Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Sie erwachten erst, als es schon völlig Tag war und die alte Magd in ihrem Zimmer vor dem Ofen kniete und Feuer anzündete. Es war der zehnte Dezember, ein heller, klarer Wintertag, der Schnee funkelte auf den Dächern der Häuser, der Himmel war mit einem zarten mattgoldenen Schein überzogen, und beide, Schnee und Himmel, warfen ein starkes freudiges Licht in die Fenster der Wohnungen. Von glücklichen Empfindungen erregt, kleideten Vater und Sohn sich eilig an und warteten mit Ungeduld darauf, zu dem Kinde geführt zu werden. Die Professorin trat auch bald ein, hatte ein strahlendes, glückliches Lächeln auf dem früh gealterten Gesicht und winkte ihnen, ihr zu folgen. Sie traten nun in ein schönes, großes, durch viele Fenster blendend erleuchtetes Zimmer, dessen Wände mit zarter, grüner Seide bespannt waren, in dem Möbel aus lichtgelbem Holz standen, Spiegel und Teppiche sich befanden. In der Mitte stand ein kleines, weißes Kinderbett, das über und über bemalt war mit kleinen Engelköpfen, die aus rosa gefärbten zarten Wolken hervorblickten, und das mit einem Himmel aus weißen und rosafarbenen Schleiern überdeckt war. Es war das Bettchen des einzigen Kindes der Familie, eines Sohnes, der als Jüngling gestorben war. In ihm saß das Kind, aufrecht, vom Licht und rosa Schein der Schleier übergössen, und spielte mit einer Puppe. Als die drei eintraten, erhob es das Köpfchen, sah sie an und lächelte. Der Vater griff nach der Hand des Sohnes, denn aller Halt verließ ihn. Er blieb an der Tür lehnen, fassungslos. Dies mußte sein Kind sein!

Langsam ging die Professorin zu dem Kind hin. »Wer ist das?« fragte sie zärtlich und deutete mit der Hand auf Christian.

»Papa«, sagte das Kind leise, sah ihn an, streckte plötzlich seine Ärmchen aus und hielt ihm die Puppe entgegen. Der Vater schleppte sich mühsam näher, zögernd streckte er die Hand aus, um die Puppe zu ergreifen.

»Schenken«, sagte das Kind und lachte ihn an.

Langsam beugte sich der Vater nieder, dicht über das Köpfchen des Kindes. Sein blondes, wie duftiger Flaum gekräuseltes Haar schwebte nahe vor seinen Augen, aber er wagte nicht, es zu berühren oder zu küssen.

Die Professorin, Tränen in den Augen, fragte: »Ist das dein lieber Papa?«

Das Kind nickte, mit seligen, leuchtenden Augen, und streckte wieder die Ärmchen nach ihm aus.

»Und wo ist deine Mama?« fragte die Professorin. Sofort verzog sich das lächelnde Gesicht des Kindes zum Weinen, es begann heftig zu schluchzen, zu jammern und rief unaufhörlich Mama, ein böser Husten schüttelte den kleinen Körper, und als es endlich wieder beruhigt war, schlief es vor Schwäche sofort ein.

Der Vater wich nicht mehr von seinem Bettchen. Unverwandt blickte er auf das Gesicht des Kindes nieder. Im Schlafe sah es blaß, verfallen und mager aus. Bläuliche Schatten lagen um die geschlossenen Augen, der kleine Mund war schmal, allzufest geschlossen lagen die Lippen aufeinander, und die kleinen Händchen ruhten abgezehrt, wächsern auf der rosigen Decke des Bettchens. Aber voll rührenden Zaubers waren sein schräg zur Schulter geneigtes Köpfchen, die reine Kinderstirn, die lichten Locken seines Haares.

Nun trat auch der Knabe an das Bettchen.

»Das ist die Anna,« sagte er flüsternd, »in welchem schönen Bett sie liegt! Nehmen wir sie nun mit nach Hause?«

Der Vater nickte ihm zu. Sie waren beide allein mit dem Kinde. Wieder beugte Christian sich nieder, neigte sich den leise hauchenden Atemzügen des schlafenden Kindes entgegen. Ganz schwer und angefüllt mit aufgewecktem, aufgerührtem, menschlichem Schmerz strömte sein Blut zum Herzen, weitete es auf, Schmerz strömte zurück von seinem Herzen bis in die starken Glieder seines Körpers, umrauschte seine Gedanken, und endlich erzitterten seine Knie, weinte sein Herz und preßte mit Gewalt die Tränen in die heißen Augen. Sie fielen langsam nieder und verrannen in dem weichgelockten Haar des Kindes. Doch als er, nun ganz bezwungen, nun demütig glaubend, nun in neuer Hingabe liebend, langsam niederkniete, sein Gesicht ganz nahe dem des Kindes brachte, mit geöffneten Lippen seines Kindes Atem in sich aufnehmen wollte, da spürte er, je näher und näher die Vereinigung kam, mehr und mehr sich scheidend, den Duft eines fremden Blutes, den Atem eines fremden Schicksals, nicht den geheimnisvollen, mächtigen Widerhall des eigenen Blutes, nicht den göttlichen Spiegel der eigenen Seele, nicht das Fleisch und Blut gewordene Siegel der tiefsten, unsichtbaren Vereinigung, nicht die Krönung seiner Liebe.

Langsam bog er sich zurück, erhob sich wieder, erwartete, am Bett des Kindes sitzend, sein Erwachen.

Nach einer Weile schlug das Kind die Augen auf, sah den Vater an und lächelte. »Hast du die Puppe?« fragte es vertraut. Der Vater reichte sie ihm. Das Kind haschte nach seiner Hand, und als es seinen großen Siegelring sah, jauchzte es vor Freude. Schelmisch schmiegte es sein Gesichtchen in des Vaters Hand, mit seinen kleinen Fingerchen begann es, den Ring von seinem Finger abzuziehen. Von Erinnerung gepackt, begann der Vater es zu necken, ballte seine Hand zusammen und öffnete sie wieder, während das Kind mit jubelndem Lachen nach seinem Finger haschte, endlich doch den Ring erhielt und ihn strahlend über die zwei letzten Fingerchen seiner rechten kleinen Hand zog: es war die genaue Wiederholung jenes Spieles in der Nacht nach dem Geburtstag, vor dem Tage des Entschwindens, das Vater und Kind miteinander gespielt hatten. Der Vater sah wieder das heimatliche Zimmer vor sich, das Bett des Kindes, die Frau, die strahlend in Glück das Kind ihm reichte. Er erinnerte sich der Narbe an der linken, kleinen Brust, die er nie gesehen hatte, weil die Frau mit errötendem Gesicht die Hand über das entblößte Kind gelegt hatte. Und in der Erinnerung daran, wagte er auch jetzt nicht, das Hemdchen des Kindes zu heben, um nach diesem Erkennungszeichen zu suchen. Er rief die Professorin und fragte, doch sie hatte keinerlei Narben beim Baden des Kindes an seinem Körper bemerkt. Sofort depeschierte er nach Hause, ob die Narbe in der letzten Zeit noch zu sehen gewesen sei, und die Antwort, die nach drei Tagen kam, lautete: »Noch am letzten Tag.« Nun entkleidete die Professorin das Kind vor seinen Augen. Erschüttert sah er seinen kleinen, abgemagerten Mädchenleib, in Rührung dachte er an seine Frau. Die Narbe fehlte.

Inzwischen war die Bettlerin, der man das Kind abgenommen hatte, festgenommen worden. Sie konnte sich zwar nicht legitimieren, behauptete aber, daß das Kind ihr eigen sei, sie wolle es aber gern herschenken, da es ohnedies krank sei, und es überall besser haben würde als bei ihr. Man behielt sie, noch in Erwartung ihrer Ausweispapiere, in Gewahrsam.

Der Vater verbrachte die Tage nur bei dem Kind. Sie spielten zusammen, er beugte seinen schweren Nacken zu ihm nieder, und das Kind schlang seine Ärmchen um ihn und sprudelte sein Lachen ihm ins Ohr. Es spielte mit seinen Händen, schmiegte sein Gesichtchen hinein, spielte mit dem Ring an seinem Finger und sang oder sprach leise vor sich hin. Es glich dem verlorenen eigenen Kind so sehr, daß der Vater oft in hilfloser Verwirrung vor ihm stand. Es nannte ihn vom ersten Augenblick an Papa und erwies ihm die liebevollsten Zärtlichkeiten. Doch Karl, den Sohn, erkannte es nicht, abweisend streckte es gegen ihn die Ärmchen aus, und ganz vergebens war es, wenn der Vater das Kind an die Mutter oder an die Heimat, an das Haus mit dem Garten, an den Teich mit den Enten, an die Pferdchen, an all die Dinge, die sein Kind so geliebt hatte, erinnerte. Nach der Mutter gefragt, verzog sich sein Gesichtchen sofort zum Weinen, es schien sich zu fürchten und verlor alle Heiterkeit.

Seine Krankheit nahm immer mehr überhand, und trotz der sorgfältigsten und liebevollsten Pflege schwanden seine Kräfte dahin. Doch hofften noch alle, daß es gerettet werden könnte. Eines Abends hatte der Vater lange noch bei dem schlafenden Kind gesessen und sein Gesichtchen betrachtet. Er dachte an die Frau. Nach langer Zeit drängte es ihn, zu ihr zu sprechen, Mitteilung zu geben von dem, was er fühlte. In der Nacht wartete er, bis der Sohn schlief, stand dann leise auf, suchte sich Papier und schrieb folgenden Brief an seine Frau: »Geliebte Frau! Nach der langen Reise bin ich hier mit Karl gut angekommen und habe das Kind gefunden, das dem unseren so sehr gleicht, im Aussehen und in allem seinem lieben Wesen, daß ich Dir depeschiert habe wegen der Narbe auf der Brust. Doch dieses Merkmal fehlt, und das große Glück, unser liebes Kind wiedergefunden zu haben, ist uns nicht beschert. Die furchtbare Frage, wo es ist, ob es lebt, ob es noch in den Händen böser Menschen sich befindet, oder ob es selbst vielleicht schon zu einem verdorbenen, bösen Menschen geworden ist, oder ob es tot schon in der Erde ruht, durch eine unerforschliche Bestimmung wird uns, den Eltern, keine Antwort.

Geliebte Frau, ich will Dich um Verzeihung bitten, deshalb schreibe ich, denn Du sollst es bald wissen, und vielleicht muß ich längere Zeit hierbleiben. Ich habe Dich von mir gestoßen, und ich bin nicht zu Dir gekommen, und doch habe ich gefühlt, wie Du auf mich gewartet hast. Aber ich war im Tode bei lebendigem Leibe und Du noch im Leben. Aber jetzt ist mir, als sei ich auferstanden, und ich muß zurück zu Dir. Du wirst mich vielleicht nicht verstehen, denn ich habe zu lange geschwiegen, und nicht zu Dir gesprochen, aber es mußte sein.

Als ich das Kind hier sah, das dem unseren so sehr gleicht, das auch Anna heißt und zu mir Papa sagt, wie unser liebes Kind, fühlte ich doch sofort, daß es nicht unser Kind war, denn als ich es küssen wollte, fühlte ich nicht Dich, die Mutter, in ihm. Ich habe Dich gesucht vom ersten Augenblick meines Lebens an, wenn ein Mann an die Frau denkt. Und ich habe Dich gefunden, und Du bist mir gefolgt, nun verzeihe mir, daß ich Dich von mir gestoßen habe.

Ich habe den Plan gefaßt, daß ich das Kind, wenn seine Herkunft festgestellt sein wird und es wieder gesund ist, mit zu uns nach Hause bringen will. Wir werden es lieben und aufziehen, auch wenn es nicht unser Kind ist, und es soll unser Kind werden, nicht dem Blute nach, aber durch die Liebe, mit der wir es aufnehmen und für es sorgen wollen.

Lebe wohl, liebe Frau, hoffentlich bist Du schon ganz gesund, der Arzt sagte mir bei meiner Abreise, es sei nicht so schlimm. Denke an das Haus, und Blank soll gut für das Vieh sorgen, es ist unser Vermögen für die nächste Zeit. Karl geht es sehr gut hier, er staunt die fremde Welt an und liebt die Schwester.

Die Behörden sind überall eifrig, und die ganze Welt weiß von unserem Unglück, doch ein Höherer ist im Spiele, und alles Menschenwerk ist vergeblich.

Lebe wohl, grüße den Sohn, die Schwester, Emma und die anderen.

Lebe wohl, ich umarme Dich innigst, Dein Mann Christian B.«

Im Morgengrauen, als die andern noch schliefen, rief er leise der Magd, die in der Küche schon hantierte, und schickte sie mit dem Brief zur Post.

Die nächsten Tage ging es dem Kinde besser, es bekam ein Kleidchen angezogen, und der Vater trug es im Zimmer umher, sang ihm Lieder vor, nach deren Takte er schritt. Karl, mit dem es sich nun auch langsam befreundet hatte, kroch auf allen vieren am Boden und ließ es auf seinem Hucken reiten. Doch am fünften Tage nach dieser Besserung hatte es wieder hohes Fieber und lag apathisch in seinem Bettchen. Sein Lachen war verstummt.

Am nächsten Morgen kam seine Mutter. Sie hatte sich legitimiert als die Frau eines Arbeiters in Deutschland, die ihren Mann verlassen hatte und einem Landstreicher gefolgt war, und war aus der Haft entlassen worden. Sie war in schmutzige Lumpen gehüllt und hatte ein von Leidenschaften und Entbehrungen gleicherweise ausgezehrtes Gesicht. Sie begehrte, das Kind zu sehen, und wurde an sein Bettchen geführt. Kaum sah sie das ruhig schlafende Kind, als sie einen lauten jammernden Schrei ausstieß. »Es stirbt, ach Gott, es stirbt!« rief sie unter Schluchzen. Das Kind erwachte, und bei ihrem Anblick jauchzte es auf, mit seinen schwachen Kräften strebte es, sich zu erheben, schlang die Ärmchen um die Mutter und preßte sich fest an ihre Brust. Als es dann wieder erschöpft zusammenfiel, ließ es sich ruhig wieder in sein Bettchen legen, und die Mutter verließ unter einer Flut von Tränen das Zimmer und die Wohnung und ließ sich nie wieder sehen.

Am Morgen des ersten Weihnachtstages fand man das Kind tot in seinem Bettchen. Es war am Abend still und friedlich eingeschlafen. Gegen Morgen erst hatte es die an seinem Bettchen wachende Professorin verlassen, und als sie mit dem Vater am Tage wieder zu ihm kam, die Arme voll neuer Spielsachen, erwachte es nicht mehr. Niemand war bei ihm gewesen, als es seinen letzten Atem verhauchte.

Es wurde in einen kleinen weißen Sarg gelegt, der, mit silbernen Sternen verziert, nach der Sitte des Landes von hohen brennenden Kerzen Tag und Nacht umstellt war. Mit der traurigen Sicherheit, die sie bei dem Tod des eigenen Kindes sich erworben hatte, hatte es die Professorin gewaschen und gekleidet, sein vom Todesschweiß verwirrtes Haar geglättet, die geballten Händchen gelöst und um einen Zweig von Tannengrün ineinander gefaltet.

Der Vater stand vor der kleinen Leiche, dem Ebenbild seines Kindes. Entsetzen in der Brust, sah er hier seinen von Anbeginn gefühlten, verzweifelten Glauben, daß sein verlorenes Kind tot sei, wie in einem überirdischen Spiegel vorgezeigt, strafend erfüllt.

Leise schluchzte der Sohn, und lautlos weinte die fremde Frau. Der Professor stand in einer Ecke des Zimmers: stumm den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken gefaltet, empfand er Trauer, daß das Gute, das er hatte stiften wollen, zunichte gegangen sei.

Sie forschten am nächsten Tage nach der Mutter des Kindes und erfuhren in der Herberge, in der sie gewohnt hatte, daß sie sich mit einem anderen Vagabunden zusammengetan und die Stadt verlassen habe.

Am vierten Tage begruben die fünf Menschen, der Professor, die Frau, Christian B., sein Sohn und die alte Magd, die auch dem Sarge folgen wollte, das Kind auf dem Kirchhof der fremden Stadt, in der Reihe der fremden Toten, und errichteten auf dem kleinen Grab ein hölzernes Kreuz, mit geschnitzten Rosen und Engeln verziert, das nur den Namen »Anna« trug. In den ersten Tagen des Januar nahmen sie voneinander Abschied, und Vater und Sohn traten die Heimreise an.

Der Vater hatte noch auf eine Botschaft von daheim gewartet, doch nichts war gekommen. Sie brachen an einem dunklen, stürmischen Wintermorgen auf. Neuer Schnee fiel so stark, daß sie nur mit Mühe den ersten Teil der Reise vollenden und die große Stadt am Gebirge erreichen konnten. Hier wurden sie drei Tage aufgehalten durch ununterbrochen tobende Schneestürme, die die Straßen und Wege vollständig verschütteten. Schwarze Wolken hingen am Himmel, und der Tag war nicht mehr als eine fahle Dämmerung. Endlich, in der vierten Nacht, legte sich der Sturm, Licht ging wieder auf, und weiß und klar gefegt erschien der Himmel. Aber die Verwüstungen auf der Erde waren groß. Dächer und kleinere Häuser der Stadt waren von der Last des Schnees eingedrückt, Menschen, vergraben und auf den Wegen verirrt, fand man erstarrt in dem tiefen Schnee. Hunger herrschte. Alle arbeiteten, die ungeheuren Schneemassen auf Schlitten zu laden und sie so nach dem Flusse zu bringen. Denn das war der einzige Ausweg. Die Kälte stieg, der Schnee vereiste schnell, in großen Bergen und Blöcken schaffte man ihn auf die Eisfläche des mächtigen, breiten Flusses, wo er bald zu einem riesigen Gebirge sich auftürmte. Mit kleinen Ölfeuern taute man die zugefrorenen Brunnen, die vereisten Schlösser der Kirchen, die Riegel der Ställe auf, wo das Vieh, entkräftet von Hunger und Frost, am Boden lag. Kleine Feuersbrünste entstanden und wurden mit Schnee bald wieder gelöscht.

Stumm und namenlos mit den anderen allen arbeiteten der Vater und der Sohn mit an dem Rettungswerk. Essen wurde ihnen gereicht, und nachts schliefen sie irgendwo am warmen Ofen, weit ab von ihrem Gasthaus. Doch am zweiten Tag schon begannen die Glocken wieder zu läuten, gewaltig dröhnten sie über die noch halb verschüttete und verstummte Stadt hin. Lichter erstrahlten wieder, die Heiligen lächelten von ihren hohen Säulen herab, in schwarzen Zügen strömten die Menschen auf den schmalen Spuren der Wege in die offenen Portale der Kirchen, Gesang ertönte und Orgelspiel und die leidenschaftlichen Worte junger Priester. Es lockte Christian, auch einzutreten und, auf den Knien liegend, die Augen auf das Abbild Gottes gerichtet, Klang und Worten zu lauschen, doch die schwere Botschaft, daheim in der Kirche, in der großen Stunde der Entscheidung vernommen, stieg mächtig wieder in seinem Herzen auf und erfüllte mit beidem, mit Licht und Finsternis, zum letzten Male und für alle Zeiten seine Seele. Er zog den zögernden Fuß von den Stufen der Kirche wieder zurück.

Sie fanden dann beide, ohne eigentlich zu suchen, in ihre Herberge zurück und Zimmer und Gepäck in voller Ordnung. Da ihre Barschaft, so gut sie auch vorgesorgt und berechnet war, zu Ende ging, erwarteten sie mit Sehnsucht die Möglichkeit ihrer Abreise. Endlich, nach einer Woche klaren Frostes, konnten sie zwei Plätze in der Post erhalten, mit der sie auf Umwegen zur Grenze gelangen konnten. Beim Abschied weigerte sich der Wirt, Geld von ihnen zu nehmen, außer einer Belohnung für die Dienstmägde, und durch Gebärden und Umarmungen gab er dem Vater zu verstehen, daß er ja auch in der Not wie ein Bruder gehandelt und ihnen geholfen habe. So schied der Vater aus diesem Lande, das alles Menschliche, Freude und Kummer, Liebe und Tod, ihm menschlich gezeigt hatte, weise und voll Güte.

Die Reise war sehr beschwerlich, die Kälte fast unerträglich, überall, auf den Feldern, umgab sie Tod, auf dem weißen Schnee lagen die Leichen der Tiere, verendet unter Hunger und Frost.

Als sie endlich wieder auf heimatlichem Boden waren, sandte Christian ein Telegramm voraus, das die Ankunft meldete. Als sie in S. eintrafen, wurden sie von der Schwester erwartet, die in Trauer gekleidet war. Tod empfing Christian auch hier. Martha, seine Frau, war seit einer Woche schon begraben. Die Botschaft ihres Todes hatte ihn, durch die Unwetter verzögert, nicht mehr erreicht, und ehe die Heimgekehrten noch die Schwelle des heimatlichen Hauses betreten konnten, führten ihre Schritte sie an das Grab, das Frau und Mutter barg.

Zurückgekehrt vom Kirchhof, stiegen sie in den Schlitten und fuhren heim. Der Wirtschafter war auch mitgekommen und lenkte. Sie fuhren in den Hof ein und traten in das Haus. Der jüngere Sohn kam herbeigelaufen, flog dem heimgekehrten Bruder um den Hals und weinte fassungslos. Emma lief, die Schürze vor das Gesicht geschlagen, bei dem Anblick des Herrn davon.

Christian stieg die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Die Fenster waren verhängt, fahle Dämmerung erfüllte den Raum. Das breite Ehebett war mit einem riesigen Laken überdeckt, das Bett des Kindes, zu Füßen, fehlte. An seiner Stelle stand die Truhe, war geöffnet und leer, und in ihrer dunklen Höhlung offenbarte sich ihm plötzlich der Tod der Frau, den er an ihrem Grabe noch nicht hatte begreifen können. Er verließ das Schlafzimmer wieder und ging hinunter. Er zog die beiden völlig verstörten Söhne an sich und führte sie aus der Küche in das Wohnzimmer.

Das war verändert. Die Möbel waren umgestellt, die Wände waren neu bemalt und die Fenster mit neuen Gardinen geschmückt. Frische Tannenreiser steckten überall, und in der Mitte des Zimmers stand ein mit Kerzen geschmückter, hoher Weihnachtsbaum.

»Wer hat das alles so schön gemacht?« fragte der Vater freundlich.

»Die Mutter«, antwortete Gustav, der jüngere, leise.

»Nun ist sie tot, und die Schwester ist auch tot«, sagte Karl und versuchte, es zu begreifen.

»Ja,« sagte der Vater, »Gott schickt uns viel Unglück. Ihr seid noch jung und werdet es vergessen, und ich lebe noch und werde für euch sorgen.«

Er setzte sich mit den Kindern und der Schwester um den Tisch, sprach mit ihnen und nötigte sie zum Essen. Er beobachtete ihre Gesichter, er bemühte sich, die Schatten von Schmerz und Verzweiflung, die sich auf sie gelegt hatten, zu verscheuchen, und als er merkte, daß die Traurigkeit von ihnen wich, schickte er sie hinaus und befahl ihnen, die Reisesachen auszupacken, und Karl sollte von der großen Reise erzählen.

Als die Kinder gegangen waren, schwiegen Bruder und Schwester noch lange. Endlich fragte er: »Wie ist es gekommen?«

»Es ist plötzlich gekommen. Als ich sie zum ersten Male nach deiner Abreise sah, saß sie in der Küche neben dem Herd. Sie sah zwar noch sehr elend aus, und ihre Augen hatten einen unheimlichen Glanz, aber sie war sehr lebhaft, nur schwach. Ich kam an jedem Sonntag, und sie war immer wohler. Sie hat dann vor Weihnachten mit Emma angefangen, das ganze Haus zu reinigen, vom Boden bis zum Keller. Sie hat hier die Stube umgeräumt und frisch malen lassen. Sie ist sogar zweimal mit Emma in die Stadt gefahren und hat Geschenke und Kerzen für Weihnachten gekauft. Am Weihnachtsabend haben wir hier gefeiert, und sie hat alle beschenkt und war ganz froh, ich habe noch gedacht, daß sie zu froh sei. Aber in die Kirche ist sie nicht mitgefahren. Von dir hat sie die ganze Zeit nichts gesprochen, und wenn wir gefragt haben, hat sie nicht geantwortet«

»Hat sie meinen Brief noch bekommen?« fragte Christian.

»Ja, sie hat ihn bekommen.«

»Wann?«

»Als sie schon sehr krank war.«

»Wie ist sie so krank geworden?«

Die Schwester zögerte.

»Sage mir alles!«

»Wir sind am Heiligabend alle in die Kirche gefahren. Sie wollte es so haben. Sie wollte nicht mit, wollte aber auch nicht, daß ich bei ihr blieb. Ich fuhr dann mit, hatte aber gleich ein banges Gefühl. Wie wir zurückkamen, war im Schlafzimmer noch Licht, aber als ich hinaufkam, war es leer. Auch das Bettchen von Anna war nicht mehr drin. Wir haben sie überall gesucht, und als wir auf den Boden kamen, lag sie im Dunkeln da, neben einer ausgelöschten Kerze, und hatte Blut vor dem Munde.« Die Schwester schwieg.

»Was wollte sie in der Nacht auf dem Boden?«

»Christian, sie hat das Kinderbett auseinandergenommen und hinaufgetragen. Das war wohl zu viel für sie, und dabei hat sie einen Blutsturz bekommen, sagte der Doktor.«

Lange schwiegen beide. Dem Mann war, als fühle er die Nähe seiner Frau, ihren lebenshungrigen Körper, den er, der Todesgierige, von sich gestoßen hatte.

»Wann hat sie meinen Brief bekommen?« fragte er wieder.

»Ungefähr eine Woche danach. Sie war ohne Bewußtsein, in hohem Fieber. Ich habe ihn aufgemacht und habe ihn ihr dreimal laut vorgelesen. Die ersten zweimal hat sie ihn, glaube ich, nicht verstanden. Sie hat immer von einem neuen Kind gesprochen, das ein neues Bettchen haben müßte. Dann an einem Tage war sie still, sah mich auch ganz klar an. Da habe ich ihr noch einmal gesagt: »Martha, Christian hat dir geschrieben, soll ich es dir vorlesen?« Sie hat mich angesehen, aber nichts gesagt und sich nicht bewegt. Ich habe mich auf ihr Bett gesetzt und habe ihn ihr ganz langsam, Wort für Wort, vorgelesen.«

»Hat sie ihn verstanden?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hat sie etwas gesagt?«

»Sie hat erst lange nichts gesagt. Ich habe den Brief zusammengefaltet und habe ihn ihr in die Hand gedrückt. Die Hand war kalt, aber sie hat sie fest zugemacht. Nach einer Weile sagte sie dann, ganz langsam und deutlich: ›Wir werden glücklich sein.‹ Und von da an hat sie immer gelächelt, auch als sie tot war, hat sie noch gelächelt, obwohl sie die letzte Nacht sehr viel ausgehalten hat.«

»Warst du bei ihr?«

»Ich und Emma. Es war sehr schwer. Es hat sie erstickt.« Überwältigt von den Erinnerungen schwieg die Schwester, ihren schon ausgeweinten Augen entstiegen nochmals Tränen. Es dunkelte schon, als sie noch leise sagte: »Als der Krampf vorbei war, hat sie die Augen geschlossen und gelächelt. Es ist dann sehr leicht gegangen, wir merkten nicht, als es vorbei war. Deinen Brief hatte sie noch in der Hand. Ich habe ihn glattgestrichen und habe ihn ihr zuletzt auf die Brust gelegt, unter das Hemd. Sie hat ihn mitgenommen.«

Der Bruder griff nach ihrer Hand und hielt sie, heiß tropften ihre Tränen darauf nieder.

Als sie beide dann in der völligen Dunkelheit aufstanden, um Licht zu machen, sagte die Schwester noch: »Ich kann gar nichts mehr fühlen. Es ist zu viel, was wir durchmachen müssen.«

»Ja,« sagte der Bruder, »es ist zu viel.«

»Ich habe Gott so viel gebeten.«

»Um was, Schwester?«

»Um Erbarmen.«

»Und ich wartete nur auf den Tod. Aber ich lebe, und die andern sterben. Anderen wird Gott gnädig sein. Das ist mein Trost.«

»Warum nicht uns?«

»Im Sterben werde ich es sehen. Aber wie jetzt Gott hart zu mir war, war ich auch hart zu Martha und den anderen Menschen. Und ich werde nie mehr, wenn es in meiner Macht steht, hart zu einem Menschen sein, und wäre es der Mörder meines Kindes. Das Leben hat sich mir verhüllt nach langer Klarheit; vielleicht ist mein Tod schön.«

Er hatte jetzt das Licht angezündet, und die Schwester sah ihn an. Sein Gesicht hatte fast nichts Menschliches mehr. Umhangen von dem weißen, wirren, langen Haar, war die Stirn glatt und von einem Schimmer übergossen, der sich über die schweren Augenlider bis in die Furchen der Wangen senkte und erst von dem wirren Bart aufgefangen wurde, der den bitteren, festgeschlossenen Mund verhüllte. Während seine hohe Gestalt in der Ruhe und in den Bewegungen ihre zu tiefst gebrochene Kraft nun verriet, erhob sich auf dem Gesicht die Spannung und Verklärung einer bis zum Letzten gesteigerten Kraft der Seele.

Die Schwester wagte nicht, ihn nach der Reise, nach dem Erlebnis mit dem Kind zu fragen.

Er sah sich in der Stube um. »Ich werde wohl nicht mehr hier unten schlafen. Martha hatte es nicht gern. Ich werde oben, in dem Schlafzimmer schlafen. Wie sie es hier unten geordnet hat, so soll es bleiben. Mußt du heute abend noch fort? Bleibe bei mir.«

»Ich bleibe.«

»Was denkst du? Ich will im Frühjahr die beiden Jungen wegtun, in die Stadt, auf Schulen. Ich muß dafür ein paar Jahre noch hier gut wirtschaften. Aber ich bin ja gesund. Wie geht es daheim, bei dir?«

»Gut, Zu gut! Die Ernte war gut, und wir haben Fohlen hoch verkauft. Aber ich will nichts davon wissen. Mein Mann trinkt und hat nachts Atemnot.«

»Kannst du nicht auf ihn achten?«

»Ich pflege ihn. Bis jetzt habe ich umsonst gelebt. Ohne Kinder. Ich habe ja gar nichts gehabt, kein Glück, kein Unglück. Du bist von Gott geschlagen, aber ich bin von ihm vergessen, ich bin vom Leben vergessen. Ich bin froh, wenn ich bei dir sein kann, wenn ich mit euch jammern kann.«

»Du kannst noch viel für mich tun,« sagte der Bruder weich, »weinen und jammern für mich, denn ich kann es nicht mehr. Sage mir auch, was ich dir schuldig bin für Marthas Begräbnis.«

»Christian!«

»Laß nur, das gehört alles dazu.«

»Ich kann es nicht sagen.«

»Dann bring mir die Papiere. Es muß in Ordnung kommen. Nicht meinetwegen, für die anderen, die noch leben.«

»Ich habe einen Platz gekauft in deinem Namen, Christian, einen Platz für uns alle. Im Frühjahr wird er ausgebaut, du hast ihn heute noch nicht sehen können.«

Er trat zur Schwester und strich ihr über das dichte, weizengelbe Haar. Sie hielt ganz still unter der Liebkosung, und beide fühlten in der mühelosen Liebe des verwandten Blutes eine Welle von Glück ihre ausgebrannten Herzen durchfluten.

Die Geschwister gingen zum Abendessen an den großen Gesindetisch in der Küche. Christian begrüßte alle und strich Emma, die bei seinem Anblick von neuem in Schluchzen ausbrach, tröstend über die Schultern. Die Söhne mußten an seiner Seite sitzen, und er blickte oft auf ihre hochgewachsenen, biegsamen Gestalten, die das Antlitz der Mutter trugen. Er richtete Fragen an sie, und die Antworten ihrer hellen Stimmen verdrängten das lastende Schweigen, das alle mit betrübten Mienen angenommen hatten, um dem Herrn ihre Anteilnahme zu bezeigen. Ein allgemeines, leise summendes Gespräch entstand, und die Gesichter erhellten sich. Es war warm in der Küche und das Essen gut. Der Herr war wieder unter ihnen, und so gaben sich alle dem Funken Freude hin. Sie blieben fast eine Stunde bei Tisch sitzen und lauschten dem Herrn, der mit seinen Söhnen über die Reise sprach, über das fremde Land, die großen Städte und über den Schneesturm, den sie mitgemacht hatten. Nur von dem Kind sprachen sie in stiller Übereinstimmung nicht.

Bald gingen alle zur Ruhe. Emma verlöschte als letzte das Licht in der Küche und verschloß die Türen. Dann aber schlüpfte sie noch einmal in die Kammer der Kinder, die sie noch wach, miteinander flüsternd, in den Betten fand. Wie in der Kinderzeit setzte sie sich zu ihnen auf das Bett. »Erzähl' doch von Anna«, bat sie den Ältesten, während sie seine Stirn und sein Haar mit Küssen bedeckte. »Erzähle mir doch, der Vater spricht ja nicht davon, habt ihr sie wieder nicht gefunden?«

»Doch,« entgegnete der Knabe, »wir haben ein kleines Kind gefunden, es war genau wie unsere Anna.«

»Hat es denn die Narbe gehabt?« fragte Emma, fiebernd vor Erwartung.

»Es hat keine Narbe gehabt, aber es war genau wie unsere Anna.«

»Wie denn? Hat es solche Locken gehabt?«

»Ja.«

»Hat es auch so gelacht wie unsere Anna? Was hat es gesprochen?«

»Es hat zum Vater Papa gesagt. Es hat genau so gelacht und gespielt wie unsere Anna.«

»Lieber Gott!«

»Wir wollten es auch mitnehmen, aber es ist ja gestorben.«

»Es ist gestorben!« wiederholte Emma. »Es ist auch gestorben!«

»Emma,« fragte der Knabe leise, »warum ist unsere Mutter gestorben?«

Emma stand auf, im Dunkeln suchte sie noch die Gesichter der Kinder und küßte sie. »Ihr könnt das Vaterunser beten,« sagte sie noch im Hinausgehen, »tut es, es ist zu viel Unglück hier im Hause.« Furcht hatte sie befallen. Auch sie fühlte nun, es half keine Trauer, es gab kein Gebet. Sie fand lange keinen Schlaf, Seufzer auf Seufzer entstiegen schwer ihrer reinen, guten Brust.

Nur im Schlafzimmer brannte noch Licht. Vor der offenen, leeren Truhe zu Füßen des Bettes stand Christian lange, das Auge in ihre kleine abgegrenzte Dunkelheit gesenkt. Er dachte an Martha, seine Frau. Doch nichts Menschliches war in den Erinnerungen. Er konnte ihre Gestalt, ihr Lächeln, ihre Sprache sich nicht zurückrufen, aber mit Macht, mit rätselhafter Lebendigkeit fühlte er ihres Wesens Hauch, fühlte er ihren nachtdunklen Blick in seinen Augen, der einst die gefürchtete Finsternis der Kindheit um ihn geschlagen hatte, er fühlte ihren Kuß, der ihn hinzog in die Tiefen der Umarmung. Er fühlte wieder die dunklen Stunden der Geburten, in denen sie fern und gewaltig sich von ihm geschieden hatte, und er fühlte die große Nacht ihres Todes, in die sie versunken war und ihm nur die Nächte des Lebens zurückließ, die grauen Schatten jener tiefsten Finsternis. Und als er das Licht verlöschte und im Dunkeln sich in das von ihr für immer verlassene Bett senkte, glaubte er, liebend und männlich noch einmal sich hinzugeben dem dunklen Zauber ihres Verlangens. Mit geschlossenen Augen, ohne Schlaf, lag er so die Nacht in Gedanken nur an die Frau.


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