Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Während der nächsten Woche geschah nichts. Obwohl Fritz ganz furchtlos war und die Erinnerung an das Verhör und die Leiche ihn nicht bedrückte, zeigte er sich doch die ersten Tage nach diesem Geschehnis sehr still und in sich gekehrt. Ihn bewegte das unverhoffte Wiedersehen mit der Heimat, den Feldern, Wiesen, dem Hof mit Scheunen und Ställen. Das alles war doch so verändert gewesen. Verlassen hatte der Hof dagelegen, der Herr, die Mutter waren verschwunden gewesen, unsichtbar verborgen irgendwo hinter Türen hatten sie wohl auf ihn gesehen. Die Menschen waren vor ihm geflohen, vor ihm, der bisher die Menschen geflohen hatte. Das schreckte ihn mehr als alles. Er fühlte, daß die Welt verwandelt war, daß in seinem Leben sich etwas änderte. Wenn in Treuen der Herr nicht mehr Herr war, fremde Leute im Wohnzimmer sich breitmachten, irgendein Herr aus der Stadt, der nicht einmal eine Uniform anhatte, an Stelle des richtigen Herrn ihn anschrie und zur Rede stellte, dann konnte er auch nichts dagegen tun, wenn sie etwas mit ihm vorhatten. So dachte er. Verdrossen und verzagt ging er seiner Arbeit nach, und erst am Sonnabend, als ihm wieder Lohn ausgezahlt wurde und er das Geld in seiner Ecke im Pferdestall vergrub, kam wieder seine alte Heiterkeit über ihn. Am Sonntag, gegen Mittag, als er gewaschen und geputzt an der Tür des Pferdestalles lehnte, wollte er singen. Doch seine schöne, helle, sanfte Stimme schien versiegt, die Kehle schmerzte ihn, mühsam brachte er nur ein paar dünne, hohe Töne hervor; erstaunt und traurig verstummte er. Wieder fühlte er sich gehetzt, angegriffen und verfolgt, von Feindschaft umstellt, und trotzig begann er wenigstens zu pfeifen. Da trat plötzlich, hinter seinem Rücken auftauchend, der Schultheiß vor ihn hin: »Na, Fritz, du willst unschuldig sein und hast dir doch die Hände binden lassen?«

Doch Fritz erschrak nicht. Er pfiff einen langen Ton zu Ende und sagte: »Ach, das war ja gar nicht richtig, sie haben sie gleich wieder aufgemacht.«

»Na, siehst du, jetzt hast du gelogen, merk' dir das«, sagte der Schultheiß und ging mit schnellen, kleinen Schritten wieder davon. Fritz sah ihm nach und pfiff, so laut er konnte, doch wich er von diesem Tage an seinem Dienstherrn aus.

Am Mittwoch kam ein Bote vom Gericht und bestellte Fritz für Donnerstag nach L. in den Gasthof zum Kriminalkommissar. Man ließ absichtlich Fritz den ganzen Tag allein und unbeschäftigt und beobachtete ihn. Doch sein Gehaben verriet nichts Verdächtiges. Er kam am nächsten Morgen aus seinem Pferdestall heraus, bürstete, fütterte und tränkte seine Pferde, er frühstückte, zog sich dann seine Sonntagskleider an, auch Schuhe an die Füße, und machte sich um neun Uhr auf den Weg. Er ahnte nicht, daß auf seiner ruhig und gleichmäßig fortgesetzten Wanderung im Abstand ein verkleideter Polizist ihm folgte. Fritz ging, ohne auszuruhen, mit jugendlichen Schritten die drei Stunden des Weges. Er sah weder nach rechts noch nach links, von einem Fluchtversuch war nichts zu merken. In L. angelangt, meldete er sich in dem kleinen Gasthof und fragte nach dem »Berliner Herrn«, weil er auf der Vorladung »Kriminalkommissariat Berlin« gelesen hatte. Der Wirt hieß ihn an einen Tisch niedersetzen und brachte ihm Bier und zwei große Scheiben Butterbrot. Das hätte der Gerichtsherr so angeordnet. Fritz, durstig und hungrig nach dem langen Weg, aß und trank. Plötzlich trat ein Gendarm ein, und zwar nicht durch die Gaststubentür, die vom Hausflur hereinführte, sondern durch eine Tür hinter dem Schanktisch, und Fritz sah für einen Augenblick durch die geöffnete Tür in dem anschließenden Raume einen Tisch ohne Decke, mit Papieren belegt, und zwei Männer, die an dem Tisch saßen. Wut und Trotz stiegen in ihm auf, er schob das Bier und den Rest des Brotes weit von sich. Der Gendarm setzte sich mit wohlwollendem Lächeln zu ihm an den Tisch. »Na, schmeckt's? Noch ein Bier?« fragte er.

»Danke, habe keinen Durst mehr.«

»Ach, trink mal ruhig noch eins, du hast ja einen langen Weg gemacht.« Und der Gendarm winkte dem Wirt, der ihm ein frisches Glas brachte. »Der Kommissar muß dann noch etwas mit dir sprechen, wir gehen dann nebenan in die Stube. Du kannst dich aber noch ausruhen.«

»Bin nicht müde.«

»Na, desto besser. Warten mußt du aber doch noch, wir haben noch keine Zeit für dich.« Und der Gendarm ging wieder hinaus. Fritz saß allein in der Gaststube, in die an einem Werktagsvormittag wenige Gäste kamen, nur ein paar Fuhrleute, die im Stehen ein Glas Bier tranken, mit ihren rauhen Stimmen lärmten und wieder gingen. Sie blickten neugierig auf Fritz, der in seinen Sonntagskleidern da saß, und fragten den Wirt nach dem feinen Besuch. Doch der zuckte die Achseln, er sagte nicht gern, daß das Gericht in seiner Stube vernahm. In L. war Fritz nicht bekannt, doch die Blicke der Menschen steigerten seine Wut. Er begann das zweite Glas Bier zu trinken und fühlte, wie Hitze in seinen Kopf stieg, wie seine Adern anschwollen und seine Augen brannten. Jetzt kam der Gendarm wieder herein und sagte ihm, nun sei es bald so weit, aber er brauche doch nicht das abgestandene Bier zu trinken, der Wirt solle ihm noch ein Viertel Wein geben. Doch den Wein trank Fritz nicht. Seine Wut und sein Zorn wurden plötzlich kalt, Trotz und Verachtung erfüllten ihn. Mit finsterem, völlig verschlossenem Gesicht betrat er endlich die Stube, in der der Kommissar, am Tische sitzend, ihn erwartete.

»Ich habe Sie kommen lassen, um einige Lücken in unserem vorigen Verhör zu ergänzen«, begann der Kommissar und ließ den Blick forschend über Fritz gleiten. Er bemerkte mit Freuden auf dessen vollem Gesicht die Zornesröte, ebenso die von Zorn verdunkelten Augen. »Sie sind den Weg gelaufen, ich habe Ihnen deshalb einige Erfrischungen reichen lassen«, sagte er.

»Ich brauche keinen Wein und kein Bier«, sagte Fritz. »Sie wollen ja doch etwas mit mir machen, Sie wollen mir keine Ruhe lassen, ich kann aber nichts mehr sagen.«

»Ich habe die Auflehnung nicht verdient,« sagte der Kommissar, »und außerdem sind Sie gezwungen, auf meine Fragen der Wahrheit gemäß zu antworten.« Er nahm die Akten zur Hand und wiederholte einige Fragen des vorigen Verhöres, dann fragte er nach den Äußerungen, die Fritz seinen verschiedenen Kameraden gegenüber getan hatte: »Die finden sie wohl nicht mehr« und: »Die haben sie gut verwahrt.«

Doch Fritz schwieg. Auf seiner Zunge lag noch der Geschmack des bitteren Bieres und ließ seinen Trotz nicht zur Ruhe kommen. Er dachte an die Arbeit, die er versäumte, er hatte Sorge, daß er die Stelle verlieren und seinen Lohn einbüßen würde. Er fühlte sich umstellt von Feinden, doch er fürchtete sie nicht, sondern er verachtete sie. Er zuckte als Antwort nur geringschätzig die Achseln und sagte zum Schluß: »Ich weiß nicht. Ich habe alles gesagt. Ich habe nichts getan.«

Der Kommissar mußte das Verhör schließen. Als Fritz, der sich ohne Gruß zum Gehen wandte, schon an der Tür war, rief er ihm plötzlich nach: »Hier sind auch deine Taler, die du in Treuen hast liegenlassen, deine Mutter will nämlich nichts mehr von dir haben!« Und er warf die klirrenden Talerstücke auf den Tisch. Mit einem Schlag blieb Fritz stehen. Doch er wandte sich nicht sogleich um. Sein erbleichendes Gesicht blieb der Tür zugekehrt. Der Kommissar sah nur das Zucken, das wellengleich seinen Rücken erschütterte. Plötzliche Stille trat in der Stube ein, unter den gesenkten Stirnen der Beamten richteten sich lauernde Blicke auf Fritz. Er kehrte sehr langsam zum Tisch zurück, unschlüssig und verwirrt griff er nach dem Geld, räusperte sich lange und würgte endlich die Frage hervor: »Warum denn?«

»Weil sie glaubt, daß du ihr Schande gemacht hast«, erwiderte der Kommissar vorsichtig.

Darauf sagte Fritz nichts, ergriff das Geld und ging hinaus. Er wurde mit dem zu dieser Zeit abfahrenden Postwagen ein Stück des Weges zurückgefahren und kam spät am Nachmittag wieder daheim an. Er ging in seine Kammer, zog sich um und begab sich sofort an seine Arbeit. Das Geld hatte er aus der Tasche des Sonntagsrockes herausgenommen und trug es so lange in der linken Faust verborgen, bis er es in einem freien Augenblick im Stall verbergen konnte. Er scharrte mit den Händen in der Ecke die Erde fort und legte in die kleine Höhlung das Geld hinein. Als er die Erde wieder zugeworfen und alles geglättet hatte, fühlte er sich plötzlich verloren, gefangen. Sie waren ihm an die Kehle gesprungen, es mußte etwas mit ihm sein, die Mutter hatte sie auf ihn gehetzt. Seine Hände zitterten, als er die Erde glattdrückte, das Stroh wieder darüberschob. Er fürchtete sich. Er eilte aus dem Stall an die Arbeit, holte die beladenen Wagen von der Heide, schirrte die Pferde aus und warf ihnen Futter vor. Er erschrak zu Tode, als er plötzlich den Herrn auf sich zueilen sah. Er wandte sich ab, suchte zu entfliehen, doch die heisere, knarrende Stimme hatte ihn schon erreicht. Der Herr blieb dicht vor ihm stehen. Er war über den Hof gerannt, damit ihm Fritz nicht entkommen sollte, jetzt keuchte er ihm den hastigen Atem seiner engen Brust aus dem zum Sprechen gierig geöffneten Mund ins Gesicht: »Na, na, haben sie dich wieder scharf gehabt?«

Fritz schwieg und wandte seine Blicke in den offenen Pferdestall zu der Ecke, die nachts sein Lager bildete und wo jetzt das Geld, von der Mutter verschmäht, verborgen war.

»Na, da muß doch etwas Schweres mit dir sein, wenn sie dir doch neulich die Hände gebunden haben, was?«

Fritz antwortete nicht.

»So zwei Jahre werden sie dir wohl geben, was?«

Jetzt sprach Fritz. Sein Gesicht war blaß, sanft und sehr traurig. »Es muß wohl was mit mir sein, sie lassen mir keine Ruhe, sie wollen was mit mir machen. Der Herr aus Berlin, das ist ein sehr kluger Herr, Bier hat er mir geben lassen, ich habe auch anderthalb getrunken, ich bin aber nicht betrunken geworden. Wein hat er mir auch geben lassen, aber ich habe wohl gesehen, da war etwas Gelbes dazwischen, da habe ich nicht getrunken. Ich werde nicht tun, was die wollen. Aber zwei Jahre, das wird wohl so sein, das werden sie wohl fertigkriegen.« Jetzt kehrte langsam wieder Röte in sein Gesicht zurück, seine Augen glänzten, er vermochte nicht aufzuhören mit dem Sprechen: »Aber dann, wenn die Jahre vorbei sind, wenn ich dann wieder loskomme, dann wird es schlimm mit mir, das weiß ich schon, da haben sie dann etwas aus mir gemacht. Die sollen mich lieber in Ruhe lassen, dann ist alles besser und nichts geschehen. Aber so fordere ich dann meinen Lohn, meinen Lohn für zwei Jahre und hundert Taler für das Händebinden dazu, die sollen mich nur lassen!«

»Gut, gut, fein!« rief der Schultheiß. »So mußt du es machen!«

»Jawohl, ich lasse mich nicht betrunken machen, sonst kommt da noch etwas heraus, sonst hätten sie wohl was zu hören bekommen, sonst hätte ich da was erzählt, ich werde ja doch jemandem Schande machen«, da brach er plötzlich ab, seine Augen weiteten sich groß und dunkel, er schien Tränen zu bekämpfen. Der Schultheiß wußte nicht, wie er das deuten sollte.

»Na ja, sie haben dich wohl scharf vorgehabt«, wiederholte er noch einmal den Anfang des Gesprächs.

»Jawohl, die dachten wohl, ich würde was sagen, aber was die wissen wollen, weiß ich nicht«, seine Stimme wurde jetzt leise, sanft, kraftlos. Erschöpft und verwirrt durch seine eigenen Reden ging er davon. Der Schultheiß sah ihm nach und lächelte, seine Augen funkelten. Am nächsten Tag fuhr er in die Kreisstadt und gab als Zeuge dieses Gespräch zu Protokoll.

Zwei Tage nach dem Zeugenverhör seines Dienstherrn wurde Fritz Schütt, als des Mordes an der kleinen Anna B. verdächtig, verhaftet und in das Untersuchungsgefängnis nach Gr. gebracht. Zwei Gendarmen scheuchten ihn vor Tagesanbruch von seinem Lager im Pferdestall auf, nachdem der Schultheiß sie listig erst in der Knechtskammer, dann im ganzen Hause nach ihm hatte suchen lassen. Fritz blieb vollkommen ruhig, zog seine Hose an und bat nur, am Brunnen sich noch waschen zu dürfen. Er streifte sein Hemd herab und wusch sich Schultern, Brust und Rücken, die voll und weiß in dem frühen Morgen leuchteten. Dann bat er noch um seine Schuhe, nach denen der Gendarm eine Magd schickte, die ihm aus seiner Kammer außerdem noch einen Rock und ein zweites Hemd mitbrachte, das sie ihm mit mitleidigen Blicken reichte. Als sie schon zur Haustüre hinaus auf die Straße getreten waren, rief aus einem ebenerdigen Fenster, halb versteckt hinter der Gardine, der Schultheiß nach Fritz. Fritz trat an das Fenster heran; der Schultheiß beugte sich vor, sein Hemd öffnete sich und ließ seine schmale, knochige Brust sehen; er streckte seinen langen, zarten Arm aus und drückte Fritz einen Taler in die Hand, die er mit seiner kleinen feuchten Hand fest umschloß. Er reckte seinen Kopf vor, brachte seinen stark atmenden Mund mit dem stachligen, langhaarigen Bart nahe an Fritzens Ohr und flüsterte ihm zu: »Mach's gut, laß dir nur nichts anhaben!« Dann gab er ihm plötzlich einen Stoß gegen die Schulter, daß Fritz taumelte. Die Gendarmen nahmen ihn in die Mitte, und sie gingen die Straße hinab. Fritz blinzelte unter gesenkten Lidern hervor auf die Häuser zu beiden Seiten, ob viele Leute nach ihm sähen. Aber es war noch früh, drei Uhr morgens. Nur zwei Frauen gingen vor ihnen her, gebeugt unter schwer gefüllten Tragkörben, und mit langsamen, schweren Schritten bewegten sie ihre dicken, faltigen Röcke im Schwunge hin und her. Der Morgenhimmel war verhangen von Wolken. Luft und Erde waren feucht, denn Regen war die ganzen Tage niedergegangen und hatte die von der Hitze dürr aufgeschossenen Ähren der Felder nach und nach zu fauligem Braun verfärbt. Die drei Männer mußten bis nach L. wandern, von wo sie Post bis zum Ziel nehmen konnten. Fritz schritt ruhig dahin, die Augen auf den Boden gesenkt, auf seinem Gesicht war der Ausdruck kindlicher Versonnenheit. Sein Herz war von tiefer Trauer erfüllt. Er fühlte die Welt, in die er mit blindem Vertrauen sein Leben hineingelebt hatte, dieses Paradies, das ihn getragen und geborgen hatte, alles fühlte er versinken. Aus seinem Schlaf war er gerissen, von seiner Arbeit fortgetrieben, von der Heimat und der Mutter verlassen, sein Lohn war geraubt, alles war in Feindschaft gegen ihn gestellt. Still, sanft, traurig legte er die Reise zurück und betrat das Gefängnis. Er beachtete kaum seine neue Umgebung. Er war während der Untersuchungszeit ruhig und ohne jedes Schuldbewußtsein. Nach und nach wich auch seine Traurigkeit wieder, er pfiff und sang leise vor sich hin in seiner Zelle, nur ab und zu überzog ein grüblerischer Ernst sein schönes, kindliches Gesicht. Bei den Verhören war er aufmerksam, klug und gewandt. Er antwortete in kurzen Sätzen und widersprach sich nie. Er log nicht; konnte er die Wahrheit, die ihm selbst nicht klar war, die er aber als Feind, als Gefahr für sein Leben ahnte, nicht sagen, antwortete er: »Das weiß ich nicht, das kann ich nicht sagen.«

Die Untersuchung erforderte einen ungeheuer großen Aufwand an Arbeit, Zeit und Mühe. Der ganze voraufgegangene Prozeß gegen die Zigeuner wurde von neuem aufgerollt, unzählige Zeugen und Sachverständige in wiederholten Verhören vernommen, bis endlich die Anklage formuliert werden konnte. Da der Angeklagte zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt war, wurde sie nicht einem Schwurgericht, sondern einem Spruchgericht vorgelegt. Gestützt wurde die Anklage auf direkte, durch Zeugen und Tatsachen begründete Beweisführung. Im Anfang war auch die Mutter des Angeklagten wegen Verdachtes der Mitwisserschaft beobachtet worden. Doch dieser Verdacht mußte wieder fallen gelassen werden, auch ihre Zeugenschaft hatte bisher nicht viel zur Klärung beigetragen, da sie die furchtbare Anschuldigung ihres Sohnes durchaus nicht begründen wollte. Auch war die Mutter nicht zu einer Begegnung mit ihrem Kind im Untersuchungsgefängnis zu bewegen, von der man sich viel versprochen hätte. Dagegen erbot sich sein Dienstherr, der Schultheiß Mandelkow, wiederholt freiwillig, mit ihm zu sprechen und ihn zur Wahrheit zu ermahnen. Er kam dem Angeklagten mit vertraulichem Lachen, mit Augenzwinkern und Scherzen entgegen, versuchte durch freundschaftliche Ratschläge ihn zum Reden zu bringen. Doch Fritz sah ihn ruhig und überlegen an, lachte nicht und sprach nicht. Alle Versuche, den Angeklagten zu irgendeinem Geständnis zu bewegen, waren also vergeblich, und während die Untersuchung am Tatorte und die Protokolle der Zeugen die Anklage mehr und mehr erhärteten, schien alles, wendete man sich an den Angeklagten selbst, wieder zusammenzufallen vor dessen Ruhe und sicheren Aussagen.

Die Zeit bis zur Verhandlung verging für Fritz sehr schnell. Er arbeitete am Tage, aß wenig und erwartete mit Spannung die Verhöre. Nachts schlief er tief auf dem harten Lager, von Zeit zu Zeit durchwogten gestaltlose Träume seinen Schlaf. Dann erwachte er und fand seine Hände in der Tiefe seines Leibes ineinander verstrickt, eingekrampft in das eigene Fleisch, und während er sie auseinanderlöste, schüttelte ihn das alte, lautlose, zischende Lachen. Daß er in einer Zelle allein für sich leben mußte, erfüllte ihn mit Zufriedenheit, ja mit Stolz. Er hielt seine Zelle sehr sauber und in peinlichster Ordnung, richtete sein Bett genau nach der Vorschrift, beschmutzte seinen Tisch nicht mit dem Eßgeschirr und hatte sich bald so weit gebracht, daß er seine Notdurft nur abends verrichtete, kurz ehe das Gefäß entleert wurde, so daß nichts von Geruch in seiner Zelle zu merken war. Im November wurden ihm warme Kleider gebracht, die ihm sein Herr, Christian B., schickte. Er legte sie sofort voll kindlicher Freude an. So erschien er am ersten Verhandlungstage, in nichts gegen früher verändert, außer daß sein schönes Gesicht manchmal den Ausdruck sanfter Traurigkeit zeigte.

Er nahm ruhig, fast mit bescheidenem Stolz, auf der Anklagebank Platz, blickte sich aber nicht um, sondern verfolgte den Gang der Verhandlung mit unermüdlicher Aufmerksamkeit.

Die Verlesung der Anklage dauerte drei Stunden lang. Sie entrollte noch einmal ausführlich von Anbeginn an das Schicksal der kleinen Anna B., ihr Verschwinden, die Verfolgung der Zigeuner, den Prozeß gegen diese und das Auffinden der Leiche in der Scheune nahe dem elterlichen Hause. Begründet wurde die Anklage gegen Fritz Schütt damit, daß er zuletzt mit dem Kind gesehen worden war, und zwar in unmittelbarer Nähe der Scheune, in der es als Leiche wiedergefunden wurde, daß er ferner von seiner Mutter in der fraglichen Zeit mit einer Hacke in der Hand angetroffen worden sei, über deren Gebrauch er keine genaue Angabe machen konnte, daß er keinerlei verdächtiger Momente gewahr geworden sein wollte, deren Zeuge er notwendigerweise hätte sein müssen, da die Anna B. in unmittelbarer Nähe von ihm ermordet und verscharrt worden sein mußte, und endlich darauf, daß er zu verschiedenen Malen, als man das Kind noch suchte, die Äußerung getan habe, daß es nicht mehr zu finden sei.

Die Verteidigung erhob sofort die Einwände, daß der Prozeß gegen die Zigeuner noch immer nicht geklärt sei, daß die Zeugen, die das Kind Anna B. lebend bei ihnen angetroffen hatten, noch immer da seien, und daß es ebenso gut möglich sei, daß die Zigeuner das von ihnen geraubte und getötete Kind in der Scheune, nahe dem elterlichen Hause, verborgen hätten, um den Verdacht von sich ab und auf die Leute von Treuen zu lenken.

Auf diese Einwände hin wurde das Gutachten der Sachverständigen verlesen, das bekundete, daß die Leiche des Kindes in einem Zustand der Mumifizierung statt der Verwesung aufgefunden worden sei, daß dieselbe also sofort nach dem Tode von atmosphärischer Luft abgesperrt gewesen sein müsse, wozu der Aufenthalt in der Abgeschlossenheit des Scheunenraumes an sich schon geeignet sei, noch mehr aber dadurch, daß die Scheune bald nach dem Verscharren der Leiche mit Erntefrüchten gefüllt wurde, welche die Luft völlig absperrten und den Prozeß der Mumifizierung begünstigten. Ein Transport der Leiche von Seiten der Zigeuner, bei denen das Kind ja noch im August, also zu einer Zeit, da die Scheune schon geschlossen war, gesehen worden sein sollte, sei also völlig ausgeschlossen.

Alle diese Ausführungen, die er allerdings in ihrer formulierten Ausdrucksweise nicht immer verstand, verfolgte der Angeklagte mit großer Aufmerksamkeit von Anfang bis zum Ende. In einer kindlichen Spannung hingen seine Augen an den Lippen der Sprechenden. Als er unter den Zeugen die beiden Entenhirtinnen erblickte, nickte er ihnen lächelnd zu. Die Mädchen aber erröteten und wandten ihre Gesichter fort. Die Verhandlung dauerte an diesem Tage von zehn Uhr morgens bis drei Uhr mittags.

Als Fritz in die Zelle zurückgebracht wurde, fragte er den Wärter, wann es denn morgen wieder losgehe. Er erwartete die Verhandlungen mit Freude, es erfüllte ihn mit Befriedigung, wenn er im Saal auf der Anklagebank saß, durch eine Umzäunung von den anderen Menschen getrennt, deren Nähe er immer geflohen war und sie nun doch hören und sehen konnte.

Die zweite Verhandlung dauerte von morgens neun bis nachmittags fünf Uhr mit einer Pause von zehn Minuten. Auch da ermüdete der Angeklagte nicht, saß ruhig, unbeweglich da, nur seine Augen wanderten von einem zum andern. Trotz der großen Lebhaftigkeit, mit der er alles verfolgte, ließ er sich nie zu einem Ausruf oder einem Wort hinreißen, sprach nur, wenn er gefragt wurde, und gab die gleichen, kurzen Antworten dem Staatsanwalt wie dem Verteidiger. Er brach an diesem Tage einmal in Lachen aus, so frei und herzlich, daß der Verteidiger sofort als auf ein Entlastungsmoment darauf hinwies. Es war bei der Vernehmung des Zeugen Mandelkow. Der Vorsitzende fragte den Angeklagten: »Ist es wahr, daß Sie sich bei der Mitteilung des Schultheißen Mandelkow von dem Auffinden der kleinen Anna als Leiche in der Scheune der Domäne verfärbt haben?«

Fritz richtete seinen Blick erst lange auf den Vorsitzenden, dann auf den Zeugen, der ihn mit lächelndem Mund unter den tückisch funkelnden Augen ansah, und sagte langsam, aber übermütig: »Das wird der Herr wohl wissen, ich weiß es nicht, ich kann mir doch nicht selbst in das Gesicht sehen.« Und er lachte bei seinen eigenen Worten hell und kichernd auf.

Der Vorsitzende fragte weiter: »Ist es wahr, daß Sie in einem Gespräch mit Ihrem jetzigen Dienstherrn den Kriminalkommissar verdächtigt haben, Sie betrunken zu machen?«

»Jawohl, das habe ich gesagt. Er hat mir Bier und Wein geben lassen. Ich habe vorher erzählt, daß ich nur Milch trinke.« Und mit dem Finger auf den neben ihm stehenden Kriminalkommissar zeigend, fügte er hinzu: »Das ist ein sehr kluger Herr!«

Hier brach im Saal ein allgemeines Gelächter aus, der Kommissar wandte sich verlegen zur Seite. Der Präsident rief zur Ordnung und wandte sich von neuem an Fritz: »Sie halten sich nach allen Aussagen und Beteuerungen für unschuldig, wieso kamen Sie darauf, dem Zeugen Mandelkow gegenüber zu sagen, daß Sie wohl wüßten, zwei Jahre seien Ihnen bestimmt? Wofür glauben Sie denn eine Strafe verdient zu haben?«

»Ich weiß nicht mehr, daß ich so etwas gesagt habe. Der Herr war immer hinter mir her. Er hat mir gar keine Ruhe gelassen. Er hat wohl hier wollen viel erzählen.«

Der Schultheiß auf der Zeugenbank zischte wütend durch die Zähne.

Der Vorsitzende fuhr fort: »Aus welchen Gründen verließen Sie Nacht für Nacht Ihre Kammer und schliefen statt im Bett auf Stroh im Pferdestall?«

»Das kann ich nicht sagen, es ist mir lieber so. Ich bin ja am Tage auch bei den Pferden.«

»Und warum vergraben Sie Ihren ehrlich ersparten Lohn unter der Erde, statt ihn im Koffer aufzuheben wie alle anderen?«

Fritz errötete. »Ich weiß nicht. Es ist unter der Erde besser fort«

»Wieso fort?«

»Ich weiß nicht.«

»Vergraben Sie öfters Dinge, die fort sein sollen?«

Fritz schwieg.

»Wieso kamen Sie zu den Äußerungen Ihren Kameraden auf der Domäne gegenüber, daß das Kind wohl nicht mehr zu finden und es wohl gut verwahrt sei?«

»Das war doch auch so.«

»Aber woher wußten Sie das?«

»Das dachte ich so.«

»Haben Sie viel an das verschwundene Kind gedacht?«

»Ach nein. Es war immer viel Arbeit.«

Es folgte dann noch die Vernehmung der zwei Zeugen aus dem Prozeß gegen die Zigeuner, die als glaubwürdig verblieben waren und unter Eid nochmals aussagten: in der ihnen vorgelegten Photographie des Kindes Anna B. mit der größten Bestimmtheit jenes Kind zu erkennen, das sie bei den Zigeunerbanden gesehen hatten. Mit dieser für den Angeklagten günstigen Zeugenvernehmung schloß der zweite Gerichtstag.

Erschöpft, in tiefer Müdigkeit, schlief der Angeklagte vom frühen Abend bis zum nächsten Morgen in ruhigem, traumlosem Schlaf, während Richter, Verteidiger und Staatsanwalt in schlafloser Nacht von neuem ein jeder sich wieder und wieder in die Akten versenkten, in Eifer, Mühen und Sorgen sich auf den nächsten Tag vorbereiteten, der das Urteil in diesem die Öffentlichkeit in so weitem Maße beschäftigenden Prozeß bringen sollte.

Am dritten Tag begannen die Verhandlungen um neun Uhr morgens und dauerten bis zehn Uhr abends mit einer Pause von zwei Stunden. Material, Verhöre, Zeugenaussagen häuften sich, der Eifer, die erhöhte Arbeitswilligkeit, die nur durch unerhörte Kraftanstrengung bemeisterte Ermattung der Richter schufen schon am frühen Vormittag eine ungewöhnliche, fieberhafte Spannung im Gerichtssaal, gegen die die Ruhe, das gleichmäßig heitere Antlitz des Angeklagten sonderbar abstach.

Denn bisher hatte ihn nichts erschüttern, ja, nicht einmal berühren können von dem, was von den Richtern verhandelt und verlesen wurde, ihre Fragen und Mahnungen konnten ihn nicht erreichen. Denn diese Welt, die feindlich, mit klaren Worten und Gesetzen gegen ihn anstürmte, konnte nie der Spiegel der Wahrheit für ihn sein. Unverständlich waren für ihn »Mord« und »Unzuchtsverbrechen«, unverständlich waren ihm ja selbst die dunklen, bösen Gefühle, der Rausch und die mörderische Wollust, die in seiner Seele verborgen lagen. Das verschwundene Kind war ihm nicht mehr als ein versunkener Schlaf, eine in Bewußtlosigkeit verträumte Umarmung. Die Leiche des Kindes, die ausgebleichten Knochen und der hohle weiße Schädel hatten ihn an nichts erinnert. Er hatte geliebt und hatte gemordet, doch er wußte nicht, daß es zweierlei war, und er wußte nicht, daß er beides getan hatte.

Er fühlte wohl dunkel, daß er verloren sei, so wie die Welt für ihn verloren war seit jenem Morgen, da man ihn von Schlaf und Arbeit fortgerissen und ins Gefängnis gebracht hatte. Doch das Warum fühlte er nicht. Daher sein dem Richter unverständlich hartnäckiges Leugnen, seine Ruhe, seine Unbefangenheit, seine Heiterkeit.

Jedoch am Nachmittage des dritten Verhandlungstages erschienen Christian B. und die Mutter des Angeklagten als Zeugen. Von diesem Augenblick an veränderte sich das Verhalten des Angeklagten völlig. Er bewahrte zwar noch immer seine Ruhe, und die Erschütterung, die sich bei dem Anblick der beiden auf seinem Gesicht zeigte, war noch immer nicht die eines plötzlichen Schuldbewußtseins und konnte auch von dem Richter nicht so gedeutet werden. Aber seine Augen, weit geöffnet, von Erregung feucht und verdunkelt, wanderten halb gerührt, halb voll Spannung von einem zum andern, bis sein Blick sich ganz und gar in das Gesicht der Mutter vergrub. Er war erst errötet, nun erblaßte er tief.

Das Gesicht der Mutter, von unzähligen, erst kurz verheilten, noch geröteten Wunden zerschnitten, die als ewige Striemen über die klare Stirn, die guten Wangen und das weiche Kinn gezogen waren, bedeutete für ihn ein Schrecken, eine böse Drohung. Sie hatte nur einen kurzen Blick auf ihn geworfen, schnell preßten sich ihr bittere Tränen aus den Augen und rieselten heiß und schmerzend über das dornige Gewirr ihrer Narben auf ihre Brust nieder. Da geschah das Seltsame, daß der Sohn langsam die Hände zur Brüstung des Gitters hob, sie ineinanderfaltete und mit flehendem Ausdruck, mit einer gespannten Traurigkeit an den Lippen seiner Mutter hing.

Es wurde aber zuerst Christian B. vernommen. Seine hohe, schon so gebeugt gewesene Gestalt erschien wieder jung, aufgerichtet, seine Schultern waren gereckt, schienen willig, Last und Sorgen von neuem zu tragen, aber sein Gesicht, weiß umrahmt von Haar und Bart, war das eines Greises. Die Haut war durchfurcht von Falten des Grames, der erloschen war, die hohe Stirn zermürbt von Kampf ohne Sieg oder Gnade, nur die Augen schienen noch lebend in einem sanften Glanz abgründiger Demut, wenn die Lider, die schwer wie Grabdeckel sie bedeckten, sich hoben.

Er machte seine Aussagen mit ruhiger Stimme, ohne Erregung. Über den Angeklagten befragt, sagte er, daß er ihn immer für einen fleißigen, ehrlichen, nicht bösen Menschen gehalten habe.

Der Vorsitzende: »Halten Sie nun nach allem, was sich ergeben hat, den Angeklagten für schuldig?«

Christian: »Ich will das nicht entscheiden. Ich bin kein Richter.«

»Sie haben ein Jahr lang die größten Opfer gebracht und mit unendlicher Mühe die Nachforschungen nach Ihrem armen Kinde betrieben. Würde es Sie nun nicht auch mit Genugtuung erfüllen, wenn das Gericht endlich die Lösung des furchtbaren Unglücks findet und die entsetzliche Tat nach Möglichkeit irdischer Gerechtigkeit sühnt?«

Christian: »Nein, ich empfinde keine Genugtuung darüber, und eine Erklärung für den Tod meines armen Kindes könnte ich auch in der bewiesenen Schuld des Angeklagten nicht finden. Und keine Strafe kann das sühnen.«

Da sprang die Mutter plötzlich von der Zeugenbank auf, trat neben ihren Herrn und rief mit lauter Stimme: »Er ist schuldig, strafen Sie ihn, strafen Sie ihn, Sie müssen ihn strafen!«

Ihre Narben glühten wie feurige Schlangen in ihrem Gesicht auf, während Ströme von Tränen es überfluteten, ihr weinender Mund ausgeweitet bebte. Auch der Angeklagte war aufgesprungen und starrte nach der Mutter hin. Im Saal erhob sich ein Tumult, der Vorsitzende rief zur Ruhe, und der Herr führte die Magd an ihren Platz zurück, strich ihr beruhigend über Schultern und Arme. Der Verteidiger beantragte eine Pause, damit die Zeugin sich beruhige, ehe sie ihre schwerwiegende Aussage mache. Es trat die Pause von zwei Stunden ein. Der Angeklagte wurde in die Zelle zurückgeführt, wo er unbeweglich auf seinem Schemel hockte, beide Hände weich und wie schützend vor sein leicht gesenktes Gesicht gelegt. Er ließ das Essen unberührt; er schien zu schlafen, als man ihn wieder zur Verhandlung; rief.

Die Verteidigung warf jetzt die Frage auf, ob der Angeklagte jene Hacke, mit der seine Mutter ihn angetroffen habe und auf die sie bisher ihre Anklage stütze, nicht lediglich dazu benutzt haben könne, den alten Bettler, der um die fragliche Zeit auf dem Hofe der Domäne sich aufgehalten, zu verjagen. Dieser alte Zigeuner war nach seiner Entlassung aus der damaligen Haft von seiner Bande abgefallen und hatte sich durch die ganze Zeit in der Umgebung von Treuen aufgehalten. Er sei geladen, und die Verteidigung beantrage seine Vernehmung vor der der Mutter.

Der Alte wurde vorgeführt. Er war über und über mit einer womöglich noch dickeren Kruste von Schmutz und Erde bedeckt als früher, die gleichmäßig fast sein ganzes Gesicht, Haar, Hände und Kleidung überzog; sie war mit Strohhalmen, mit Resten von Unrat verflochten, die von den Kehrichthaufen oder Stallecken hängengeblieben waren, welche ihm zum Nachtlager dienten. Sein Erkennungszeichen, die Wunde am Hals, war unter Schmutz verschwunden, den ihm erst ein Gerichtsdiener abkratzen mußte, damit sie festgestellt werden konnte. Er ging schwer. Seine Füße, mit unerkennbaren Lumpen und Lederresten umwickelt, schienen bei jedem Schritt mit der Erde zu verwachsen und mit unendlicher Mühe sich wieder von ihr aufzuheben. Dagegen sprach er jetzt fließend, lachte viel, und seine Augen blickten schwarz, lebendig und klug aus dem unter Bart und Schmutz versteckten Gesicht hervor. Er erkannte den Angeklagten sofort wieder und erhob drohend gegen ihn den Finger. Der Vorsitzende legte ihm eine Abbildung des Gutshofes in Treuen vor und fragte ihn, ob er sich besinnen und zeigen könne, aus welcher Richtung der Angeklagte mit der Hacke hergekommen sei. Er zeigte sofort auf die Gartenseite der Scheune.

»Und was tat der Angeklagte mit der Hacke, als er Sie sah?«

»Oh, er wollte sie auf mich feuern, der schlimme Kerl, es ist ein schlimmer Kerl, ich bin schon alt, und manchmal muß ich stehlen, ein alter Mann kann doch ruhig einen Apfel stehlen im Sommer, wo sie an den Bäumen hängen, die Menschen haben ja immer Äpfel gestohlen, Herr Richter, das wissen Sie doch auch, Sie wissen schon, wo ich meine. Aber gleich kommt einer mit der Hacke, das ist zu hart, Herr Richter, zu hart.«

»Haben Sie noch bemerkt, wohin der Angeklagte sich dann mit der Hacke wandte?«

»Ich habe ihm den Rücken gekehrt, wie einem Teufel. Ich wollte ihn lieber hinter mir haben, ich bin gelaufen, einmal habe ich mich umgedreht, da hat er beim Brunnen gestanden und hat gelacht. Er ist ja sehr hübsch, aber schlimm, Herr Richter.«

»Und haben Sie sonst nichts bemerkt, etwas Auffälliges?«

»Nichts bemerkt, nichts. Es war so schön leer im Hof. Zwei oder noch mehr Äpfel hätte ich bekommen können.«

»Nehmen Sie sich in acht, wenn Sie stehlen, kommen Sie mit dem Gesetz in Konflikt, Sie wissen doch, daß man nicht stehlen darf?«

»Jawohl, Herr Richter, man darf es nicht, jawohl«, und seine schwarzen Augen funkelten vor Vergnügen, als er das sagte.

Der Vorsitzende beherrschte sich und fragte ruhig weiter: »Und Sie haben auch von dem Kind, das, Sie wissen ja, an dem Tag verschwand, nichts bemerkt?«

»Nein, es war leider kein Kindchen zu sehen, es hätte mir die Äpfel geschenkt. Es lief aber keines herum, es hat auch keines gerufen oder geschrien. Ich weiß schon, nach dem Kind habt ihr mich schon immer gefragt, aber ich habe keines, habe keines gehabt, wie ich jung war, auch nicht, bin kein Väterchen.« Alles lachte. Der Verteidiger stellte fest, daß kein Beweis vorliege, daß der Angeklagte mit der Hacke wirklich in der Scheune war.

Die Mutter wurde wieder vorgeführt. Sie war ruhiger, und das Verhör nahm seinen formellen Lauf. Der Vorsitzende:

»Sie wissen, daß Sie als Mutter des Angeklagten da3 Recht haben, Ihre Aussagen, soweit sie ungünstig sind, zu verweigern?«

»Ja.«

»Trotzdem traten Sie in der Voruntersuchung als Kronzeugin auf und sprachen als erste bei dem Auffinden der Leiche den furchtbaren Verdacht über Ihren Sohn aus.«

»Ja.«

»Halten Sie denselben auch heute noch aufrecht?«

»Ja.«

»Und sind bereit zu erklären, von dem Recht der Aussageverweigerung keinen Gebrauch zu machen?«

»Ja.«

»Wollen Sie den Eid leisten?«

»Ja.«

Der Vorsitzende ließ Emma schwören. Sie umkrampfte dabei mit beiden Händen das einfache Kreuz.

»Wollen Sie uns nun die Gründe Ihres Verdachtes angeben?«

»Welche Gründe?«

»Nun, woraus schließen Sie die Schuld Ihres Sohnes an dem Tod des Kindes?«

»Ich weiß es.«

»Nun, und woher wissen Sie es? Haben Sie etwas von der Tat bemerkt?«

»Ich habe keine Tat gesehen.«

»Also wann stieg Ihnen zum erstenmal der Verdacht auf?«

»Ich mußte die Hacke holen, wie das Kind gefunden wurde, und wie ich sie in der Hand hielt und in die Scheune lief, da wußte ich es.«

»Die Hacke hat Sie also daran erinnert, daß Sie Ihren Sohn vor Jahresfrist damit sahen?«

»Ja, wie ich die Hacke in der Hand hielt und in die Scheune lief, hat sie hin und her geschaukelt wie bei ihm.«

»Von welcher Richtung kam damals Ihr Sohn?«

»Es war im Scheunentor.«

»Damals war Ihnen nichts verdächtig erschienen?«

»Nein.«

»Und auch während des ganzen vergangenen Jahres haben Sie nichts Verdächtiges an dem Angeklagten bemerkt?«

»Nein.«

»Wie war er zu Ihnen?«

»Sanft und gut und fleißig.«

»Sprachen Sie mit ihm über das Verschwinden des Kindes?«

»Wir haben zusammen gebetet, daß das Kind wiedergefunden werden möchte.«

»Und er hat mitgebetet?«

»Er hat gebetet und gesungen mit mir.«

»Ihr Verdacht ist also doch nur eine Vermutung, oder sagen wir ein Gefühl, und daraufhin erheben Sie eine solche Anklage, die einen Menschen zum Schafott bringen kann?«

»Er ist doch ein Mörder!«

»Er ist doch Ihr Sohn!«

»Darum weiß ich es.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich weiß es, und darum will ich sterben, ich kann nicht mehr leben.«

»Ganz recht, Sie waren so von der Schuld des Angeklagten überzeugt, daß Sie einen Selbstmordversuch machten. Haben Sie nun, gesetzt den Fall, es wäre so, auch darüber nachgedacht, aus welchem Grunde wohl der Angeklagte das Kind ermordet haben sollte?«

»Ich weiß es.«

»Nun, warum?«

»Ich kann es vor den Menschen nicht sagen.«

»Vor den Richtern aber wollen Sie es sagen?«

»Ja.«

Es wurde auf kurze Zeit die Öffentlichkeit von der Verhandlung ausgeschlossen. Der Richter fragte die Zeugin leise, in fast zartem Ton: »Nun, warum, glauben Sie, hat der Angeklagte diese Tat getan?«

»Er mußte es tun, es war sein Trieb.«

»Haben Sie irgendwelche unzüchtigen Handlungen an ihm bemerkt?«

»Nein. Niemals.«

»Also, können Sie uns nicht den Grund sagen?«

»Ich will alles sagen, denn er muß bestraft werden. Es fängt bei seinem Vater an, der hat mich niedergeworfen und hat mich entsetzt, mich mit Gewalt gezwungen, und ich habe dann das Kind bekommen. Es war aber ein gutes und sanftes Kind. Es war auch schön, sehr schön. Einmal war er krank, und ich habe ihn gewaschen am ganzen Körper, und da habe ich seine Blöße gesehen, und es war kein Kind mehr, sondern ein Mann, und es war böse, es war ein schwarzer Trieb, und es war nicht mehr mein Kind, ich habe mich vor ihm gefürchtet. Und wie ich die Hacke holte, habe ich alles gewußt, Herr Richter, und sie hätten mich totschlagen sollen, sie sollen ihn totschlagen, und sie sollen mich totschlagen, denn es ist doch mein Kind, das ist das Beste«, und sie wandte sich plötzlich gegen den Sohn, hielt ihm ihr zerfetztes, bleiches Antlitz entgegen, und während ihre Augen mit unzerstörbar guten Mutterblicken seine Gestalt umfingen und ihr Herz, zerschnitten und zerfetzt wie ihr Gesicht, mit unversiegbarer Zärtlichkeit sich füllte, flehte sie ihn an: »Lüge nicht; laß dich erschlagen, laß dich totschlagen, du weißt ja nicht, wie böse du bist Ich will es dir ja sagen, aber wie soll ich es nur sagen? Es ist so furchtbar mit dir, wenn du Freude haben willst, mußt du immer Böses tun, verstehst du das, die Natur ist böse in dir; du dürftest kein Mann sein, es wird nur immer Schreckliches aus dir kommen, leugne nicht, laß dich totschlagen, wenn du stirbst, sterbe ich auch, du bist mein Kind!« Sie war langsam bis an die Barriere gekommen, mit einem heftigen, sehnsüchtigen Griff riß sie den Kopf des Kindes an ihre große Brust, preßte sein Gesicht gegen ihr Herz, fest und fester, mit aller Kraft, mit allem Wunsch, ihn da zu ersticken, seinen Atem aufzusaugen mit den Stößen ihres Herzens. Vergebens wehrte sich der Sohn gegen die eiserne Umarmung, erst zwei herzutretende Gendarmen konnten sie voneinander trennen. Keuchend, mit halb ersticktem Atem und hochgerötetem Kopf erhob sich Fritz, während die Mutter erschöpft mit leisem Weinen zusammensank.

Der Vorsitzende wandte sich an den Angeklagten: »Angeklagter, was haben Sie zu den Worten Ihrer Mutter zu sagen?«

Er antwortete, immer noch keuchend, mit heißen, vorgequollenen Augen in dem roten Gesicht, sehr schnell: »Ich habe nichts getan.«

Die Zeugin wurde entlassen und die Öffentlichkeit wiederhergestellt. Es war schon nachts, als die Verhandlung schloß. Das Urteil sollte am nächsten Tag gefällt werden.

Richter, Staatsanwalt und Verteidiger schliefen selbst nach den Anstrengungen dieses Tages kaum einige Stunden in der Nacht. Hatte es schon die Anspannung aller Geisteskräfte gefordert, die Tatsachen dieses Prozesses zu klären und zu bestimmen, schien es jetzt, wo nun das Urteil gefällt werden sollte, ganz unmöglich, die letzte Klarheit zu erkennen. Nach monatelanger Arbeit in der Untersuchung, mit einer sein eigenes Dasein ganz auslöschenden Hingabe, mit einer ihn selbst verwirrenden Einfühlung in die Atmosphäre der schrecklichen Tat erwog der Richter noch in der letzten Nacht Schuld und Urteil in der gleichen Ungewißheit wie am ersten Tage.

Der Angeklagte schlief auch in dieser Nacht tief und traumlos. Doch hatte der Anblick der Mutter, ihr von Leiden und Narben zerfetztes und entstelltes Gesicht und mehr noch ihre furchtbaren Worte ihn mit Macht getroffen. Diese Worte, die mehr als Worte, die Blutzeugen seines eigenen Blutes waren, die das Verborgenste in ihm trafen, von dem er selbst noch nicht gewußt hatte, sie waren der erste glühende Funken, aus dem jene Flamme erstand, die dieses schwarze Blut, diesen mörderischen Schoß und sein böses Zeugen ausbrennen sollte, die nach und nach diese Seele erleuchten sollte bis zu der Erkenntnis ihrer selbst.

Sein erstes Empfinden war Furcht. Die Mutter wollte die härteste Strafe für ihn, er war verloren. Nie würde es wieder werden, wie alles einmal war, die Strafe mußte er auf sich nehmen. Er stand in der vom hellen Mondschein der klaren Winternacht erhellten Zelle. Er wandte sein Gesicht dem weißen Gestirn zu, das groß und nahe vor dem Gitter des Fensters schwebte, wie ein zweites Gesicht, von Gebirgen wie von Narben durchzogen, ihm zugewandt. Vor diesem Gesicht entkleidete er sich. Langsam nestelte er die Kleider auf und ließ sie von sich zu Boden fallen. Als er im Hemd stand, raffte er es schnell zur Höhe, zeigte seinen Leib. Alles blieb ruhig. Still und schön blieb das silbern schwimmende Antlitz des Mondes, und doch vermochte er nicht, seinen Blick vom Himmel loszureißen und zur Tiefe seines entblößten Leibes zu senken. Er ließ das Hemd langsam wieder fallen, er fühlte Frost und kroch unter die rauhe Decke der Pritsche. Schnell erwärmte er sich und schlief ein. Er war noch völlig vom Schlaf verwirrt, als der Wärter ihn morgens weckte, und lachte während des Ankleidens vor sich hin. Doch als er zu sich kam, wurde er ernst und still, er dachte an die Strafe.

Um acht Uhr begann die Verhandlung. Er hörte diesmal kaum zu, wartete nur darauf, seine Mutter wiederzusehen. Von ihr erwartete er die Strafe. Doch es wurden nur die Zeugen nochmals vernommen, die das Kind Anna B. bei den Zigeunern gesehen hatten, bis sich der Richter in ausführlichen Erklärungen dafür entschied, daß diesen Zeugen, nach der gegebenen, im besten Falle doch unsicheren Art aller Rekognitionen nach Bildern und Erinnerungen, weniger Glauben zu schenken sei als jenen Zeugen, welche die Leiche der Anna B. und ihre Kleider rekognosziert hatten. Dann folgten die über Stunden sich ausdehnenden Plädoyers des Staatsanwaltes und des Verteidigers über Für und Wider der Schuld. Um sechs Uhr abends erkannte das Gericht auf Grund vorliegender Tatsachen und Beweise: daß der Angegeklagte Schutt am 24. Juni die Anna B. mit Vorsatz und Überlegung getötet habe und deshalb wegen Mordes zu der gesetzlich höchsten Strafe, nämlich zu fünfzehn Jahren Gefängnis, verurteilt werde. In einer zweistündigen Ausführung begründete der Vorsitzende das Urteil. Die Milde der Strafe wurde damit erklärt, daß der Angeklagte bei Begehung der Tat sein achtzehntes Lebensjahr noch nicht erreicht hatte. Das Publikum nahm, erschöpft durch die lange Dauer der Verhandlungen, das Urteil ohne ein besonderes Zeichen von Erregung oder Teilnahme auf. Nicht anders auch der Angeklagte. Ruhig und gleichmütig erhob er sich, um den Saal zu verlassen, als plötzlich sein Dienstherr Mandelkow dicht vor ihm auftauchte und mit lauter, pfeifender Stimme, doch in beschwörendem Ton rief, daß es alle hören konnten: »Nun rede doch, sage es ihnen doch! Es kann doch nichts mehr geschehen! Sage ihnen doch, daß du es getan hast!« Noch ehe der Vorsitzende zur Ruhe rufen konnte, war schon der ganze Saal verstummt, aller Blicke auf den Angeklagten gerichtet. Fritz sah den Dienstherrn ruhig und scharf mit seinen hellen Augen an, senkte seine Hände in die Taschen und sagte laut und langsam: »Ich kann nichts sagen. Ich habe nichts getan!« Er drehte sich um, seinen Weg nach der Zelle anzutreten; in einem lebhaften Tumult erhoben sich die Stimmen der Bestürzung oder der Empörung, die seine Worte hervorgerufen hatten, hinter ihm.


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