Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Es kam der Sommer mit dem vierten Geburtstag der kleinen Anna. Im Frühjahr war das Kind leicht erkrankt, hatte Fieber, und auf seiner kleinen, linken Brust, dicht über dem Herzen, entstand ein großes, böses Geschwür. Die Mutter badete das Kind, legte heiße Umschläge und Salben auf die Wunde, und bald heilte sie auch, eine weiße, kreisrunde Narbe zurücklassend. In der Freude über die Genesung überkam die Frau plötzlich das Verlangen nach einem Bild des Kindes, und sie beschloß, mit ihm zur Stadt zu fahren, um es photographieren zu lassen. Heimlich, zur Überraschung des Mannes sollte es geschehen. Das Kind trug ein weißes Kleidchen mit kurzen, wie kleine Flügel aufgestellten Ärmeln, Arme und Füße waren entblößt. Doch es weigerte sich, entgegen seinem sonst so großen Gehorsam, hartnäckig, vor den Apparat zu treten und brach in schmerzliches Weinen aus, das seinem Kinderweinen nicht mehr glich. Dieses Weinen steigerte sich zu entsetzensvollen Schreien, als die Mutter, um es zu beruhigen, ihm erklärte, daß aus diesem schwarzen Apparat ein Bild hervorkomme, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Füßen und Händen, und den Kleidern, die es trüge. Die kleine Anna schlug in Verzweiflung die Händchen vor das Gesicht und wich bis in die äußerste Ecke des Raumes zurück. Um sie doch noch zu gewinnen, erzählte ihr die Mutter, daß das Bild dem lieben Vater zum Geschenk dienen sollte. Und nun gestand das Kind unter Schluchzen in seiner kindlichen Sprache die tiefe und sonderbare Angst seines Herzens, daß es nämlich glaubte, wenn ein Bild von ihm entstünde, genau wie es selbst, mit Augen, Haaren, Händen und Füßen, und den Kleidern, die es trüge, es selbst dann vergangen wäre in dem Bild und nicht mehr da sei. Und es wolle lieber dableiben, im Leben, bei Vater und Mutter, bei der Puppe und den Pferdchen und bei allen Tieren, die es liebte und die es der Mutter alle einzeln aufzählte. Es bat und flehte rührend, kein Bild aus ihm zu machen, und die Mutter brauchte lange, um ihm zuzureden und es zu beruhigen. Langsam gewann nur das Kind seine Heiterkeit zurück, lachte wieder und begann dann, als es nochmals vor den Apparat geführt wurde, aus eigener Eingebung eine sonderbare, wenn auch bezaubernde Stellung einzunehmen, die es sehr still und lange festhielt. Es stand leichtfüßig da, als ob die nackten Füßchen den Boden kaum berührten, das linke Ärmchen hatte es hinter sein Köpfchen gehoben, das sich leicht zur Schulter niederneigte, das rechte Händchen aber hielt es erhoben bis zur Schulter, und da streckte es weisend seinen kleinen Zeigefinger empor. Ein süßes, zartes Lächeln lag um den Mund und auf den kleinen Zügen des Gesichts, während die großen Augen noch von Tränen, Furcht und Traurigkeit verschleiert waren. Das Bild, das so entstand, ergriff später alle, die es sahen, auf besondere Weise.

Vier Wochen später, am dreiundzwanzigsten Juni, dem Tage vor Johannis, war der vierte Geburtstag des Kindes.

Es war die schöne, festliche Zeit des Sommers. Die schwere Feldarbeit hatte noch nicht begonnen. Das Getreide auf den Feldern, kindeshoch und reich angesetzt im Korn, stand noch im Grün. Die Bäume hielten noch die schwellenden Früchte an den Zweigen, die Beeren ihre glühenden Trauben zwischen den Blättern ihrer Sträucher. Nur das Heu war schon gemäht, lag tot, mit schwerem Duft in der Sonne. Der Gesang der Vögel in den Nächten war verstummt, überall hingen schon die Nester mit der zart wispernden Brut. Auf den Weiden führten die Alten ihre Jungen zur Äsung: die Schafe ihre Lämmer, die mit den zierlichen Gelenken zitternd ihre Sprünge taten, die schweren Kühe hatten ihre milchduftenden Kälber um sich, die mit weichen Mäulern das Gras von der Erde saugten, und zwei Stuten trabten hinter dem übermütig blinden Lauf ihrer Fohlen sorgend mit erhobenen Köpfen einher. Von zwei kindlichen Hirtinnen bewacht, führten die Enten ihre Jungen lärmend zum Teich, und die Hennen riefen, warnten und lockten unermüdlich das Volk ihrer Küken. Alles war in Ruhe, in Wachsen und Reifen. Die Tage waren strahlend in der noch milden Glut des Frühsommers, die Nächte durchsichtig blau, mit sternbesäten Himmeln, mit zart bewegter Luft. Ein Hauch von Frieden und Glück, von leichter Fröhlichkeit wehte aus der Natur die Menschen an, und man hörte viel Singen und Lachen auf dem Hof.

Es war Sonntag. Nach dem Gottesdienst war die Schwester des Herrn gekommen und hatte der kleinen Anna Geschenke gebracht, eine große Tüte Bonbons, ein paar feine weiße Strümpfe mit roten Ringen, in deren Fußende je zwei Taler versteckt waren. Das Kind war fiebernd vor Freude und Erregung. Es lief von einem zum andern, um ihm sein Glück über die vielen Geschenke, die es erhalten hatte, zu erzählen. Es hob mit freudebebenden Händchen die Falten seines Röckchens auf, um jedem nahe und deutlich sein neues Kleidchen zu zeigen, aus schönem, rot- und grünkariertem Stoff, an dem Leibchen und an den Ärmeln mit einer dichten Reihe schillernder Knöpfchen besetzt. Es hob, wie eine Tänzerin seine Arme ausstreckend, den kleinen Fuß empor, um die noch weißschimmernde Sohle seines neuen Stiefelchens zu zeigen. Es tobte und sprang und lachte sprudelnd, so daß es am Abend kaum zur Ruhe gebracht werden konnte, und es schien von einer so gewaltsam gesteigerten Lebensfreude erfüllt zu sein, daß es der Mutter schwer fiel, es in den Schlaf zu zwingen, so bestrickend, im tiefsten erfreuend waren seine Zärtlichkeiten, sein Liebreiz und sein Lachen an diesem Tag gewesen.

Am späten Nachmittag war der Herr aufgebrochen, um seine Schwester heimzufahren. Seit der Geburt des jüngsten Kindes war sie, die alle Jahre vorher sich selbst in bitterer Einsamkeit gehalten hatte, um nicht die Qual fremden Glückes zu spüren, doch wieder in den Kreis menschlicher Gemeinsamkeit getreten, hatte oft des Bruders Haus besucht, um an der reichen, jedem offenen Lieblichkeit des Kindes auch Freude für ihr Herz zu gewinnen. An dem Bruder aber, als an dem Vater und Erzeuger, hing sie jetzt in einer fast ehrfürchtigen Liebe. Vor der breiten, stattlichen Auffahrt zum Wohnhaus ihres Gutes trennten sich die Geschwister, denn der Bruder wendete den Wagen gleich zurück. Die Schwester sah ihm nach. Der Himmel wölbte sich um ihn, während er in die Weite der Ebene hineinfuhr, die großen, leuchtenden Sterne standen immer über seinem Haupt.

Christian fuhr langsam zurück, um ihn sank der Abend auf die Erde. Er erinnerte sich jener Fahrt, im Winter, mit Martha, seiner Braut. Damals war es kalt gewesen, die schneebedeckte Erde hellstrahlend, der Himmel aber dunkel und verborgen, und das schwarze, weitgeöffnete Auge der Frau war wie Finsternis um seine Gestalt gewesen. Jetzt war es warm, die Luft noch durchhaucht von der Sonne des Tages, der nachtblaue Himmel groß, sichtbar, schimmernd wie Glas. Die Gestirne prunkten. Die Erde aber war dunkel, verschwiegen, trächtig in sommerlicher Fülle. Er dachte an seine Frau, und plötzlich erzitterte er. Ihr gesenktes Auge fiel ihm ein, ihr nachtdunkler Blick, nicht mehr mit ihren Armen zugleich fordernd um ihn geschlungen, sondern niedergesenkt nur noch auf das Kind. Er trieb die Pferde an und fuhr schneller, von plötzlicher Sehnsucht nach dem Kinde ergriffen.

Aber als er ankam, war schon alles zur Ruhe gegangen. Schweigend und verlassen, in Sauberkeit und Ordnung lag der schöne große Hof da, der Brunnen raunte leise, gedämpfter Tierlaut kam aus den Ställen, die schon geschlossen waren. Nur die große, weite Scheune Numero vier, nahe dem Wohnhaus gelegen, hatte die Riesenflügel ihres Tores weit in den Angeln zurückgeschlagen, und ihr tiefer, fensterloser Raum stand in scharf abgegrenzter, schwarzer Finsternis in der durchsichtigen Nacht Die Sterne schwebten groß, nah und gewaltig leuchtend auch über ihrem Dach, doch nichts von ihrem Widerschein konnte in das Innere dringen.

Christian, als er die Pferde ausspannte, stand eine Weile gebannt durch diesen Anblick, er erschrak, als plötzlich die Frau ihm entgegentrat, die auf der Bank vor dem Haus ihn erwartet hatte. Doch er reichte ihr schnell die Hand und zog sie neben sich auf die Bank zu einer Rast noch nieder. Sie schwiegen. Die Natur war voll tiefster Stille, nur der Glanz der Sterne war so groß, daß er zu tönen schien.

Endlich sagte Christian, den Blick fest gerichtet auf die geöffneten Tore der finsteren Scheune: »Ist Güse für morgen bestellt?« Das war der Dachdecker, der das Strohdach der Scheune vier ausbessern sollte, ehe sie mit dem diesjährigen Korn eingescheuert werden sollte. Christian fühlte das Tönen der Sterne verstummen, die finstere Scheune rückte ferner seinem Blick, und er hörte die Stimme der Frau, die ihm antwortete: »Ja, er kommt morgen mittag.« Er sprach weiter:

»Fritz kann früh gleich zum Teich gehen, die Weiden schneiden und einweichen.«

»Ja«, sagte die Frau.

»In Wiesenschlag sieben mähen wir. Nachmittags holt Plachmann das Schlachtvieh, es muß pünktlich gemolken werden.«

»Ja«, sagte die Frau.

»Ich bin mit den Jungen oben im Wald, wir wollen fällen.«

»Ja.«

»Es wird schon gehen«, sagte der Mann.

Die Frau griff nach seiner starken, zuversichtlichen Hand, und sie schwiegen noch eine Weile. Dann erhob sich der Mann, und die Frau folgte ihm ins Haus. Sie gingen die Treppe empor und traten in das Schlafzimmer ein. Im Dunkeln vernahmen sie den zarten, reinen, hauchenden Atem des Kindes. Im Dunkeln kleideten sie sich leise aus. Die Frau stand am Bettchen des Kindes, hell schimmerten ihre Schultern und die weichgeformten Arme im Widerschein der sternendurchglänzten Nacht. Sie zögerte noch, aber plötzlich wandte sie sich um, war nahe dem Mann, ihr leises, strömendes Lachen tönte, sie umschlang ihn mit den Armen, tauchte die schwarzglänzende Nacht ihrer Augen in seinen Blick und zog ihn zu sich.

Das Kind erwachte und rief. Die Frau riß sich los, wich fort von dem Mann in der Dunkelheit. Als der Mann Licht angezündet hatte, stand sie, ohne sich zu rühren, am Fußende des Kinderbettes, den Kopf tief gesenkt, das Gesicht von ihrem schwarzen Haar verborgen.

Das Kind aber stand aufrecht im Bettchen, heiß vom Schlaf, in erregter, unnatürlicher Munterkeit lachte und sprach es, bettelte und wollte sein Geburtstagsgeschenk, sein neues, buntes Kleidchen sehen.

»Du mußt jetzt schlafen«, sagte der Vater sanft, und versuchte das Kind niederzulegen. Es begann zu weinen, und die Mutter neigte sich demütig und stumm und reichte ihm das Kleidchen hin. Das Kind nahm es in die Arme, streichelte es, dann verlangte es noch die neuen Schuhe zu sehen. Die Mutter reichte auch diese ihm hin. Das Kind strich zärtlich mit den kleinen Fingerchen über die noch unberührten weißen Stellen der Sohlen und über ihre scharfen, noch glänzenden Kanten hin. Es begann zu plaudern und zu lachen. Der Vater hob es auf und bettete es zwischen sich und die Frau. Schelmisch begann es ihm zu schmeicheln, haschte nach seiner Hand, die es festhielt und in die es sein kleines Gesichtchen schmiegte. Dann entdeckte es den breiten, goldenen Ring an seinem Finger, versuchte ihn abzuziehen, und der Vater, selbst glücklich in diesem Spiel, kämpfte mit dem Kind, ballte die Hand zusammen und nahm sein kleines Händchen darin gefangen. Jedesmal, wenn er das tat, lachte das Kind in langen, weichtönenden Zügen, rollte die kleine Kehle, und seine wie ein Blumenblatt zarten Lippen feuchteten sich. Still, mit gesenkten Blicken sah die Mutter, an des Kindes anderer Seite liegend, dem Spiel zu. Endlich ermüdete das Kind und schlief wieder ein. Der Vater verlöschte das Licht. Doch nur im ersten Augenblick umgab ihn Finsternis. Die helle, von Sternenschein durchlichtete Nacht schwebte bald vor seinen Blicken auf, er erkannte, ihm zur Seite liegend, das weißschimmernde Gesicht der Frau, die lichten Lider über die Nacht ihrer Augen gesenkt, er sah, an sein Herz geschmiegt, das am Tage goldfarbene Haar des Kindes jetzt silbern aufleuchten, und im tiefsten Frieden und Glück schlief er ein.

Doch noch einmal erwachte er, das Kind weinte im Schlafe laut und schmerzlich auf, es war kein Kinderweinen, sondern das Schluchzen einer verzweifelten Kreatur.

Er erschrak, dachte an Krankheiten, mit Sorgen wachte er die Stunden der Nacht hindurch über dem Schlaf des Kindes und trennte sich schwer von seinem Anblick, als er als erster am Morgen das Lager verlassen mußte. Das Kind aber erwachte später fröhlich wie immer, nur bestand es mit hartnäckigen Bitten darauf, daß es wieder sein neues Kleidchen und seine neuen Schuhe angezogen bekomme. Die Mutter willfahrte ihm, kleidete es in sein neues Festgewand, kämmte sorgfältig die lichten, duftigen Locken seines kleinen Hauptes und küßte mit wollüstiger Zärtlichkeit seine zarten, weichen Glieder und hielt das Kind den ganzen Vormittag in ihrer Nähe.

Es war der vierundzwanzigste Juni, der längste Tag, die kürzeste Nacht im Jahr. Der Tag hatte begonnen in wunderbarer Schönheit. Die Morgenröte schoß feurig auf, der Tau der Nacht, kaum erst gefallen, verging unter den ersten heißen Strahlen einer klar und freudig am weißen Himmel herrschenden Sonne, der sich die Erde entgegenbot, offen in weiter Ebene, stolz und prangend in herrlicher Fruchtbarkeit. Von der Erde auf zum flirrenden Äther stießen die Lerchen mit bebendem Schwung. Die Früchte reiften, die Tiere wuchsen, die Menschen fühlten ihre Kräfte, die Arbeit war heiter.

Auf dem Hofe begann das Leben früh. Der Herr hatte die Arbeiten verteilt. Zuletzt rief er Fritz.

»Du hilfst beim Dach,« sagte er, »auf Scheune vier wird Güse neu decken. Schneide Weiden beim Teich, doch nur mittelstarke, von denen soll Güse doppelte Lage nehmen. Wässere sie gut ein, zum Mittag müssen sie weich sein. Friederike und Minna können dir helfen.«

»Ich soll zum Teich?« sagte Fritz und erschrak. Doch sofort fügte er gehorsam hinzu: »Ja, Herr«, senkte den Kopf und ging.

Der Herr machte sich mit den Söhnen auf den Weg zum Wald, wo er ihnen die fälligen Stämme, die zu schlagen waren, bezeichnen wollte. Blank, der Wirtschafter, führte einen Teil des Gesindes zum Mähen in Schlag sieben. Auf dem Hofe wurde in großen Holzkübeln Schweinefutter gebrüht und gestampft, die Wagen gewaschen und Pferde getränkt, die Kuhherde war zusammengetrieben, und die Melkerinnen schleppten die großen Milchtröge ins Haus, überwacht von Emma, die alles maß und zählte. Die Hirten jagten die Hammelherde vor sich her, dem Waldrand zu, Kühe und Pferde folgten den Zügen auf die Weide, der Hof war bald wieder leer. Im Garten sammelte die Frau mit zwei Mägden die roten Trauben der Beeren, umspielt von der kleinen Anna.

Fritz war nach dem Befehl des Herrn zum Teich gegangen, den er bisher immer gemieden hatte. Mit zögernden Schritten näherte er sich ihm, vorsichtig trat er durch das Weidengebüsch zum Ufer. Doch das Wasser war nicht so, wie er es einmal geflohen hatte, dunkel glänzend in winzigen, treibenden Wellen bewegt, sondern es war jetzt unsichtbar, ausgelöscht vom Glast der Sonne, die auf ihm brütete. Unbeweglich, fremd, wie eine blendende Schicht aus gleißendem Metall, lag der Teich vor ihm. Kein Plätschern und Glucksen weicher, hüpfender Tiere war zu hören, nirgends ihre pulsdurchzuckten Leiber zu sehen. Beruhigt beugte er sich zu seiner Arbeit nieder, begann mit scharfem Messer die Weiden auszuschneiden, genau gewählt nach dem Befehl des Herrn. Dann kamen auch bald die beiden jungen Hirtinnen, Minna und Friederike, die die lange Schar der Enten vor sich hertrieben. Die Tiere stießen unter lautem Geschrei sofort in den Teich, und es war, als ob die unbeweglich gleißende Fläche sich nur schwer unter den Ruderschlägen der Tiere teilen könne, und die Wassertropfen, die bei ihrem Tauchen und Schwimmen gläsern aufsprühten, schienen aus einer anderen Tiefe als der des Teiches hervorgezaubert zu sein.

Die Sonne stieg. Fritz schnitt die Weiden, die beiden Hirtinnen banden sie in kleine Bündel und verankerten sie mit Steinen im Wasser. Sie waren vierzehn Jahre alt, ihre Röcke waren noch kurz über den nackten braunen Beinen, ihre blonden Zöpfe, am Ende ihres Geflechtes mit einem roten Wollfaden zusammengebunden, fielen unter den weißen, leinenen Kopftüchern hervor und schwangen mit im Übermut ihrer kindlichen Bewegungen. Ihre Gesichter waren einander völlig gleich, gesund und braun, mit Sommersprossen bedeckt, und wenn die Mädchen lachten, zeigten sie herrlich weiße Zähne. Sie versuchten Fritz zu necken, stachen kichernd mit den Enden der Weidenruten nach seinen Ohren, doch wenn er sich umwandte, liefen sie angstvoll kreischend davon. Merkten sie aber, daß er ihnen nicht folgte, blieben sie in der Entfernung stehen, höhnten ihn, streckten ihm ihre Zungen entgegen und schnitten ihm Grimassen. Er sah sie wohl an, sah ihre Röcke von den nackten braunen Beinen auffliegen, sah ihre aufgerissenen Münder, die ihn reizten, zuzuschlagen, aber er hielt sich, folgte ihnen nicht, arbeitete ununterbrochen weiter. Doch nach und nach, in der Umhüllung der in Sommerglut steigenden Sonne, befiel ihn eine mehr und mehr wachsende, rauschartige Erregung. Er fühlte sein Blut, wie es leise, fast kosend und schmeichelnd von seinem Herzen kam, wie es durch die Glieder trieb, wie es von weichen Schlägen emporgehoben wurde zum Kopf und in die Schläfen, bis in die feinen Adern der Augenlider hinein; sein Körper ward ihm leicht, er fühlte sich nicht mehr auf den Füßen stehen, er schien schwebend über der Erde gehalten. Er begann zu singen mit seiner unendlich sanften, hohen und schönen Stimme, langgezogene Töne eines Chorals. In seltsamer Verklärung trat die engelgleiche Bildung seines Gesichtes hervor.

Dann hatte er sich plötzlich in dem kraftlosen Zittern seiner Hände eine tiefe Wunde in den Ballen der linken Hand geschnitten. Er fühlte keinen Schmerz, sah nur sein Blut fließen. Er hielt die Wunde dicht vor seine Augen. In großen, vom Sonnenlicht leuchtend umflossenen Perlen rollte das Blut nieder, die letzte Last und Schwere seines Körpers entwich, der letzte Druck seiner Kräfte verging, das Hämmern und Pochen der Pulse verstummte, wie ein leeres, reines Gefäß schwebte er in Rausch und Traum in der Freude des sommerlichen Tages.

Doch es blieb nicht so. Der Tag wanderte weiter, die reine Minute verging in ihm. Die beiden jungen Hirtinnen kamen herbei, und als sie seine blutende Hand sahen, schöpften sie mitleidig Wasser mit ihren hohlen Händen aus dem Teich, suchten auf der Wiese Kräuter, die, mit dem großen Blatt einer Wasserrose auf die Wunde gebunden, das Blut bald stillten. Fritz besann sich auf die Arbeit, es war Mittag geworden, und er hatte noch Arbeit in den Ställen zu verrichten. Er lief zum Hof zurück. Noch immer spürte er seine Füße nicht, im Flug wurden seine Schritte vorwärtsgehoben. Mittags aß er viel und hastig, doch fühlte er keine Sättigung von dem schweren Mahle. Nach dem Essen wurde er sofort in den Wald geschickt, beladen mit einem großen Korb, der das Essen für die Holzfäller, die draußen geblieben waren, enthielt. Doch mußte er sich eilen, zurückzukommen, denn die Arbeit an dem Dach der Scheune vier, bei der er helfen sollte, begann um drei Uhr. Er setzte in langen, federnden, in den Knien immer noch zitternden Schritten durch den Wald, der kühl und dämmrig zur Besinnung mahnte. Auf dem Rückweg aber stolperte er plötzlich, fiel nieder und schlug hart mit dem Kopf auf eine Baumwurzel auf. Er erhob sich langsam, völlig verwirrt; in seiner leeren Brust stieg wie ein furchtbarer Kitzel Lachen auf, schon öffnete sich sein Mund, doch er stieß noch schnell den Kopf vor und begann von neuem in langen Sätzen heimwärts zu rasen. Als er ankam, war es schon einhalb vier Uhr. Durst quälte ihn, und er ging in die Küche, um zu trinken. Doch es war noch nicht gemolken, und die Milch vom Morgen war verbraucht. Am Herd stand Emma, seine Mutter, und überwachte das Kochen der Beeren, die am Vormittag geerntet worden waren. Er sah ihr zu, wie sie mit einem großen Hackmesser Stücke von einem riesigen Zuckerhut abhieb und sie in die kochenden Beeren versenkte. Er sah, wie die weißen Gebirge des Zuckers in dem roten, träge glucksenden, kochenden Blut des Beerensaftes standen, dann langsam sich rot verfärbten und endlich untergingen; es blieb die leise bewegte, glucksende Fläche von glühendem Rot. Die Hitze des Herdes, die weich auf- und niederzuckenden Blasen des kochenden Saftes reizten ihn von neuem. Das Lachen aus seiner Brust stieß drängend zur Kehle. Er wandte sich um, lief mit ausgedörrtem, vor Durst schmerzendem Munde am Brunnen im Hofe vorbei, weiter, zurück zum Teich, zu den Weiden, er floh zur Arbeit und Ordnung.

Vor der Tür des Hauses saß die Frau. Neben ihr spielte die kleine Anna. Das Kind sah mit seinem leuchtenden Blick Fritz nach, als er über den Hof zum Teiche lief. Einen Augenblick lang ward ihr Gesichtchen plötzlich von Ernst und Nachdenken überzogen. Sie wandte sich zur Mutter und sagte mit seltsam leiser Stimme:

»Ich muß zum Teich, ich muß noch die Enten füttern.« Denn dies hatte sie zu ihrer Freude täglich tun dürfen, seit die jungen Enten des Jahres ausgekrochen waren.

»Nein,« sagte die Mutter, »heute gehe nicht zum Teich, bleibe bei der Mutter.«

»Aber sie haben Hunger,« fuhr das Kind mit Ernst fort, »ich habe ihnen heute noch kein Brot gegeben.«

»Aber die Entlein haben doch auch eine Mutter, und die hat sie heute schon gefüttert. Bleibe nur da.«

»Aber die Mutter von den Entlein kann doch kein Brot abschneiden,« beharrte das Kind in unerschütterlichem Ernst, »ich muß doch schnell zum Teich laufen und ihnen Brot bringen«, und da es sich besann, daß die Mutter das Brot in der Speisekammer abschneiden mußte, begann es plötzlich zärtlich zu werden, zu schmeicheln, mit Bitten sie zu bestürmen, bis die Mutter aufstand und mit ihm in die Küche ging. Hier versuchte sie noch einmal, das Kind von seinem Vorhaben abzubringen, doch dieses begann nun mit seinem ganzen reizenden Übermut sie zu bedrängen. Es schlang die Ärmchen fest um die Knie der Mutter, so daß diese, gefangen in der Umschlingung, ohne Gewalt sich nicht mehr bewegen konnte, es preßte sein rundes, schelmisches Gesichtchen durch die Falten der Röcke fest an die Beine der Mutter, und unter ihrem sprudelnden Kinderlachen rief es immer wieder, daß es die Enten füttern wolle. Die Mutter versuchte sich loszumachen, doch sie vermochte nicht, gewaltsam das Kind von sich zu lösen. Vorgebeugt, sah sie die blonden Locken des kleinen Hauptes zwischen den dunklen Falten ihres Rockes wehen, sie fühlte durch ihre Kleider hindurch voll Zärtlichkeit den heißen Atem des kleinen lachenden Mundes an ihren Schenkeln leise zum Leib aufsteigen. Erregt von der Freude des Kindes, angesteckt von seinem Lachen, lachte sie mit, in langen strömenden Zügen, wie sie bisher nur die Freuden der Nacht aus ihrer Brust hervorgelockt hatten, und nun entquoll derselbe weiche Ton, tief und lockend bei der Mutter, hell und zwitschernd bei dem Kind, in innigster Vermischung beiden Kehlen. Nun losgelassen, mittreibend im Übermut des Kindes, preßte es die Mutter noch fester an sich, packte es unter den zarten Schultern und begann sich selbst tanzend im Kreise zu drehen, so daß das Kind, an den Ärmchen gehalten, mit den Beinchen aber in der Luft schwebend, in weitem Bogen mit ihr kreiste. Der ganze Raum der Küche war erfüllt von dem jubelnden Gelächter der beiden. Doch mitten im drehenden Schwung des Spieles sah die Frau plötzlich den Mann mit dem Viehhändler von den Ställen kommen, dem Haus sich nähern. Sie hielt verwirrt und erschöpft inne.

Der Mann blickte durchs Fenster und sah das lichte Haupt des Kindes an die Mutter geschmiegt und ihren dunklen Scheitel tief zu ihm niedergebeugt. Er lächelte und schritt weiter. Aber während der ganzen geschäftlichen Verhandlung, die er im Wohnzimmer mit dem Viehhändler hatte, schwebte dieser Anblick vor seinen Augen, und er fühlte in seinem Herzen eine tiefe Bewegung.

In der Küche hielten Mutter und Kind, nur schwer innehaltend in ihren kreisenden Bewegungen und schwer den erregten Atem ausatmend, sich noch immer umschlungen. Doch das Kind vergaß nicht. In unermüdlichem Lachen und in hartnäckigen Schmeicheleien wiederholte es seine Bitte.

Die Mutter aber, erschöpft von Spiel und Lachen, konnte nun nicht mehr widerstehen. Sie ging in die Speisekammer, schnitt Brot ab und zerteilte es in kleine Würfel, während das Kind mit seinem Körbchen herbeieilte und sie mit seinen kleinen Händen hineinfüllte. Obenauf legte die Mutter noch einige Scheiben von dem Kuchen, der vom gestrigen Sonntag, dem Geburtstag des Kindes, übriggeblieben war, für dieses selbst. Sie küßte das Kind, nun schon eilig, um zur Arbeit zurückzukehren, und schob es zur Tür hinaus. Doch des Kindes Liebkosungen, das Spielen, Lachen und Jagen hatten sie erregt, sie sang leise vor sich hin, ihre Bewegungen bei der Arbeit waren anders als zuvor, waren wie in den Tagen ihrer Jugend, als würden sie zu Tanz oder Freude getan, ihr Mund war geöffnet zu einem Lächeln voll Glückes ohne Ende.

Vom Teich zurück kam Fritz. Über seine Schultern hing eine Last der feuchten Weidenruten. Er ging zur Scheune Numero vier, die dem Wohnhause am nächsten lag. Vom Wohnhaus her sah er die kleine Anna kommen. In der Sonne glänzten die Farben des neuen Kleidchens, die Schwärze der Schuhe. Die flaumigen, lichten Locken des kleinen Hauptes schwebten beim Laufen wie Federn in der Luft. Sie kam auf ihn zu, hob das Körbchen an ihrem Arm und sagte: »Ich gehe die Enten füttern«, und sah ihn an. Sein Atem ging keuchend unter seiner Last, die über seinen gekrümmten Rücken hing. Sein Durst war noch immer ungelöscht, ausgedörrt sein Mund. Bei jedem Schritt peitschten die nassen Enden der Weidenruten an seine Beine. Er fühlte keinen Schmerz, doch Wut zitterte in ihm. Er ächzte leise. Er antwortete dem Kind nicht und ging weiter der Scheune zu. Das Kind lief allein zum Teich.

Fritz ging zur Scheune und ließ seine Last an der dem Felde zu liegenden Seitenwand niederfallen, dicht unter der Stelle, an der das Dach ausgebessert wurde. Eine Leiter war da angelehnt. Unsichtbar und geräuschlos arbeitete oben der alte Dachdecker. Er hockte verborgen zwischen den Weidenbündeln, die er um sich aufstellte, verflocht und mit Moos umwand, auf den Balken des Gerüstes. Er arbeitete trotz Alters und der Hitze eifrig, sah nicht viel um sich, da er durch eine fast völlige Taubheit ziemlich anteilnahmslos war. Nur von Zeit zu Zeit reckte er seinen alten Kopf zwischen den Weiden vor, um auf den Hof zu sehen, ob das Vieh zum Melken schon eingetrieben war. Denn das war für ihn das Zeichen zur Vesper, deren Läuten er nicht vernehmen konnte. Jetzt stieg Fritz die Leiter zu ihm empor und stieß ihn an. Der Alte blickte auf, besah die herbeigetragenen Bündel der Ruten, die Fritz für ihn aufgeschichtet hatte, nickte und sagte kurz: »Noch zwei«, und wandte sich der Arbeit wieder zu.

Fritz kehrte zurück. Als er an der weitgeöffneten Türe der Scheune vorüberkam, zögerte er. Es lockte ihn, in den weiten, verlassenen, dämmernden Raum einzutreten, im tiefsten Hintergrund seines Dunkels sich zu verbergen vor dem Glanz der Sonne, vor der aufrührerischen Freude dieses prangenden Sommertags. Er trat über die Schwelle, an der messerscharf flutendes, lebendurchbebtes Licht sich von dem reglosen, toten Dunkel schied, das eingegrenzt in den fensterlosen Raum der Scheune mitten zwischen Erde und Himmel stand, wie finstere Nacht im hellen Tag. Er ging über den weichen Boden der Scheune, der fußhoch mit Stroh bedeckt war. Unhörbar wurde ihm selbst sein eigener Schritt, leise nur knisterte das Stroh unter seinen Füßen. Hier war schwere Stille, dumpfe, tote Hitze, schwüler, modriger Geruch von alljährlich aufgespeicherten, hier gedorrten Getreiden. Alles legte sich mit lastendem Druck um seinen Kopf, füllte seine Glieder bleiern an, erstickte das kitzelnde Lachen in der erregten Brust, machte seine Augen blind, verhieß ihm weiche, heiße Ruhe. Er wanderte mit wohligem Gefühl in Hitze und Dunkelheit umher, stampfte im Takt seines aufwachenden, hammerschlagenden Herzens, schwer fühlte er jetzt wieder die Ströme seines Blutes durch seine Adern sich zwängen, schwerer fühlte er jetzt sich selbst, nicht mehr leer und schwebend im Rausch des Sommertags, wie bisher, er fühlte sich angefüllt werden von niegekannten, hart ihn treibenden, hart ihn bedrängenden Kräften, von fremdem, stachelndem Verlangen.

Er suchte nach einem Halt und besann sich auf seine Arbeit. Er wandte sich wieder dem Ausgang zu. Da stürzte ein Vogel mit scharfem Schrei durch den lichterfüllten Bogen des Tores in den dunklen Raum, zerriß Tod und Stille mit trillerndem Ruf und mit dem wie Herzschläge auf und nieder schnellenden Schwingen seiner Flügel. Eine Atzung im Schnabel, verschwand er in einer Ecke, die ein Balken, in die Wand einlaufend, unter dem Giebel des Daches bildete. Der hohe, zarte Ton der Brut antwortete.

»Ein Nest«, dachte Fritz. Er kehrte zum Teich zurück. Stampfend rissen ihn jetzt seine kraftgefüllten Beine vorwärts, seine Adern, erfüllt von den anströmenden Stößen seines Blutes, pochten in leisen Schlägen an seine Haut, zuckten in den Flächen seiner Hände. Er beugte sich zur Arbeit nieder, mühsam nur umfaßten jetzt seine muskelgespannten Finger die geschmeidigen Weidenruten, lastend drückte ihn sein niedergebeugter Nacken, schwer zog ihn das Gewicht des vorströmenden Blutes in dem gesenkten Haupt. Im hochgeschobenen Blick unter der zur Erde niedergeneigten Stirn sah er die kleine Anna mit den Entenhirtinnen im spielenden Lauf sich um ihn bewegen. Im Rufen, Lachen und hastigen Atem des Spieles hielt sie ihren kleinen Mund weit geöffnet. Die zarte, rosige Höhle ihres Mundes schimmerte feucht oft nah vor seinen Augen. Er richtete sich auf. Schwer rann sein Blut zum Herzen. Die kleine Anna stand dicht vor ihm. Tief gerötet das Gesichtchen, feuchten Glanz in dem strahlenden Blick der Augen, feuchten Hauch auf den wie Blütenblätter zarten Lippen und springend in hastigem Schlagen die Adern an ihrem zarten Hals. In der kleinen Hand hielt sie noch ein Stück ihres Kuchens, den sie mit den Hirtinnen geteilt hatte. Sie erhob den Blick zu Fritz, der stumm auf sie niedersah. Sie reichte ihm das Stück Kuchen hin und fragte: »Willst du auch?«

Er schüttelte stumm den Kopf, beugte sich nieder und lud sich eine Bürde von Weidenruten auf. Das Kind sah ihm mit ernsten Blicken zu. »Ich weiß ein Vogelnest mit Jungen«, sagte er leise vor sich hin.

Das Kind jubelte. »Wo? Wo?« fragte es.

Er antwortete nicht und wandte sich langsam zum Gehen. Das Kind begann ihm zu folgen. »Wir wollen den Vöglein den Kuchen geben«, sagte es.

»Ich weiß keine!« sagte Fritz und ging langsam den Weg zur Scheune. Schwer und fest setzte er die Schritte auf, die Enden der wippenden Ruten auf seinem Rücken peitschten seine Beine. Er fühlte von neuem Durst, sein Mund stand offen, wie eine langsam steigende Flut überzog dunkle Röte sein Gesicht.

»Zeig mir doch das Nest!« sagte das Kind noch einmal, dann schlich es leise, mit kleinen, schwebenden Schritten hinter ihm her.

Als sie sich dem Hofe näherten, begann Fritz plötzlich schnell zu laufen. Obwohl es an der Zeit war, war der Hof noch leer, das Vieh zum Melken noch nicht eingetrieben, die Frau in der Küche, der Herr im Haus. Fritz ging zur Seitenwand der Scheune, zu der Stelle, über der der Dachdecker arbeitete, und ließ seine Last niederfallen. Als er sich wieder aufrichtete, stand die kleine Anna vor ihm und lächelte ihn an.

»Bitte, das Vogelnest!« sagte sie schmeichelnd. Er ging an ihr vorbei, dem Eingang der Scheune zu. Nacht, Stille, heiße, weiche Ruhe und Geborgensein lockte ihn im tiefen dunklen Raume. Er trat ein und ging bis zur Mitte, dort stand er still, in Kraft und Schwere sein Körper hart gespannt.

Unhörbar war ihm das Kind gefolgt. Unter seinen leichten Schritten knisterte kaum das Stroh des Bodens. Plötzlich rief es dicht hinter ihm: »Bitte, das Nest!« Rührend durchschwebte die lebenerfüllte, süß schmeichelnde Kinderstimme den dunklen, von dumpfer Glut durchbrüteten Raum, und furchtbar erstickte den lebendigen Laut wieder die tote Stille, die von verdorrender Verwesung erfüllte Luft. Wie von weither, doch nicht aus freier Ferne, sondern wie durch Grabeswände hindurch, kamen in dem wieder herrschenden Schweigen die raschelnden Geräusche aus den Ecken, wo Ratten nagten, und von hoch oben raunte der leise menschliche Laut des arbeitenden Dachdeckers.

Das Kind erschrak vor seiner eigenen Stimme, eingeschüchtert von der Stille, flüsterte es nur noch bittend zu Fritz empor: »Zeig mir doch die Jungen.«

Fritz schlich langsam zur Stelle, wo sich hoch oben im Gebälk das Nest befand.

»Zeig!« flüsterte das Kind noch einmal und streckte ihm seine Ärmchen entgegen.

Er beugte sich nieder, packte sie unter den Schultern und hob sie empor. Sie begann unter seiner Berührung zu lachen, leise, weich, gurrend wie Taubenlaut. Er hielt sie noch höher, ganz streckte er die Arme aus, stellte sich auf die Fußspitzen, obwohl er nie die Höhe des Nestes erreichen konnte. Das Kind, lachend in seinen Händen, drohte zu fallen, mit einem schwingenden Griff packte er es fest an den Beinchen und hielt es hoch über seinem Kopf. Sein tief in den Nacken geneigtes Gesicht war schwarz gerötet, die Lider geschlossen über den in Nebeln schwimmenden Augen, die Kiefer des weitgeöffneten Mundes zitterten im Krampf.

Von böser Macht emporgezaubert stieg die furchtbare, teuflische Maske auf aus den Tiefen seines Blutes und überschwemmte mit wilder Gier die sanften Züge seines engelgleich gebildeten Gesichtes.

Unter dem Röckchen fühlte er des Kindes zartes, weiches Fleisch. Leise durchzittert von Pulsen, ruhte es kühl zwischen seinen heißen, adernklopfenden Händen. Und nun raste sein Herz auf, schwer, mit gewaltigen, stampfenden Stößen. Er konnte nichts mehr retten. Krachend warf er das Kind nieder, er warf sich nieder, er fühlte unter seiner Brust das klopfende Jagen des kleinen Herzens, in hackenden Doppelschlägen antwortete sein Herz, ineinander verfangen rissen beide Herzen ihre Schläge dahin. Alles verging um ihn. Donner umdröhnte sein Ohr, feuergleich durchwogte ihn sein Blut, sein wilder Atem schien Brust und Kehle sprengen zu wollen. Blind und gierig wühlte seine Hand danach, Kleider abzureißen, Fleisch zu zerreißen, Adern, Pulse, klopfende Herzen zu vernichten, eng umpreßte Kehlen zu ersticken im wohligen Druck, und sich auszugießen in weiche, stille Ruhe. Mit grauenhafter Gewalt zerriß sein Körper den zarten Leib des Kindes, während seine rechte Hand mit einem Griff die kleine Kehle zerbrach. Das Kind, vom Lachen zum Schrecken jäh verstummt, stieß nur noch einen kleinen zischenden Seufzer aus. Kein Schrei war erklungen. Die tote Stille herrschte. Das grabesferne Rascheln der nagenden Ratten, der gedämpfte menschliche Laut des tauben Dachdeckers über dem Dache. Das Vogelnest hoch oben im Gebälk war still, wie verlassen.


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