Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Der Mörder erwachte, als er aus dem eben noch vor Durst vertrockneten Mund Speichel in seinen Hals rinnen fühlte. Er zog seine linke Hand zwischen den Gliedern des Kindes hervor, um sich abzuwischen. Sie war voll Blut. Er hielt sie vor die langsam erwachenden Augen. Er entsann sich, daß er am Morgen sich bei den Weiden geschnitten hatte. Er glaubte, die Wunde blute noch immer. Seine rechte Hand, um die Kehle des Kindes gekrampft, hatte er vergessen. Das Kind, tief unter seinem Leibe vergraben, hatte er vergessen. In Ermüdung, in wollüstiger Ruhe, im Tod aller Herzen ruhte er aus, gebettet weich auf dem kühlen weichen Grund unter ihm. Er wandte langsam sein Gesicht nach oben, es war geebnet, ruhig, weiß, engelgleich die sanften Züge. Sein müder Blick umfaßte das Stroh vor seinen Augen, ein großer, grüner Käfer bewegte sich mühsam auf ihn zu. Er mußte lachen, im Lachen warf er sich auf den Rücken, sein Leib gab die Leiche der kleinen Anna frei. Er begriff nichts. Kaum sah er. Er fühlte die Unordnung seiner Kleider, und Scham ergriff ihn. Schnell machte er alles gut. Er dachte an seine Arbeit. Er sah umher. In der Dunkelheit erblickte er, ineinander verworren, mattschimmernde Kleider in Unordnung, verrenkte, leblose Glieder. Der Gedanke durchzuckte ihn: »Hier muß Ordnung sein!« Alle Müdigkeit war verjagt. Er rannte zum Tor der Scheune hinaus.

Draußen blendete das Licht. Heiße, lebendurchbebte Luft zitterte in der Sonne. Der Hof war leer. Seine Glieder waren leicht, besänftigt, unfühlbar sein Herz, ruhig die ausgekühlten Hände. Ganz leise stieg ein sanfter, hoher Ton aus der befreiten Kehle. Er sprang um die Ecke der Scheune, wo unter einem Dachvorsprung die Geräte für die Gartenarbeit hingen. Er ergriff eine Hacke mit langem Stiel und lief zurück. Da sah er über den Hof die Gestalt eines alten Bettlers mit grauem, struppigem Bart, um den Hals einen weithin leuchtenden Streifen wie von rotem Blut oder von einem Tuch, wie er sich vorsichtig dem Garten zuschlich, vielleicht, um ein paar Früchte zu stehlen. Als er Fritz erblickte, erschrak er und floh zum Brunnen zurück, wo er zögernd stehenblieb. Fritz aber schwang drohend die Hacke gegen ihn, und der Alte begann eilig in das Feld zurückzulaufen. Fritz sah ihm nach. »Da muß Ordnung sein!« sagte er vor sich hin und lief eilig zur Scheune weiter.

Er kehrte zurück in das Dunkel, an dem toten Kinde, dem Haufen verwühlter Kleider und Glieder, lief er vorbei bis in die hinterste Ecke des Raumes. Er begann zu hacken, mit rasend schnellen, scharfen Schlägen. Das Stroh des Bodens spritzte auf, blendete seine Augen. Schneller noch fielen seine Schläge, da endlich kam er auf Erde, kühle, dunkle, tote Erde. Sanfte Ruhe umfing ihn, er kniete nieder, breitete die Arme aus und maß so die Länge einer Grube ab. In grauem Rechteck entstand sie schnell, scharfkantig und sauber ausgeglättet. Er lief zurück zu der Leiche, ergriff sie an den Falten der Kleider und schleifte sie in die Grube. »Es muß Ordnung sein!« flüsterte er vor sich hin.

Dieser drängende Gedanke, der ihn rettete vor dem Begreifen des Geschehenen, war wie eine triebhafte, erschütternde Rechtfertigung dessen, daß er ahnungslos, aber furchtbar die Ordnung, den Sinn des Seins durchbrochen hatte.

»Es muß Ordnung sein«, war jetzt der Trieb seiner Seele, wie vorher grauenhafte Zerstörung der Trieb seines Körpers gewesen war.

Die Grube war zu klein. Ausgestreckt, ragte der Kopf des Kindes daraus hervor. Er sah in der Dunkelheit ihn nur als einen kleinen, grauen Hügel, der sich nicht einglätten wollte in die Ebene der Grube. Er beugte sich nieder, griff in die mit hartem Stroh vermengten Haare des Kopfes, hob ihn, drehte den Nacken nach oben, und mit einem Schlag der Hacke zerschmetterte er die zarte Wirbelsäule, das kleine Haupt sank herab, tief bis auf die kleine Brust. Doch durch den Schlag erschüttert, war der kleine Körper weiter geschnellt, die Füßchen ragten jetzt am anderen Ende der Grube über ihren Rand. Mit der Hacke den Leib des Kindes in der Mitte festhaltend, stieß er mit den Füßen dessen beide Knie hoch, so daß die Beinchen, an den Leib angezogen, mit dem Haupt sich fast berührten, einander zugeneigt die kleinen Glieder nun ruhten, wie einst, ungeboren, in der dunklen Grube des mütterlichen Leibes.

Im Dunkeln schüttete er dunkle Erde auf. Mit den Händen die kühle, schwere Krume fassend, warf er sie in die Grube, dann schichtete er mit der Hacke das hohe, dichte Bodenstroh noch darüber. Doch alles völlig zu ebnen, gelang ihm nicht, noch immer zeigte das kleine Grab an Kopf- und Fußenden geringe Erhöhungen. Heißer, modriger Staub mischte sich in seinen Atem, der alte Durst quälte ihn von neuem; ohne noch einmal zurückzusehen, verließ er die Scheune.

Der strahlend helle Hof war jetzt voller Leben. Die wenigen Minuten bis zum Melken waren vergangen. Brüllend, stampfend standen die Kühe da und boten die gefüllten Euter den Melkerinnen dar, die Milch schäumte weiß in die blitzenden Gefäße nieder. Aus dem Hause trat der Herr, strich mit dem ruhigen, guten Blick über den Hof und ging dann, begleitet von einer Magd, die einen großen, sauber verdeckten Korb an den kräftigen Armen trug, den Weg zum Wald, wo er den Fällern und den Söhnen die Vesper brachte. Dort wollte er bis zum Abend bleiben und mit den anderen heimkehren.

Emma stand zwischen Hof und Haustür und zählte die Tröge, die die Laufbuben und Mägde milchgefüllt zum Keller schleppten. Eine junge Magd eilte zur Haustür und läutete die Glocke zur Vesper.

Von der Scheune Nummer vier kam der alte Güse, der von seinem Dach schon langsam herabgeklettert war, als er die ersten Kühe auf den Hof zutreiben sah. Neben ihm ging langsam Fritz, doch als die Glocke ertönte, stürzte er vor, als erster trat er in die Küche, ergriff gierig seinen Becher mit Milch und trank. Lange hielt er die kühle, süße Flüssigkeit in seinem Mund, ließ sie auf und nieder wogen, ehe er den Schluck in die Kehle rinnen ließ.

Vom Ententeich herauf kam die kleine Hirtin Minna gelaufen, ließ sich von Emma die Vesper für sich und die Genossin geben und lief wieder davon. Die Frau eilte geschäftig zwischen Küche und Speisekammer einher. Die Beeren, fertig gekocht, mußten in Gläser gefüllt und gekühlt werden, im Milchkeller der morgendliche Rahm abgenommen und verbuttert, das Futter für den Abend, das Essen für die Nacht zugerichtet werden. Der Herr hatte, nach dem Abschluß des guten Geschäftes mit dem Viehhändler einen Augenblick in die Küche tretend, verkündet, daß Johanni heute abend ein wenig gefeiert werden solle, da die Hammel so gut gehalten und brav gemästet gewesen seien, die er eben verkauft. Die Frau solle die Abendtafel vor dem Hause richten und ein Fäßchen Bier und Beerenwein bereit halten. Daher war alles in freudiger Eile, in festlicher Erwartung. Die Arbeit flog von den Händen, eines half dem andern, der Feierabend sollte bald und in schöner Ruhe begonnen werden.

Die Nachmittagsstunden vergingen schnell. Nach sechs Uhr kehrte der Herr mit den Söhnen und den Arbeitern aus dem Holz zurück. Die Knaben schleppten große trockene Äste und Abfall von den Stämmen mit sich, liefen geschäftig den Hof hin und her, um einen Scheiterhaufen zu errichten, den sie in der Dunkelheit entzünden wollten zur Feier der Johannisnacht. Karl, der älteste Sohn, lief zum Dachvorsprung der Scheune, wo die Geräte hingen für die Sommerarbeit, um sich eine Axt zu holen, die Zweige und Stämme für den Scheiterhaufen zu behauen. Zu seinem großen Erstaunen fand er da Fritz in tiefern Schlafe auf dem Boden liegen. Er stieß ihn an und weckte ihn. Fritz schlug seine großen, schlafesklaren Augen auf, sprang auf die Beine, ging taumelnd ein paar Schritte, versuchte sich zu besinnen, denn er wußte nicht mehr, wie er hierher und zu dem tiefen Schlaf gekommen war. In kindlicher, schamhafter Verwirrung lachte er mit, als Karl ihn neckte, daß er heute so fleißig schlafe. Fritz suchte ihm eine kleine, leichte Axt aus, die Zweige zu behauen, und plötzlich sah er, daß die Stelle, wo der Grabspaten mit langem Stiel hängen mußte, leer war. Suchend lief er um die Scheune herum und erblickte die Hacke auch, die noch an der offenen Scheunentür lehnte. Er ergriff sie schnell, um sie an ihren alten Platz zu bringen. In demselben Augenblick bog Emma, seine Mutter, vom Schafstall kommend, um die linke Ecke der Scheune und stand vor ihm. Sofort fragte sie: »Was macht die Hacke hier? Gehört die in die Scheune?«

Fritz sah die Mutter an, dann blickte er auf die Hacke nieder, schaukelte sie leise an ihrem langen Stiel in seiner Hand hin und her. »Ich habe sie wohl ein bißchen gebraucht!« sagte er.

»Ach was, hänge sie schleunigst an ihren Ort, wo sie hingehört! Was ist das für eine Ordnung?« schalt die Mutter streng und ging weiter.

Fritz eilte und hing die Hacke an ihren Platz. Dann ging er in den Hof zu den Knaben, die um den Scheiterhaufen bemüht waren. Er fühlte sich leicht, weich und froh, es zog ihn zu den Menschen, er gesellte sich seit langen Jahren zum erstenmal wieder zu den Brüdern, half mit jungenhafter Freude und Heiterkeit, den Scheiterhaufen hoch in einem mächtigen, sauberen Quadrat aufzubauen.

Rings um den Hof erhob sich noch einmal ein großer Tumult. Alle Herden wurden eingetrieben, die Pferde getränkt und gestriegelt. In einer Stunde sollte alles Vieh versorgt, die Ställe geschlossen, die Gerätschaften verwahrt, das Feuer im Herd verlöscht sein. Die große, weißgescheuerte Tafel stand schon vor der Tür, mit Bänken und Stühlen umgeben, mit den irdenen Eßschüsseln und den kleinen Krügen für Wein und Bier besetzt. Die jungen und flinken Knechte und Mägde drängten sich schon um den schönen steinernen Trog des Brunnens und wuschen sich Arme, Hände und Füße, während die älteren bedächtig nachkamen, die Ärmel der Hemden hochschoben, in Eimern sich Wasser auffingen und etwas abseits von den andern sich wuschen. Zur rechten Zeit ertönte die Glocke zum Essen, alle strömten zu der großen, verheißungsvoll aufgedeckten Tafel.

Bis jetzt war das Kind von niemand vermißt worden. Die Mutter glaubte es bei den Hirtinnen am Teich, die Hirtinnen hatten längst vergessen, daß es von ihnen weg zum Hause gegangen.

Der Abend kam zögernd. Am Rande des Himmels hing noch immer die Sonne am Ende ihrer weiten, strahlend gezogenen Bahn, durchgoldete mit ihrem letzten und heute scheinbar unerschöpflichen Licht die in milde Wärme sich verkühlende, sanft sich bewegende Luft. Die berauschende Schönheit, mit der der Tag begonnen, verklärte ihn verschwenderisch bis zum langsamen Sinken in die Nacht.

In wohligem Verlangen nach Ruhe und Nahrung aufatmend, setzten sich die Menschen zu Tisch. Emma kam aus dem Haus, und mit Hilfe einer Magd stellte sie einen Holzbock auf, auf den mit einem Schwung das Fäßchen mit Beerenwein gehoben wurde. Alle lachten. Dann ging sie und kam wieder mit der riesigen Schüssel dampfender, fleischduftender Suppe und stellte sie auf den Tisch nieder. Alle warteten auf den Herrn und die Frau. Der Herr kam zuerst, aus dem Wohnzimmer tretend, die Frau folgte ihm mit vor Eile gerötetem Gesicht, mit glücklich lächelndem Mund und die weit offenen dunklen Augen strahlend auf ihn gerichtet. Sie strich sich mit beiden Händen den dunkel glänzenden Scheitel glatt und ließ sich am Tische nieder. Sie füllte die Teller, die Emma ihr zureichte und gefüllt wieder verteilte. Alle falteten die Hände und erwarteten jetzt die zarte Stimme des Kindes, das in den letzten Wochen immer das Tischgebet gesprochen hatte. Die Stille, die jetzt au Stelle der gewohnten, rührenden Bitte um Segen der Mahlzeit eintrat, war furchtbar, verbreitete plötzlich ein Entsetzen, das noch niemand sich erklären konnte. Die Hände starr ineinandergefaltet, die Köpfe gesenkt, verharrten sie alle stumm.

Der Mann sprach zuerst. Er hob das Haupt und fragte: »Wo ist Anna?«

Die Frau erschrak, schuldbewußt wagte sie nicht, sich zu erheben, und warf Emma, die neben ihr saß, einen flehenden Blick zu.

Emma stand auf und eilte ins Haus. Alle blieben stumm mit gefalteten Händen sitzen. Nur Fritz und Karl am unteren Ende der Tafel flüsterten leise miteinander, wie sie am besten das Feuer des Scheiterhaufens entzünden könnten. Karl wollte Reisigbündel, wie man sie in der Küche zum Herdanzünden hatte, verwenden, doch Fritz riet leise: »Nein, Petroleum, da brennt es gleich viel höher!«

Emma kam aus dem Haus zurück, das sie leise und schnell durchsucht hatte, schüttelte stumm den Kopf.

Der Herr löste die gefalteten Hände auseinander. »Jeder bete für sich und beginne zu essen!« sagte er.

Sie neigten von neuem die Köpfe und bewegten die Lippen; Unruhe und Furcht im Herzen, begannen sie eilig zu essen.

»Wo war das Kind zuletzt?« fragte der Mann.

»Es ist zum Teich gegangen!« antwortete die Frau ebenso leise.

Der Herr schwieg, sah auf die Essenden und wartete. Sie legten die Löffel aus der Hand und sahen ihn an.

»Dankt noch!« sagte der Herr. Sie beteten wieder, jeder für sich. Dann stand der Herr auf.

»Was hat die kleine Anna am Teich gemacht?«

Friederike und Minna wurden gefragt.

»Wir haben gespielt. Sie hat uns Kuchen geschenkt Nachher ist sie mit Fritz fortgegangen.« Die beiden Mädchen zitterten am ganzen Körper. Tränen standen ihnen schnell in den Augen.

»Fritz wollte ihr ein Vogelnest zeigen, mit Jungen«, fügte Minna, die jüngere von ihnen, noch hinzu.

»Fritz, komm her!«

Fritz stand auf und trat vor den Herrn. Weiß und zart war sein müdes, erschöpftes Gesicht, träumerisch der Blick der sanften Augen.

»Wo hast du die kleine Anna zum letzten Male gesehen?«

»Beim Teich, Herr!«

»Aber sie ist doch mit dir fortgegangen vom Teich!«

»Das weiß ich nicht, Herr. Ich habe schwer getragen an den Weidenruten für Güse!«

»Wo hast du ihr das Vogelnest gezeigt?«

»Ich weiß von nichts, Herr. Ich weiß gar kein Vogelnest.«

Der Herr fragte die anderen, alle der Reihe nach, niemand hatte das Kind gesehen.

»Hat jemand wen Fremdes auf dem Hof gesehen?«

»Ich, Herr, ich habe einen Bettler auf dem Hofe gesehen, kurz, ehe gemolken wurde«, rief Fritz.

Die Leute, die in Schlag sieben gemäht hatten, nickten beistimmend, sie hatten einen Mann durch die Felder eilig nach dem Wald laufen sehen.

»Helft suchen!« sagte jetzt der Herr.

Sofort stürzte alles auseinander. Die Sorge um das Kind war groß. Man lief in die Felder, die Männer wateten durch das schön und dicht stehende, kindeshoch ragende Korn. Die Frauen suchten im Garten, bogen die Zweige der Büsche und Hecken auseinander; unaufhörlich ertönte der Name des Kindes, von den vielerlei verschiedenen Stimmen lockend und beschwörend in Liebe und Angst gerufen. Doch im Frieden des sinkenden Abends kam ihnen keine Antwort.

Die Mutter rannte zum Teich. Obwohl sie von den Hirtinnen mit Bestimmtheit vernommen hatte, daß das Kind vom Teich fortgegangen und nicht wieder dahin zurückgekehrt sei, glaubte sie doch, es halte sich noch dort versteckt. Unaufhörlich umkreiste sie das Ufer, wühlte in dem dichten Weidengebüsch, immer wieder lockten sie die in der Dämmerung silbern aufschimmernden Blätter der Weiden, spiegelten ihr das lichte Haupt des Kindes vor. Fern lag ihr jeder Gedanke an Unglück oder Tod. Sie lächelte, sie glaubte fest daran, daß das Kind, heute besonders übermütig, sich versteckt habe, leise irgendwo schelmisch lachen und plötzlich ihr an den Hals springen würde. Von neuem bog sie suchend die Weiden auseinander, rief, lachte dem Kind entgegen. Plötzlich sah sie am Boden etwas Helles leuchten, mit einem Schrei stürzte sie darauf zu und hob es auf, es war das Körbchen des Kindes, in dem es Futter für die Enten und seinen Kuchen mitgenommen hatte. Nun fiel ihr wieder ein, daß das Kind doch vom Teich fortgegangen sei, es hatte sich ins Haus geschlichen und dort sich versteckt, dann war es wohl eingeschlafen. Und sie kehrte zum Haus zurück, durchsuchte es von oben bis unten, hielt die Arme ausgebreitet, denn jeder Augenblick mußte ihr das Kind bringen, sie es finden lassen.

Der Vater hatte in weitestem Bogen um das Gehöft gesucht. Er hatte die beiden Söhne neben sich. Sie waren über die Felder hinaus-, durch die Wiesen bis zum Wald gegangen.

»Vielleicht hat sie uns entgegenlaufen wollen bis zum Wald und hat sich verirrt«, sagte er zu den Söhnen. Doch er glaubte nicht an seine Worte. Er wußte, das Kind, vor allem Fremden ungewöhnlich scheu, in seinen Spielen und seinen kleinen Interessen immer an das Haus gebunden, lief nicht so weit fort.

Im Wald begann es schon zu dunkeln. Sie riefen und durchstreiften ihn nach allen Richtungen, doch als Antwort ward ihnen die feierliche Stille der in die sinkende Nacht eingehenden Natur. Sie kehrten zurück auf die Felder, die dargebreitet lagen dem hoch und licht sich wölbenden Abendhimmel.

Sie kamen zum Hof zurück. Es war zehn Uhr und die Nacht nun völlig da. Die Mutter lehnte an der Türe des Hauses und weinte. Das Kind war versteckt, und sie konnte es nur nicht finden. Erst hatte es gelacht, dann war es eingeschlafen, nun würde es irgendwo in seinem Versteck aufwachen, im Dunkeln sich fürchten, nach ihr, der Mutter, rufen, nach ihr, der Mutter, seine kleinen Ärmchen ausstrecken, sie sah es vor sich, seinen kleinen, im Weinen verzogenen Mund, die rinnenden Kindertränen, sie fühlte sein kleines, schluchzendes Herz ihr entgegenschlagen, und sie, die Mutter, fand das Kind nicht. »Wo hat sich nur das Kind versteckt?« jammerte sie, wieder und wieder und unaufhörlich durchsuchte sie im Dunkeln das Haus.

Christian stand still im Hof. Von allen Seiten der Felder und Wiesen kamen die Suchenden zurück, mit traurigen, langsamen Schritten, und scharten sich stumm um den Herrn.

»Sie kann in den Teich oder in eine der Gruben gefallen sein«, sagte er ruhig.

»Ach Gott!« Leise sagte es Blank, der Wirtschafter, der neben ihm stand, schwer schluckte seine Kehle.

Karl, der Sohn, vor Erregung bebend, ohne doch alles zu begreifen, rief plötzlich mit heller Knabenstimme: »Soll ich den Scheiterhaufen anzünden, zum Leuchten?«

»Lauf!« sagte der Vater.

Der Knabe lief, Freude in seiner jungen Seele, den Scheiterhaufen nun doch noch brennen zu sehen. Als er zu dem Holzstoß kam, der kunstgerecht, wohl zwei Meter im Quadrat, aufgebaut war, erblickte er plötzlich Fritz, am Boden hockend, hinter dem Scheiterhaufen verborgen.

»Warum suchst du nicht mit?« fragte er ihn.

»Ach was«, erwiderte Fritz. Er hatte schon alles zum Anzünden vorbereitet. Eine Flasche Petroleum und ein Bündel Werg sowie ein Feuerstein lagen neben ihm. Während Karl das Petroleum über das Werg goß, schlug er die Funken, und bald loderten die Flammen hell und stark aus der Mitte des trockenen, prasselnden Holzes hervor.

»Vielleicht sehen wir die Anna jetzt«, sagte Karl leise vor sich hin, nun doch wieder von Kummer bedrückt.

»Die finden sie wohl nicht mehr«, sagte Fritz. Seine sanfte Stimme war so leise, daß das Prasseln des brennenden Holzes seine Worte fast verschlang, nur der hohe Ton schien in der Luft noch zu schweben, und sein weißes, schön gebildetes Gesicht war golden angestrahlt vom Feuerschein der Flammen.

Auf dem Hof, der nun weithin erleuchtet war von dem flackernden Licht der Flammen, begann die Arbeit von neuem. Es war wie das spukhafte Widerspiel des Lebens am Tage. Die Menschen eilten hin und her, die Schatten wuchsen bald riesenhaft groß empor, bald verzehrten sie sich, die Gesichter und Hände tauchten auf, grell gehoben ans Licht, und verschwanden ohne Spur im Dunkel wieder.

Der Schuppen, in dem die Pumpen standen, wurde geöffnet und sie hervorgezogen. Sie wurden an die Jauchegruben angesetzt, ihre Hebel von den Männern auf und nieder geschwungen. Andere warfen mit langen Gabeln den Dunghaufen um, der Herr selbst zog die kleinen Wagen der Aborte hervor und durchsuchte mit langen Stangen die Exkremente.

Die Hitze und der Bauch des in lodernden Flammen brennenden Holzstoßes, der Geruch der Gruben und Aborte vermengte sich zu einem höllischen Dunst.

Mit der letzten Anstrengung wurden diese Arbeiten beendet, erschöpft sanken alle zusammen.

Vom Teiche kam der Fischer-Andres herauf, der im Schein von brennenden Holzscheiten mit Booten und Netzen das Wasser durchzogen hatte. Da er bemerkte, daß ein Brett der Brunneneinfassung gelockert war, wurde trotz der allgemeinen Müdigkeit der Brunnen vollends aufgedeckt und das Abflußbecken noch leergepumpt.

Bis um ein Uhr nachts hatte man keine Spur von dem Kinde. Der Scheiterhaufen war niedergebrannt, die Flamme schwelend erloschen. Die Johannisnacht war da, die kurze Spanne der Dunkelheit zwischen dem zögernd vergangenen Abend und dem bald sich wieder nähernden Licht des Morgens.

Die Menschen ruhten, zusammengesunken vor Müdigkeit, Schrecken und leerer, noch nicht einmal begriffener Verzweiflung. Überall im Hofe verstreut hockten die trostlosen Gestalten, die Hände schlaff in den Schoß gefallen, die Augen auf den Boden gerichtet oder geschlossen ohne Schlaf.

Nur zwei Menschen schliefen. Fritz, von der Hitze und der blendenden Helligkeit des Feuers weggetrieben, war in weicher Müdigkeit, in traumhafter Sehnsucht nach Schlaf in seine Kammer geschlichen und dort in tiefen Schlummer gesunken.

Über dem Bettchen des Kindes hatte die Mutter sich in hoffnungsvollen Traum geweint. Sie träumte, sie stehe wieder als junges Mädchen im Laden in der kleinen Stadt, es sei Abend, die Lampe brenne, die Türe ginge auf, Christian trete ein und reiche ihr ein mächtiges Bündel großblütiger Blumen, und als sie es in die Hand nahm, entsprang jeder Blüte das Kind Anna, und die vielen kleinen Gestalten drängten sich um sie, der warme Hauch der Kinderkörper stieg von ihren Füßen über den Leib bis zu ihrem Herzen empor und überflutete sie bis in den Schlaf mit einem glücklichen Gefühl. Der Mann aber war versunken.

Unten stand Christian, der Vater, frei in der offenen Tür des Hauses. Müdigkeit, schwer in seinen Gliedern lastend, drückte ihn nieder, doch der Schmerz des Herzens hielt ihn wieder aufrecht. Erbarmungslos stieg es ihm jetzt aus der versteinten Brust empor, daß sein Kind tot sei, daß er seinen Leichnam suche, daß er seinen Leichnam bergen müsse. Kein Grund für diesen Gedanken, keine Erklärung, und doch keine Hoffnung, und doch keine Träne. Er hatte nicht beten können, die gefalteten Hände hatte er gelöst, in der schwersten Stunde war Gott ihm entwichen, jetzt fühlte er klar den unerbittlichen, den tödlichen Schlag in seiner Seele. Keine menschliche Verzweiflung war ihm gegeben, er brach nicht zusammen. Todeskräfte stiegen aus seiner bis hierher in gutem Glück lebenden, von reinen Wünschen und Gedanken bewegten, nun von bösem Unglück jäh überfallenen Seele hervor. Frei, ohne Stütze stand er weiter, im Innern gehalten von furchtbarer Kraft

In der völligen Dunkelheit, in der völligen Stille, die jetzt über allem lagerte, schien es, als schwebe die kleine, so gewaltsam abgeschiedene Seele des Kindes in lebensgierigen Kreisen noch nahe den Menschen, noch nahe der lebendig atmenden Natur. Vor den müden, stumpf ruhenden Seelen der Knechte und Mägde erstand das Bild des Kindes. Mit ihren halb in Schlaf versunkenen Sinnen fühlten sie seinen Atem in der Luft, sie glaubten die Gräser des Weges sanft sich niederbeugen zu sehen unter dem zarten Gewicht seiner kleinen Schritte, Türen öffnete es langsam, auf die Zehenspitzen gestreckt, mühsam mit dem Druck der kleinen Händchen die schweren Klinken niederdrückend, es flüsterte nahe um sie, sein schmeichelndes, zärtliches, weiches Lachen schmiegte sich mit der lau bewegten Sommerluft in ihre Ohren. Es umwebte die Ahnungslosen in den kurzen Stunden ihrer traurigen Ruhe mit den letzten, geheimnisvollen Schwingungen seines verwehenden Lebens.

Die zarte Dämmerung des Morgens, wieder golden und schön, kam schnell. Der Herr, frei und unbeweglich stehend im Tor des Hauses, erhob die Stimme in dem noch lautlosen Schweigen des Morgens.

Nun sprangen alle auf, reckten sich, gingen zum Brunnen und weckten die Gesichter und Hände mit kühlem Wasser. Sie halfen beim Anzünden des Herdes, bald war der Kaffee fertig, schnell tranken alle, froh, sich regen und Nacht und lähmendes Entsetzen abschütteln zu können.

Nun sammelte der Herr die Leute um sich. Er stellte sie auf nach Plan und Ordnung. In der süßesten Morgenröte, in der von Frische und goldenem Licht erfüllten Luft, unter dem von überallher froh erwachenden Gesang der Vögel begann das Suchen nach dem Kinde von neuem.

Ein Teil der Leute durchwanderte unter der Leitung von Blank, dem Wirtschafter, den ganzen, mit Winterkorn besäten Schlag sechs und sieben. Sie gingen in Reihen, je zu fünfen, hielten sich mit ausgestreckten Armen an den Händen und folgten einander in Abständen von zehn Schritt. Mit den schweren Schuhen traten sie das schön, dicht und ebenmäßig stehende, ihnen bis zu den Schultern reichende Korn nieder. Mit verstörtem Schrei und Flug schwangen sich die Lerchen auf, die Wachteln flatterten davon, hier und da floh ein Maulwurf unter seinen Hügel. Die Männer gingen still, mit gesenkten Köpfen.

Andere durchsuchten nochmals unter der Führung des Fischer-Andres alle bis im weitesten Umkreis liegenden Gewässer und Teiche. In drei Booten, in denen je vier Mann standen, überquerten sie die im Morgen duftig glitzernden Wasserflächen, durchzogen sie mit langen Stangen und Haken, mit Netzen bis auf den Grund. Die kleinen Wehre wurden aufgelassen, obwohl ein Teil der Wiesen dadurch plötzlich überschwemmt wurde, und breite Netze wurden unter das verschäumende Wasser gehalten.

Die Söhne mit den Fällern durchstreiften den Wald.

Emma mit den Mägden durchsuchte Haus, Keller und Boden nochmals, jedes Gefäß wurde umgewendet, jede Tür geöffnet, jeder Sack umgeleert, im Garten die dichten Zweige umgebrochen, die Bäume geschüttelt, das Bienenhaus nachgesehen. Zuletzt kam sie mit den Mägden in die offene Scheune Nummer vier. Diese war dunkel, heiß, glatt und eben der mit Stroh fußhoch bedeckte Boden. Sie gingen durch die Mitte und auch die Wände entlang, sie bemerkten nichts. Unmöglich konnte auch das Kind in dem offenen, ebenen Raum zu Fall gekommen sein.

Um sieben Uhr morgens trafen alle wieder auf dem Hof zusammen, nachdem drei Stunden lang dreißig Menschen gesucht hatten. Fritz war inzwischen aufgestanden, hatte die Ställe geöffnet und das Vieh zu versorgen begonnen.

Er lief ausgeruht, frisch, eilig und arbeitsfreudig umher. Der Herr befahl, daß man mit Suchen aussetzen und die nötige Arbeit erst vornehmen solle. Er hieß Fritz anspannen und fuhr mit Blank und dem Fischer nach der Stadt, um Anzeige zu erstatten.

Die Frau war am Morgen erwacht, schlafestrunken vernahm sie den Lärm des Tages vom Hof herauf, verwundert richtete sie sich auf, strich sich über die schmerzende Brust, die eingedrückt über den Kanten des schmalen Kinderbettes gelegen hatte. Lange mußte sie sich besinnen, warum dieser Morgen nicht wie alle andern war, warum das Bett des Kindes leer, ihr eigenes unberührt und sie beim Erwachen allein war. Plötzlich wurde sie dann von der Erinnerung an den vergangenen Tag überfallen, das Kind war also noch nicht gefunden. Sie schlich sich langsam in die Küche hinab, sah die bleichen, verstörten Gesichter, sie suchte den Mann und erfuhr, daß er in die Stadt gefahren sei. Verloren stieg sie die Treppe wieder empor ins Schlafzimmer, setzte sich auf den Rand ihres Bettes und verharrte so still in Erwartung. Sie konnte nichts Böses glauben. Sie hoffte auf die Rückkehr des Mannes. Wenn das Kind nicht im Hause versteckt war, war es vielleicht doch fortgelaufen, fremde Menschen hatten es aufgenommen, hatten es wohl in die Stadt gebracht, es würde dem Vater zugeführt werden, denn seinen Namen konnte es schon sagen, und den Vater kannte jedermann.

Am Mittag hörte sie den Mann zurückkommen. Ihr Herz klopfte, freudige Röte schoß über ihr Gesicht. Aber seine Schritte kamen nicht zu ihr, Sprechen und Lärmen erhob sich wieder im Hof. Sie ging ans Fenster und sah die Leute alle versammelt um den Herrn, der unter ihnen stand. Hunger quälte sie. Niemand schien sie zu vermissen, niemand fragte oder rief nach ihr. Und es war doch ihr Kind, sie hatte es geboren und aufgezogen, man mußte ihm helfen und ihr, der Mutter. Ihr dunkler, geweiteter Blick feuchtete sich in Tränen, sie wagte nicht, hinunterzugehen, unter die trostlosen, müden Gesichter der Menschen zu treten, sie setzte sich wieder nieder, wartete auf freudige Botschaft.

Die Hände über die aufgeregte, leise noch schmerzende Brust gekreuzt, lächelte sie vor sich hin, in Erinnerung an den glückverheißenden Traum der Nacht. Wie die Blumen im Traum, so würde der Mann ihr das Kind wiederbringen, dann wollte sie sich an seinen Hals hängen, ihn küssen, ihn nicht versinken lassen wie im Traum, sie war ja noch jung, das Kind war gesund und schön, sie mußten glücklich sein.

Unten war schnell zu Mittag gegessen worden, dann wurde nochmals gesucht. In geordneten Trupps wurden nochmals die Roggenschläge kreuz und quer durchzogen, die Gewässer beobachtet, die Wasserrinnen und Mergelgruben der Felder durchstöbert, Ställe, Gärten, Hecken und alle Winkel durchforscht. Zur Vesper kamen wieder alle zusammen. Schnell wurde gemolken, dann sammelten sich wieder alle um den Herrn. Scheu kam von der Haustür her auch die Frau geschlichen und mischte sich in den Kreis. Sie sah den Mann an und begriff nicht, daß so Furchtbares geschehen sein sollte, das sein Gesicht so hart und versteinert umgeschaffen hatte, das seinen, des Herrn, Mund stumm hielt, indes Blank, der Wirtschafter, reden mußte.

»Herr,« sagte der Wirtschafter, »mit Suchen ist da nichts mehr. Das ist aber auch ganz gut, daß wir gar nichts gefunden haben, da ist doch wenigstens nicht das Schlimmste passiert. Aber weiter weg, als wir gesucht haben, ist die kleine Anna doch wohl auch nicht gelaufen. Ich glaube da nun, daß da vielleicht so elende Zigeuner das Kind verschleppt haben. Was soll sonst sein? Oft genug hat man das ja gehabt, und unsere kleine Anna war ja wohl ein schönes Ding, wie sie es gern haben. Was denkt Ihr?«

Ein allgemeiner Aufschrei der Erleichterung brach aus. Das allein konnte die Lösung sein, das mußte es sein, das war schlimm, aber doch nicht das Allerschlimmste, das Kind lebte doch wenigstens noch, man konnte es den Zigeunern wieder abjagen, abkaufen, mit Geld alles wieder gutmachen. Alle die müden Gesichter und Gestalten belebten sich wieder, die Mutter aber jubelte, das war die neue Hoffnung, die Zuversicht, die ihr Herz brauchte.

Der Herr sah stumm den Wirtschafter an. Er wußte, es war ein kluger und überlegter Mann, er würde nichts sagen, was er nicht glaubte, und es war gut, daß doch die andern noch glaubten.

In der Wohnstube setzte sich der Herr vor den Schreibsekretär und verfaßte ein Schreiben, das das Verschwinden des Kindes vermeldete, seine Gestalt beschrieb und verkündete, daß der Vater für Nachrichten oder Wiederherbeischaffung eine Belohnung von dreihundert Talern aussetze. Die Mutter holte die Photographie des Kindes herbei, das Geschenk an den Vater. Mit diesen Papieren versehen, brach der Herr zum zweitenmal auf und fuhr nach der Stadt.

Auch dieser Tag ging zu Ende. Mit Mühe vollendeten die vor Müdigkeit fast umsinkenden Leute die nötige Arbeit. Große Hilfe leistete Fritz, der an dem allgemeinen Suchen und der allgemeinen Aufregung nicht teilgenommen hatte und für drei arbeitete. So sanken alle, als noch der Abend licht über allem schwebte, in tiefen Schlaf. In Ruhe lagen der Hof und das Haus schon da, als der Herr zurückkehrte. Er spannte selbst die Pferde aus und verschloß die Ställe.

Zu tun blieb nichts mehr. Er ging ins Haus, die Treppe empor und trat in das Schlafzimmer ein. Auf dem Bett lag die Frau, mit seufzenden Atemzügen schlafend, die Hände über ihrem Schoß gefaltet. Der Mann sah sie an in der sommerlichen Dämmerung, die nicht Licht und nicht Dunkelheit war. Durch ihre schlafesgeschlossenen Augen fühlte er ihren dunklen Blick, jenen weitgeöffneten, nachtschwarz wogenden Blick. In ihm versenkt war die Finsternis der Kindheit, die er gefürchtet hatte, eine zweite, böse, unsichtbar belebte Welt, ein zweiter, dunkler Gott gegen den Gott seiner Seele, gegen den Gebieter der gerechten Gebote, den Erfüller der guten Gebete.

Er wandte sich von ihr ab. Die Dunkelheit, die zunahm, fühlte er nicht. Er trat an das Fenster und sah gegen den Himmel. Von dem Bild seines Kindes war die dunkle Luft erhellt. Er sah es, von lichten Locken umspielt sein kleines Haupt, weiß leuchtend und rein seine Stirn, strahlend der Blick der hellen Augen, schimmernd sein unschuldiges Lächeln auf dem feuchten Blumenblatt des Mundes. In sein Herz brach Glanz vom Widerschein seiner zarten, reinen, vor ihm schwebenden Gestalt. Wohin war es gegangen? Welches Böse hatte sein reines, schuldloses Dasein angelockt, welcher Tod sein freudestrahlendes Leben zerbrochen?

In dem menschlichen Schmerz, der jetzt in ihm sich löste, in der heißen Sehnsucht seiner väterlichen Liebe nach dem Kind brach der Mann in die Knie.

Er sank vor dem Fenster zusammen. Von seinem Kinn, auf das Fensterbrett aufgeschlagen, ward sein Haupt emporgehalten, sein Blick hinaus in die Dunkelheit gerichtet.

In der Nacht, die um ihn stand, ahnte der Vater das Furchtbare.

Die Luft war lau und still, die Erde ruhte dunkel und trug die Früchte des Sommers.

Der Himmel, blau getönt, licht und zart gespannt, trug die prunkenden Gestirne.

Menschen und Tiere um den einsamen Wachen schliefen.


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