehr als meine Kinder. Ich habe dir einen neuen Namen, eine neue Heimat und eine neue Arbeit gegeben. Was ich für dich tun wollte, gelang immer leicht und gut. Dir ist Gott gnädig. Aber wenn du Böses tun mußt, kann ich es nicht mehr auf mich nehmen. Ich habe nichts mehr zu verlieren, es geht um andere. Das soll nicht mehr auf mein Haupt kommen. Du hast mit Fußtritten deinen Igel gemordet, den du doch selber erzogen und gepflegt hast. Weißt du das? Warum hast du das getan?«

Des Knechtes sanfte Stimme wurde von Schluchzen zerrissen, als er antwortete: »Ich weiß nichts, Herr. Ich bin betrunken, das müßt Ihr mir verzeihen. Ich war nie betrunken. Denn damit wollen sie einen immer nur hetzen. ›Dort‹ war ich der Beste von allen. Ich mache niemand mehr Schande. Ich danke Euch für die Arbeit, sie ist gut, sie gehört mir allein. Der Igel gehört auch mir, ich habe ihm nichts getan, ich will ihn wegbringen, denn Ordnung muß sein.« Er holte tief und seufzend Atem. »Ich kann so schwer sprechen, ich bin betrunken, das müßt Ihr mir verzeihen, Herr. Aber ich verstehe Euch, ich verstehe alles, alles habe ich einmal verstanden. Es ist vieles besser mit mir geworden, Ihr könnt es auch der Mutter sagen, niemand braucht mich mehr totzuschlagen.« Und mit Anspannung aller Energie richtete der Trunkene sich frei auf, öffnete seine Kleider, sah seinen Herrn mit einem klaren, traurigen Blick an und sagte: »Verzeiht mir, Herr, ich habe nichts getan, ich bin kein Mörder mehr.«

Der Herr war aufgestanden und hatte die Blöße des Knechtes wieder bedeckt. Er beugte sich nieder, zog ihm die schweren Stiefel von den Beinen, entkleidete ihn und bettete ihn, der bereits in tiefen Schlaf gesunken war.

In der folgenden Zeit arbeitete der Knecht noch fleißiger als zuvor, doch dieser Fleiß war erschütternd gepaart mit einer tiefen Traurigkeit, die über seinem ganzen Wesen ausgebreitet war. Endlich, an einem Sonntag, ging er wieder ins Dorf, sehnsüchtig umschlich er die spielenden Kinder. Die Kinder erkannten ihn wieder. »Da ist der Bär«, riefen sie und stoben davon, obwohl er sich nicht rührte. Er beugte sich zu einem kleinen Mädchen nieder, das ruhig stehengeblieben war und ihn ansah. Er hob es hoch und schaukelte es in weiten Schwüngen auf seinen Armen. Das Kind lachte und jauchzte. Die anderen Kinder kamen zurück, und nun begann er mit ihnen zu spielen, sie zu haschen, zu schaukeln, die Kleinen auf seinem Nacken reiten zu lassen. Ein Kind fiel und weinte. Er tröstete es und versprach ihm, eine Flöte zu schneiden. So ward er doch der Freund der Kinder. Jeden Sonntag kam er ins Dorf, und sie erwarteten ihn, liefen ihm entgegen und scharten sich um ihn. Er verfertigte für sie Spielsachen aller Art, Käfige für ihre Tiere, Peitschen und Kreisel, Flöten und kleine, aus Gras geflochtene Körbchen. Im Winter fuhr er sie auf Schlitten und baute ihnen große Figuren aus Schnee. Er beschenkte sie mit Zuckersachen, die er von seinem Lohne kaufte. In das Wirtshaus ging er lange nicht. Zweimal noch im Laufe der vielen Jahre kam er betrunken nach Hause, und dann hörten die angstvoll lauschenden Frauen das wütende Stampfen seiner Füße dröhnen, doch es floß kein Blut mehr, er sammelte keine Tiere mehr um sich, er tötete nie mehr lebendige Wesen. Sein Glück war, ein Kind, ein kleines Mädchen, aus der Schar der anderen ausgewählt, im Frühling und im Sommer in den freien Stunden zu sich auf den schmalen Wiesenstreifen neben dem Bach zu tragen, es neben sich zu setzen und zu ihm zu sprechen, in unverständlichem Murmeln die Worte aus seiner Brust rinnen zu lassen, während er für das Kind ein Spielzeug formte. Das Kind sah andächtig auf seine Hände, lauschte ihm, ohne ihn zu verstehen. Von ferne umschweifte Emma von Zeit zu Zeit mit sorgenvollen Augen die friedliche Gruppe, doch nichts Böses geschah mehr bis zu ihrem Tode.

Denn sie starb als Jüngste zuerst fort aus dem kleinen Kreis. Sie war einundsechzig Jahre alt, als ein schneller harter Tod sie überfiel und ihr Herz, wie einst die erste Umarmung ihren Leib, mit grausamer Überwältigung bezwang. Sie hatte einen kurzen, aber schweren Todeskampf nach einer dreitägigen, hitzigen Krankheit. Im Tode war ihr Gesicht, gewaltig im Ausdruck, furchtbar verändert Von Schmerzen und ohnmächtiger Abwehr war ihr Mund noch schmal und bitter ineinandergekrampft, abgrundtief, ohne Frieden schienen die schwarzumränderten Augen in dem Gewirr der Narben zu liegen, deren bleiche, wächserne Gräben drohend auf Stirn, Wangen, Kinn und Nase lagerten. Mit tiefer Bewegung wachte der Herr bei der Magd, durchforschte ihr Totenantlitz, das Kunde gab von dem, was kein Lebender vernehmen konnte, auch er nicht, der im Leben schon Erstorbene.

Klara jedoch ging hinaus an den Bach, wo jetzt im Frühling große Büsche blühender wilder Rosen standen. Sie schnitt große Mengen davon ab, brach sie kurz hinter der Blüte und umkränzte so Gesicht und Haupt der Toten nahe und dicht, und der rosige Schimmer der Blüten ergoß sich wie ein Hauch von Leben über das Antlitz und löschte die bösen, harten Linien aus, glättete das Gestrüpp der Narben. Sie erneuerte die Blüten alle Tage, bis am dritten Tag der Sarg geschlossen wurde.

Jetzt rief sie den Knecht zum Abschiednehmen. Er trat ins Zimmer, schwerer und ungefügiger noch geworden in den letzten Jahren, nahm die Mütze ab, betete und weinte. Dann trat er nahe an den Sarg heran und schob in die gefalteten Hände der Toten einen winzigen Gegenstand: ein Spielzeug, aus drei Kirschkernen Gespann und Wagen geschnitzt. So trug die Mutter jenes leichte, zierliche Denkmal seiner Schande mit ins Grab, von ihm, den sie geliebt hatte wie ihr Kind, der aber ihr Kind nicht hatte sein dürfen, bis zuletzt.

Der Sarg wurde nun zugenagelt, und der Zimmermann und der Herr trugen ihn auf den Wagen im Hof, den Martin schon eingespannt hatte. Klara bedeckte den Sarg mit großen Zweigen von Flieder und frisch grünenden Linden und Buchen. Sie stieg mit Martin auf den Wagen, und sie setzten sich zu beiden Seiten des Sarges auf die Bänke nieder, während Christian lenkte.

Die Pferde, deren goldbraune, sorgsam gestriegelte Felle in der golden strahlenden Sonne glänzten, zogen fröhlich an und konnten nur schwer in eine langsame, würdige Gangart gebracht werden.

Der Tag im Mai war schön. In blühender und grünender Pracht die Erde, fern, hoch und freudig der blaue Himmel, die Luft, von Sonne durchwärmt und durchgoldet, kosend zwischen beiden, Vögel durchstießen sie jubelnd. Der Wagen fuhr durch das Dorf, dann weiter auf der Landstraße nach S. zu, denn Emma sollte dort, in dem Familiengrab, neben der Frau und dem Kinde ruhen, so hatte es Christian angeordnet. Als sie zum Dorfe hinaus waren, begannen die Pferde wieder zu wiehern und zu laufen, der Sarg wurde hin und her gerüttelt, und Klara stützte ihn mit den Händen. Ihre Augen, sehr getrübt in den letzten Jahren, blickten mit dem gleichen traurigen Frieden auf den hin und her schwankenden Sarg, in den schönen Tag und auf Martin, der schwer und dick ihr gegenübersaß und aus seinen kindlichen Augen runde Tränen ruhig und perlend in seinen lockigen Bart rinnen ließ. Doch auch in seinem Innern war Friede. Der sanfte Schmerz, den er um die Tote fühlte, die für ihn auch, wie für die anderen, »Emma« geworden war, tat ihm wohl. Spät am Nachmittag erst kamen sie auf dem Kirchhof an. Die Totengräber nahmen den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihn an das geöffnete Grab, Klara und Christian folgten. Martin blieb bei dem Wagen und den Pferden. So hatte es der Herr im letzten Augenblick bestimmt, denn er wollte nicht, daß der Knecht das Grab der Frau und das des Kindes sähe. Der Geistliche, der schon gewartet hatte, segnete die Leiche und betete, dann wurde der Sarg niedergelassen und das Grab sofort aufgeschüttet. Klara und Christian warteten, bis der Hügel fertig war, und sie sahen die Grabstätte lange an: das Grab des Kindes in der Mitte, rechts das Grab der Mutter, die das Kind geboren, und links das Grab der Mutter, die seinen Mörder geboren. »Wenn ich vor dir sterbe,« sagte Klara zu dem Bruder, »will ich da quer zu Füßen des Kindes liegen.«

»Nein,« erwiderte der Bruder, »du sollst oben, an seinem Kopfe liegen.« Sie dankte dem Bruder mit einem warmen, fast freudigen Blick. Sie ging zu der bezeichneten Stelle hin und zog, sich niederbeugend, mit der Hand die Umrisse eines Grabes zu Häupten der drei Gräber aus und sah wohlgefällig im Geiste ihren Hügel sich da erheben. »Schlaf in Frieden, Emma,« sagte sie noch und nickte dem Grabe zu, »nächste Woche werde ich dir Efeu pflanzen.«

Sie gingen zurück zum Wagen und fuhren heim. Martin kutschierte. In der Nacht kamen sie zurück.

Klara war jetzt sechsundsiebzig Jahre alt, doch ihre volle Gestalt war noch ungebeugt, ihr rundes Gesicht war fast ohne Falten, ihr blondes Haar zeigte nur an den Schläfen weiße Strähnen, und nur ihre Augen waren altersschwach und sehr getrübt von den vielen Tränen. Ihr Gemüt ward mit den Jahren immer heiterer, oft scherzte sie und lachte ein leises, etwas greisenhaftes Lachen, selbst in Beisein des Bruders, dem gegenüber ihre Liebe doch stets mit Ehrfurcht gemischt war. Das einzige Echo ihres Lachens und ihrer Scherzworte war Martin, der mit ihr lachte und ihre Scherze mit den seinen erwiderte. Über Emmas Platz am Tisch waren alle einander näher gerückt, so daß keine Lücke da war, in Emmas Arbeit hatten sich die drei, Klara, die einäugige Magd und Martin, geteilt. Doch legte Klara jedesmal nach dem Essen, wenn abgeräumt war, das alte, einfache und abgegriffene Gesangbuch, in dem Emma gern an den Sonntagen, da sie nicht zur Kirche gegangen war, gelesen hatte, mitten auf den Tisch. So war wohl ihr Platz ausgefüllt, aber ihr Andenken wurde geehrt.

Als Klara zweiundachtzig Jahre alt war, waren ihre Augen so schwach, daß sie fast blind war. Jeden Morgen stand nun Martin als erster auf und führte die Herrin von ihrer Stube die Treppe hinab in die Küche, wo sie an Emmas Stelle das Frühstück bereitete, während die Magd in den Ställen war. In der Küche konnte sich Klara gut zurechtfinden, denn alles stand an altvertrauten Plätzen. Doch außerhalb des Hauses mußte man sie führen. Im Sommer schnitt ihr Martin eine Pfeife aus Holunderholz, mit der sie ihn herbeirief, wenn er sie auf den kleinen Hügel in die Laube führen und von dort wieder zurückholen sollte. Wenn dieser hohe, einem Vogelruf gleichende Triller der kleinen Flöte erklang, sprang Martin, wo er sich befand, oft von dem an seiner Seite ruhig weiterarbeitenden Herrn fort, in weiten und leichten Sätzen schnellte er vorwärts, trotzdem seine Gestalt von Jahr zu Jahr fleischiger und schwerer wurde, ungeachtet seiner unermüdlichen Arbeit. Er langte atemlos an der Haustür an, wo Klara schon wartend stand und lachend ihm entgegenrief: »Wo ist mein dicker Bär? Komm, Bär, und führe mich in den Wunderwald.« Denn seit sie nicht mehr sehen konnte, scherzte sie oft, sie sei wie ein Kind, das die Augen verbunden habe und in ein Wunderland geführt werde, und eines Tages werde sie die Augen noch einmal aufmachen und Herrlichkeiten sehen.

»Jetzt besteigen wir den Kirchturm«, sagte Martin, wenn die sanfte Wölbung des Hügels sich ihren Schritten entgegendrängte und Klaras Füße schwerer vortasteten. »Jetzt sind wir auf der Spitze«, sagte er, wenn sie oben waren und Klara sich auf die Bank der Laubs niederließ. Beide lachten dann, er reichte ihr die Arbeit zu, die sie mitgenommen hatte, und eilte in weiten Sprüngen zu seiner Arbeit zurück. Er führte Klara auch an jedem zweiten Sonntag in die Kirche, sagte ihr den Text des Gesanges an und sang neben ihr. Sie ließ sich von ihm beschreiben, wie die Menschen aussahen, und was für Kleider die Frauen trugen. Sie wurde neugieriger und lebendiger, als sie je in ihrem Leben gewesen war. Von Zeit zu Zeit fiel sie den schweigsamen Bruder an, betastete seine Gestalt und seinen Kopf und küßte ihn stürmisch auf den Mund. Daß er sie nicht abwehrte und stillhielt, war seine Erwiderung dieser Liebkosungen. Wenn Klara allein auf dem Hügel in der Sonne saß oder an den Winterabenden inmitten der anderen in der Küche am Herd, kamen die Erinnerungen. Aber nur die Erinnerungen an die Kindheit, an Vater und Mutter, an die erste Heimat. Sie fühlte sich wieder als Kind, sie spürte an ihrem Körper das süße Zittern, in dem einst ihr Kinderkörper erzittert war unter dem Klopfen des erregten Herzens, wenn ein Fest winkte oder eine Freude sich erfüllte. Sie fühlte sich als junges Mädchen, fiebernd und bedrückt zugleich von den großen Erwartungen, mit denen erfüllt das Leben noch vor ihr lag. Und so starb sie, nach sechs Jahren, in hohem Alter. Ohne Krankheit schlief sie ein, und ihr altersmüdes Herz wußte nichts mehr von dem, was es einst auf der Höhe seiner Lebensbahn an menschlichem Leid ertragen, seine matten Schläge verhallten in aufrauschender Erinnerung an die Jugend. Als junges Mädchen, in glühender, traumhafter Erwartung des Lebens glitt die Sterbende in ihren Tod. Goldene Nebel lagerten vor ihren blinden Augen, die längst nicht mehr Tag und Nacht unterschieden hatten. Der Tod war so leicht, die um sie waren, merkten ihn nicht kommen, und ihr Gesicht, voll und fast ohne Falten, mit zarter, mattglänzender Haut, lächelte.

Als auch sie begraben war, so wie sie es gewünscht hatte, begann das Leben auf dem kleinen Hofe hart, schweigsam und dürftig zu werden. Die wärmeausstrahlenden Herzen der beiden Frauen waren tot, ihre nie endenden Träume verschwebt aus der Luft. Verlassen war alles. Die Magd tat die Arbeit, aber den Lohn, ihr Herz, ihren Traum trug sie fort vom Haus. Der zweite Knecht wechselte oft, da es den meisten zu still und zu streng auf dem Hofe war. Der Knecht Martin arbeitete für alle, die fehlten, und für alle, die noch da waren. Er arbeitete bis spät am Abend in den Wochentagen, und an den Sonntagvormittagen arbeitete er auch. Zur Ruhezeit sank er müde um, kein Gesang tönte mehr aus seinem Mund, kein Tier umgab mehr, wie einst, sein Lager, die Kinder im Dorf vergaßen ihn, selten kam er zu ihnen.

Neben Martin, unermüdlich, wenn auch mit ermatteter Kraft, arbeitete der Herr. Grenzenlose Einsamkeit stets um ihn. Jetzt war seine hohe, schmale Gestalt gebeugt in den Knien, sein Rücken gekrümmt, seine Schultern tief herabgedrückt, sein hageres Gesicht, nun nicht mehr jung inmitten des kummervoll gebleichten Haares, erschien vollends versteinert. Seine Blicke sahen niemand mehr, die schweren Lider hoben sich kaum von den Augen.

An einem Herbstabend, im kalten, feuchten Hauch der Erde, in der freudlosen, leeren Dämmerung, stand Christian auf dem Acker und sammelte Kartoffeln ein. Tief zur Erde niedergebeugt, wühlte er die Früchte aus ihrem todeskühlen Bett. Er füllte einen Sack bis zum Rande, packte ihn und schwang ihn auf seinen Rücken. Doch mitten im Schwung versagte seine Kraft, er stürzte in die Knie. Er ächzte leise. Er dachte plötzlich, wie er zweimal in seinem Leben in die Knie gesunken war, doch das Leben und die Last des Schicksals waren nicht von ihm genommen worden.

Martin, der in der Nähe arbeitete, hörte die ächzenden Laute des Herrn, das dumpfe Einsinken seiner Knie in die Erde. Er kam suchend in der Dunkelheit heran. Als er vor dem Herrn stand und sich zu ihm niederbeugen wollte, sagte der Herr zu ihm: »Ich muß weiterleben, deinetwegen«, und er erhob sich allein, und beide trugen gemeinsam den Sack zum Wagen und luden ihn auf.

Und es erfüllte sich so, wie Christian gesagt hatte. Er, der im Leben schon Tote, mußte weiterleben und allen denen das Grab besorgen, für deren Leben er auch gesorgt hatte. Er lebte noch lange, um dem Mörder Heimat und Arbeit, um ihm ein gerettetes Leben zu schenken, um nicht den Knecht Martin als eine traurige, hilflose Waise zurückzulassen. Das hatte er gefühlt, als er auf die Knie gedrückt in den Ackerfurchen lag und im Dunkeln schwerfällig die Gestalt des Knechtes sich ihm näherte. Christian war jetzt dreiundsiebzig Jahre alt. Als er bei der großen Abrechnung des Jahresbeginnes sah, daß die drei Vermögen, die er für seine zwei Söhne und für den Knecht Martin angelegt hatte, auf je viertausend Taler gestiegen waren, so daß jeder, wie er bestimmt hatte, vor äußerster Not geschützt sein konnte, nahm er zur Erleichterung der Arbeit ein Tagelöhnerpaar auf. Er selbst arbeitete nicht mehr schwer, obwohl er von früh bis spät auf war.

Martin, der Knecht, der jetzt achtundvierzig Jahre alt war, hatte nun wieder Zeit zu singen, Ställe und Käfige zu bauen und für die Kinder Spielzeuge zu fertigen. Er hatte wieder friedliche Stunden im Sommer am Bach, wo die Kinder bei ihm saßen, er zu ihnen sprach und von »dort« erzählte, während die Sonne seinen breiten runden Rücken und sein lockig behaartes Haupt bestrahlte, die Tiere der Weide ihn umsprangen. Betrunken war er nie mehr. Er war heiter und glücklich. Mit den Jahren wurde er bequem, da sein Körper immer schwerer wurde. Zwar arbeitete er noch mit großer Lust, ja mit der gleichen Leidenschaft, mit der er als Kind schon gearbeitet hatte, aber er suchte sich Arbeit, bei der er nicht viel laufen mußte. Er wurde schwerfällig und unbeholfen in seinen Bewegungen, und der einzige Schmerz, den ihm das Leben noch zufügte, war der, daß die Kinder, die seine Schwäche bald bemerkten, ihn neckten und verspotteten. Er konnte ihrem Laufen und Springen nicht folgen, wenn sie ihn in Gruppen umringten, lockten oder quälten. Wohl nahmen sie seine Geschenke, mit denen er sie gewinnen wollte, in Empfang, doch am nächsten Tag schon höhnten sie ihn von neuem. So blieben ihm nur die Kleinsten, die sich gern auf seine starken Arme nehmen und von ihm schaukeln ließen; sie hockten jauchzend auf seinem weichen vollen Nacken, wo er sie reiten ließ, zwar nicht mehr wie früher, da er in Galoppsprüngen mit ihnen umhersauste, sondern an einem Ort stehenbleibend, wo er von einem Bein auf das andere sprang.

Dann gebar die junge Tagelöhnerfrau, die jetzt täglich bei ihnen arbeitete, ihr erstes Kind. Zur Zeit der Ernte brachte sie es mit zur Arbeit, legte es, in ein Tuch gehüllt, am Rande der Felder nieder, um es von Zeit zu Zeit zu säugen. Dieses Kind liebte er innig. Es war ein Knabe. Er zimmerte heimlich für ihn eine Wiege, er wartete ihn, wenn die Mutter an anderer Stelle arbeitete, und die Mutter brachte ihm das Kind oft, froh, für einige Stunden erleichtert zu sein. Der Knecht lehrte den Knaben die ersten Schritte und die ersten Worte, nicht die Mutter. Er lehrte ihn, die Händchen zu falten, er sang ihn mit seiner sanften Stimme in den Schlaf, er bettete ihn in seinem Gelaß auf sein Bett, wusch und trocknete die durchnäßten Leinen. Alle spotteten darüber, sogar die Mutter des Kindes. Aber er hörte es nicht.

Als die Magd ein paar Tage krank war, verrichtete er ihre Arbeit und kochte auch für die anderen. Seit dieser Zeit übernahm er immer die Arbeiten in der Küche und in dem Haus, und zuletzt arbeitete er wie eine Frau. Er wusch im Winter die Fußböden auf und kümmerte sich um die Milchwirtschaft, dabei umspielte ihn täglich das heranwachsende Kind. Als das Kind dann zur Schule kam und nicht schon morgens bei ihm war, war er unglücklich und spähte mittags nach ihm aus. Als das Kind dann kam, ihm seine Schulbücher zeigte und ihm von der Schule erzählte, wurde er plötzlich böse und schickte es fort. Der Gedanke entsetzte und verstörte ihn, daß das Kind zu anderen Menschen ging, andere Menschen zu ihm sprachen und es belehrten. Er rief es nicht mehr zu sich, wenn es nachmittags auf den Hof kam, und wich ihm aus, wenn es auf ihn zulief. In seinen sanften, kindlich blickenden Augen sah der wachsame Herr ein böses Feuer. Er verbot der Tagelöhnerin, das Kind weiterhin mitzubringen, und der Knecht fragte auch nicht mehr nach ihm, als es nie mehr kam.

Seine letzte Leidenschaft war nun nur noch die Arbeit, und zwar die leichteren Hantierungen in Haus und Stall. Er saß gern in der Küche am Herd und überwachte das Essen, er half bei der Wäsche und deckte den Tisch. Und in diesem kalten, freud- und zwecklosen Haushalt war er es, der Wärme des Lebens und Freude des Daseins noch ausstrahlte. Er war sanft und lächelte viel. Er erinnerte daran, daß zu den Festtagen Kuchen gebacken wurde, er wählte das Geflügel aus und lobte die Braten, die die Magd aus dem Dorf mitbrachte. Er holte behutsam am Sonntag die porzellanenen Teller aus dem Schrank, von denen, anstatt von den zinnernen an den Wochentagen, gegessen wurde. Er genoß kindlich und dankbar, was für ihn noch an des Lebens Tisch bereitet war.

In Sanftmut und Heiterkeit versetzte ihn selbst die Schwäche seiner beginnenden Krankheit, deren Keim er unbemerkt wohl in den kalten Nächten seiner Gefängniszelle empfangen hatte und die ihn langsam während zweier Jahre dem Ende zutrug. Wenn er bei seiner ohnedies nur noch leichten Arbeit plötzlich am ganzen Körper Schweiß ausbrechen fühlte, so war es schön, sich in der zitternden Schwäche, die ihn erfüllte, am Herd niederzulassen, am hellen Tage, ganz gleich, zu welchen Stunden, und dort allein, ruhig zu sitzen und das Feuer zu überwachen. Alles um ihn her war in Ordnung. Der leise Husten, der abends, wenn er sein Gelaß aufsuchte, ihn überfiel, stieg wohlig perlend aus der Tiefe seiner Brust auf, und der leichte Rausch des Fiebers ließ ihn singen. Doch wieder im Herbst, im November, brach er, zwei Eimer mit Milch tragend, an der Schwelle des Stalles zusammen, und blutiger Schaum stand vor seinem Mund. Der Herr und die Magd vermochten nicht, den schweren Mann aufzunehmen. Der Herr schichtete Heu in seinen Rücken und unter sein Haupt und schickte die Magd nach einem Tuch, das Blut fortzuwischen. Nach und nach kam der Knecht wieder zu sich, sie halfen ihm auf und führten ihn ins Haus. Der Herr befahl der Magd, das Zimmer der verstorbenen Emma aufzuschließen, das Bett zu richten und den Ofen zu heizen. Dann führte er den Knecht hinauf und hieß ihn sich niederlegen. Er ging ins Dorf nach einem Arzt. Als er zurückkam, war der Knecht schon wieder in der Küche und lächelte ihm entgegen.

»Es ist schade um die Milch, Herr, aber ich kann nichts dafür«, sagte er.

»Du wirst jetzt immer oben schlafen,« sagte der Herr, »drüben ist es zu kalt. Und der Doktor wird auch kommen.«

Der Doktor kam und brachte eine Flasche brauner Medizin mit. Er untersuchte den Knecht und sagte, es werde vorübergehen. Martin schlief nun im Haus, in der Stube seiner Mutter, die jeden Abend geheizt wurde, und nahm die Medizin. Sein Husten verging, er arbeitete wie früher. Der Sommer war schön, heiß und voller Freude für ihn. Er saß viel am Bache, hatte Kinder um sich und sang. Er erzählte von »dort«. Er erzählte von dem Geistlichen, der zu ihm gekommen wäre und sich zu ihm, auf seinen Stuhl gesetzt habe, und dann habe er mit ihm gesprochen, wie in der Kirche auf der Kanzel. Er habe gesagt, man müsse immer an Gott denken und seine Gebote. Er lehrte den Kindern die zehn Gebote und ließ sie sie aufsagen. Bei den schweren Erntearbeiten half er dieses Jahr nicht mit, er lenkte nur die Wagen in das Feld und holte die Garben ein, wie einst, als seine Kraft und sein Leben begonnen hatte. Im Herbst kam wieder der Husten, und er nahm die Medizin. Im Frühjahr und Sommer war es wieder gut. Doch im dritten Herbst brach er abermals zusammen, oben in seiner Stube, nach dem Aufstehen, und niemand bemerkte es. Er aß sehr viel und wurde zusehends fetter. Sein Atem ging schwer. Abends schlich er sich, statt in seiner Stube ins Bett zu gehen, auf den Boden, neben sein altes Gelaß, setzte sich aufrecht in den hohen Berg des Heues, mit dem er sich auch bedeckte, und schlief so.

Im Frühjahr, in einer sturmdurchbrausten Märznacht, starb er, aufrecht sitzend, von Kissen gestützt, in der Mutter Bett Er war am Morgen des Tages ein drittes Mal zusammengebrochen, hatte sich dann von selbst wieder erhoben, tagsüber viel gehustet und schwer geatmet, am Abend aber hatte er wieder gelacht und heiße Milch mit Honig getrunken. Doch im Fieber konnte er nicht gehen, er strauchelte über die Schwelle der Küche, und der Herr führte ihn die Treppe empor und brachte ihn zu Bett. Dort lag er still und drehte seine weitgeöffneten, glänzenden Augen in dem dicken, von üppigem Haar und Bart umwucherten Gesicht nach dem Fenster, an dem der Frühlingssturm rüttelte. Die Kerze, die auf dem Tische brannte, flackerte. Der Herr sah ihn an, unter den halb gesenkten Lidern forschte er in dem Gesicht des Knechtes. Er sah ein kindliches, heiteres Antlitz, vom Tod sanft umweht.

»Das rüttelt,« sagte der Knecht, ganz leise, »morgen muß ich gleich –« sein Atem riß, Husten und Röcheln erschütterte ihn lange, er ruhte erschöpft, Schweiß auf der Stirn. Der Herr trat heran und trocknete ihn ab, hob das schwere Federbett von der keuchenden Brust des Kranken und hielt es mit den Händen, so daß es noch wärmte, aber nicht drücken konnte.

»Ich kann da nicht dafür«, sagte der Knecht noch, bäumte sich auf, schlug die geballten Finger in die Decke, schlug um sich, schweigend, mit weitaufgerissenem Mund, aus dem der schwer keuchende Atem zischend entwich, sein Körper erzitterte furchtbar, krümmte sich wie in lautlosem Lachen, sein Gesicht schimmerte in schwarzer Röte durch den lichten Bart, unter den geschlossenen Lidern rasten die Augen umher. Dann sank er plötzlich, tief beruhigt, zurück, die Glieder lösten sich, sanft schloß sein Mund sich ineinander, seine Augen stiegen aus den Schluchten der verkrampften Höhlen auf, die Lider öffneten sich zu einem sanften, noch immer strahlenden Blick, weiß umleuchtet von der Stirn und dem Gesicht. Doch als der Herr sich zu ihm niederbeugte, wehte kein Atem ihn an, und die Kerze, schief vorgehalten vor des Knechtes Mund, brannte in stiller Flamme empor, zum ersten Male in diesen Abendstunden, da der Atem des Sturmes vom Fenster her sie bis jetzt bewegt hatte. Der Herr zog langsam die hochgetürmten Kissen hinter dem Rücken des Knechtes hervor und ließ ihn aus seinen Armen behutsam niedergleiten. Doch als er das Haupt gebettet hatte und die Hände ergriff, um sie zu falten, sah er, wie ein schnell und lautlos rinnender Strom schwarzen Blutes aus dem atemlosen Mund des Toten über seinen Bart floß. Die Augen, noch geöffnet, leuchteten.

Den Herrn durchschütterte zum ersten Male seit langer Zeit, zum letzten Male für alle Zeit, menschliche Regung: Entsetzen packte ihn, er stieß einen Schrei aus und wich zurück. Er fühlte Abscheu und Grauen vor dem Mörder, den er jetzt in dem Toten begriff. Doch er bezwang sich. Im Schein der wieder flackernden Kerze sah er unverwandt auf den Toten. Er sah, wie das Blut verrann, langsam aufgesogen wurde von den weichen Locken des Bartes, bald lag der Mund wieder frei da und lächelte. Der Herr stieg hinunter in die Küche, holte warmes Wasser, wusch dem Toten das Blut aus dem Bart, rieb ihn sorgfältig trocken, er drückte seine Augen zu und faltete seine Hände. Er beruhigte und labte sich an dem Anblick des sanften Totengesichts. Er setzte sich zu ihm, bis die Kerze ausgebrannt war. Er hörte dem Sturme zu, der draußen wütete. Der Knecht war sechzig Jahre alt geworden. Der Herr, Christian B., stand in dem hohen Alter von fünfundachtzig Jahren. Er begrub seinen Knecht, wie er es bei sich bestimmt hatte, auf dem Kirchhof zu S., unweit der Grabstätte, wo die Seinen ruhten.

Christian B. lebte allein noch sieben Jahre. Er setzte die einäugige Magd als Erbin des Mobiliars von dem Wohnhause ein, damit sie bis an sein Lebensende bei ihm bleibe und für sein Begräbnis sorge. Er hielt sich nur noch einen Knecht, und obwohl die Zeit durch furchtbare Kriege, durch Hungersnot sehr schwer wurde in seinen letzten Lebensjahren, ließ er doch die Hälfte der Äcker brachliegen. Während der ersten Kriegsjahre erhielt er noch Nachricht von seinen Kindern aus Amerika, es kamen Pakete voll fremdartiger Lebensmittel, auch Geld und die Nachricht, daß alles gut gehe, zwei Kinder, Knaben, waren dem jüngeren Sohn noch geboren worden, der Älteste war unverheiratet geblieben. Das Geld und die Waren ließ der Vater in das Dorf bringen, zur Verteilung unter die Armen. Die Briefe las er und verbrannte sie dann. Er sah und hörte gut bis zu seinen letzten Tagen. Die Kräfte seines Körpers und seiner Sinne verließen ihn nicht Er arbeitete bis zuletzt, doch waren seine Bewegungen voll tiefster Müdigkeit, die nicht aus der Schwäche der Glieder, sondern aus seiner verstummten Seele kam. Er aß wenig und sprach fast nie. Er ging nie ins Dorf und suchte niemals die Gräber seiner Verstorbenen auf. Er dachte nicht zurück, und die Erinnerungen der Kindheit, deren Fülle und deren lichter Schein dem Alter und dem Ende so gern sich wieder entgegenneigen, verscheuchte er. Nicht Haß, nicht Versöhnung, nicht Liebe, nicht Verzweiflung konnte er mehr fühlen. Alles war versunken einst, in der Blüte seines Lebens, in der Demut vor Gott, den er erwartete. Doch jetzt dachte er auch nicht mehr an Gott, er, der den göttlichen Funken in seiner Menschenbrust rein gehütet hatte. Er vernahm noch den furchtbaren Niedergang seiner Zeit, ihre leere Verzweiflung, ihre Not, ihre Verschwendung aus Armut, die Mörder ohne Zahl und die Opfer ohne Zahl, er sah das Leben verachtet, den Glauben tot. Er beklagte sie nicht. Ein leerer Raum, nichts Menschlichem mehr erreichbar, so löste sich seine Seele am Ende ihrer weiten Bahn von seinem Körper.

Niemand war bei ihm, als er starb. Die Magd hatte ihn des Morgens nicht gesehen und fand ihn, als sie sein Zimmer ordnen wollte, tot in seinem Bett Seine Augen waren geschlossen, die Hände leicht ineinander gefaltet. Sie rührte ihn nicht an. Sie öffnete den Schreibsekretär, entnahm ihm einen Brief und lief damit ins Dorf zum Schultheißen, wie der Herr es ihr bei Lebzeiten befohlen hatte. Der Brief enthielt eine genaue Bestimmung seines Begräbnisses mit einer dafür aufzuwendenden Summe in Gold- und Silberstücken. Da er auf dem Friedhof in S. begraben wurde, folgten nur wenige Menschen seinem Sarge, der aber bedeckt war von vielen Kränzen aus künstlichen Blumen, die inzwischen aufgekommen waren. Er war Anfang November gestorben. Zum Fest der Toten bemerkten die anderen sein frisches Grab mit dem Namen Christian B., das da still erstanden war, und schon ergraute, von Kummer und Not der Kriegsjahre vorzeitig gebeugte Menschen erinnerten sich aus ihrer Kinder- und Jugendzeit des Unglücks, das mit diesem Namen verknüpft war, und das sie damals alle so tief mitempfunden hatten.

Christians Anwesen wurde auf Verlangen der Erben verkauft und das im Laufe der Jahre entwertete Vermögen einem Waisenhaus gestiftet.

Ein junger Bauer erwarb das Gut und heiratete die einäugige Magd, da sie die Besitzerin der Möbel war. In den blumenbemalten Ehebetten gebar die Magd, obwohl sie schon vierzig Jahre alt war, vier kräftige Kinder, die im Laufe der Zeit tobend das Haus und den Hügel umspielten. In der Stube aber auf dem Nähtischchen, das der größte Stolz der Magd war, stand noch immer das Bild des Kindes Anna B., dessen Geschichte sie nicht kannte, und zeigte seine bezaubernde Gestalt, sein lockenumspieltes Köpfchen, das geneigte Gesicht mit traurigen Augen und lächelndem Munde, und das rechte Händchen mit ausgestrecktem Zeigefingerchen weisend erhoben. Auch die Magd schmückte seinen Rahmen und bewahrte es auf, da es ihr so gefiel, und sie selbst nur Knaben geboren hatte.


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