Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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VII

Der Mörder Fritz hatte in dieser Zeit, vom Frühjahr bis Juli, in seiner neuen Heimat und in dem neuen Dienst vollkommen ruhig und zufrieden, mit der ganzen Freude der Jugend am Dasein gelebt. Die Arbeit gefiel ihm. Sein Herr war der Schultheiß eines Ortes, der ungefähr zweitausend Einwohner hatte, und den zwei lange Straßenzüge durchliefen, die auf einen kleinen Hauptplatz mündeten. Der Schultheiß besaß nur eine kleinere Wirtschaft, dagegen eine Torfbrennerei, eine Viertelstunde weit vom Ort in der Heide gelegen, die in einem Umkreis von ungefähr zwanzig Meilen die fruchtbare Ebene der Felder unterbrach. Zu seiner großen Freude hatte Fritz viel zu kutschieren, und die Pferde waren ausschließlich seiner Pflege und Obhut anvertraut. Vier starke Lastpferde für die Torffuhren standen im Stall und zwei Wagenpferde für den Herrn, der viel über Land fuhr. So klein der Ort war, war es doch eine neue Welt für Fritz. Straßen und Häuser waren hier, statt der Tag und Nacht ihn umgebenden grenzenlosen Weite der Natur, Menschen, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten. Er fuhr mit Stolz, mit übermütigem Hochmut seine Wagen die Straßen entlang, ließ die Pferde Galopp laufen, wenn der Wagen leer war; stehend auf dem Bock, hielt er die Zügel lose, blickte weder nach rechts noch nach links, fühlte aber von allen Seiten Blicke auf sich gerichtet. Kam er dann mit dem beladenen Wagen zurück, schritt er lässig nebenher und pfiff eine sanfte Melodie. Die Leute im Ort beachteten ihn wohl, er gefiel allen, er war sauber, hübsch und fleißig. Die Mädchen kicherten und erröteten, stießen sich gegenseitig an, wenn sie ihn sahen, die Frauen lächelten von der Arbeit aufblickend ihm zu, und auch die Männer waren wohlwollend gegen ihn, wenn sie in irgendeiner Weise mit ihm zusammenkamen.

Und doch hatte er keinen Freund, nie sah man ihn in Gesellschaft anderer Burschen in langer Reihe hinter der ebenso langen Reihe der Mädchen die Dorfstraße durchziehen, nie sah man ihn am Brunnen oder an den Sonntagen in der kleinen Wirtsstube.

Schrecken hatte ihn aber ergriffen, als ihm sein Bett in der Knechtskammer angewiesen wurde, in der er mit drei anderen Knechten schlafen sollte. Er stand regungslos in der Dunkelheit vor seinem Bett, knöpfte und nestelte an seinen Kleidern herum, schwankte zwischen Gehorsam und Widerwillen, zögerte und wartete mit List, bis die anderen Knechte tief und schnarchend schliefen, dann schlich er hinaus in den Pferdestall und legte sich da auf einem Bündel Heu schlafen. Das tat er Nacht für Nacht, bis es die Frau einmal merkte und lachend es dem Mann erzählte. Die Frau hatte Fritz sehr gern, er war fleißig und bereitwillig für alle kleinen Dienste, die sie oft in Küche und Haus von ihm benötigte. War etwas vergessen worden zu holen oder zu besorgen, lief Fritz schnell und heimlich, um es in Ordnung zu bringen. Er half das Geschirr waschen und die Wäsche spülen in dem kleinen Fluß, der den Ort durchzog, und sang den Frauen dazu mit seiner schönen Stimme Kirchenlieder vor. Auch konnte er jetzt manchmal in Gemeinschaft der andern lachen, nicht das alte, unheimliche, lautlos zischende Lachen, sondern ein neues, helles, mädchenhaftes Kichern.

Heimweh hatte er nicht, kaum Erinnerung an den Ort, wo er bisher gelebt hatte. An seine Mutter dachte er nur von Zeit zu Zeit, wenn er seinen Lohn unschlüssig in den Händen hielt, den er ihr sonst immer gebracht hatte. Er hatte für das Geld, da er ohne Bedürfnisse war, keine Verwendung, aber auch keinen Platz, es aufzubewahren, da er es in der Kammer, in der er doch nicht schlief, nicht lassen mochte. Er nahm es also mit in den Pferdestall und vergrub es da in einer Ecke in der Erde. Aber auch dieses Graben, Verbergen und Zudecken weckte nichts in ihm auf. Keine Erinnerung, kein Traum, kein Verlangen quälte ihn. Manchmal fand er morgens beim Aufwachen seine Hände tief unten am Leib liegen, wechselseitig die Nägel in die Handflächen gekrallt und Leib und Hände mit Halmen des schlafdurchwühlten Strohes, auf dem er lag, sonderbar verstrickt und umknüpft. Dann lachte er vor sich hin und sah zu, wie sich Hände, Stroh und Leib wieder voneinander lösten.

Er war stets als erster am Brunnen, um sich zu waschen. Mädchen, glühend in der Hitze des Sommers und ihrer jungen Jahre, lockten ihn herausfordernd. Doch er verzog nur spöttisch den Mund, die Hände in die Hosentaschen vergrabend, stieß er sie mit dem Ellbogen von sich, wenn sie sich genähert hatten, und ging pfeifend davon. So galt er als ein besonders braver Junge. In Frieden, in Ordnung und Sicherheit war er in die Welt gestellt, und in Sicherheit und Frieden war die Welt um ihn gestellt; alles schien gut. Doch er hatte einen Feind. Dem Blick eines bösen Menschen leuchtete erkennbar das Zeichen hinter seiner Stirn, ein Böser erkannte das Antlitz des Teufels unter den Zügen des schönen, engelhaft gebildeten Gesichtes.

Sein neuer Herr war es, der ihn erkannte. Mandelkow war ein Mann von fünfzig Jahren, klein, mager, die rechte Schulter schief verwachsen, das Gesicht völlig verdeckt durch einen schwarzen, seltsam langhaarigen Bart, der von der Schläfe her schon einsetzte und Wangen, Mund und Kinn verdeckte. Deutlich zu sehen waren nur seine kleinen, grauen Augen, die scharf und stechend blickten. Er sprach viel und mit einer dünnen, hohen Stimme, die sich aus seiner schmalen, zusammengedrückten Brust mühsam hervorpreßte. Er arbeitete nie und hatte feine, kleine Hände. Als Kind hatte er städtische Schulen besucht und war von ungewöhnlicher Klugheit in allen Angelegenheiten geschäftlicher oder amtlicher Art. Man nannte ihn einen schlauen Fuchs oder den »Advokaten«, in einem großen Umkreise von Ortschaften war sein Rat gesucht. Dieses Ratgeben und die Beschäftigung mit den Angelegenheiten anderer war seine Leidenschaft, und obwohl er geizig und habsüchtig war, kümmerte er sich kaum um seine eigene Wirtschaft und seine Geschäfte und schalt nur die Frau, wenn nicht genügend Geld erspart wurde. Er hatte als jüngerer Sohn das Anwesen geerbt, mit Wiesen, Feld und jenem Stück Heideland, auf dem er als erster mit Gewinn Torf zu stechen begann. Er hatte lange allein gelebt, erst spät seine Wirtschafterin geheiratet und hatte keine Kinder. Er saß Abend für Abend im Wirtshaus, er trank nicht viel, las Zeitungen und redete in langen Vorträgen zu den Bauern, die um ihn geschart saßen und zuhörten. Er fuhr oft in die Kreisstadt und kannte alle Beamten der Behörde und der Gerichte, wußte eines jeden Laufbahn und Geschichte. Denn sein eigenes Leben wagte er nicht mehr zu leben. In seiner engen, verkrüppelten Brust hütete er ein Geheimnis, eine furchtbare Erinnerung, vor der er ständig auf der Flucht war. Er hatte einen einzigen Bruder gehabt, einen großen, starken, gütigen Menschen, der sich seiner, des Schwachen, als Kind schon Verwaisten, väterlich sorgend angenommen hatte. Und doch hatte er, erwachsen unter des Bruders Obhut, ihn mit verwundetem, schwarz aufgeschwollenem Arm, fiebernd und hilflos in der Kammer eingeschlossen, als er den Doktor holen sollte; es war eilig gewesen, er aber war langsam und gemächlich drei Stunden zu Fuß gewandert, um die Pferde zur Erntezeit zu schonen, so sagte er vor sich selbst. Während des Wanderns hatte er an die Erbschaft gedacht, an Macht und Geld. Er hatte die Nacht vergehen lassen und war mit dem Doktor erst am Morgen zurückgefahren. Sie hatten den Bruder tot hinter der zugesperrten Kammertür gefunden, mit verkrampfter Gestalt und blau verquollenem Gesicht. Sie hätten nichts gehört, nur am Abend noch ein Stöhnen, sagten die Mägde. Der Arzt stellte den Totenschein aus. Er sagte, es sei Brand zu der Wunde gekommen. Gestern abend noch wäre es die letzte Zeit zum Retten gewesen. Er, der jüngere, schwächere Bruder, hatte alles geerbt, doch keine Frucht erquickte ihn, kein Lohn ward ihm zur Freude, wie Luft war ihm das Leben, mühsam ein- und ausgeatmet mit seiner engen Brust. Um sich selbst zu entgehen, belauerte er die anderen Menschen. Wenn er Unrechtes aufspüren konnte, sorgte er für Gerechtigkeit, Strafe, Sühne. Wenn er Fritz sah, seinen Eifer bei der Arbeit, sein schönes volles, sanftes und doch immer abgewandtes Gesicht, wenn er sein Lachen, Singen und Pfeifen hörte, lächelte er kalt und spöttisch, unsichtbar unter seinem Bart, und seine kleinen Augen kniffen sich zusammen. Als die Frau ihm erzählte, daß Fritz heimlich im Pferdestall schlafe, schlug er vor Freude mit der Faust auf den Tisch. Er kannte den Fall Anna B. genau, es hatte ihn darum gereizt, Fritz zu sich zu nehmen; nun merkte er, was noch niemand bisher beobachtet hatte, daß Fritz nie von diesem Geschehnis sprach und, wenn in seinem Beisein davon gesprochen wurde, gleichmütig und still zuhörte, statt zu prahlen, daß er alles in nächster Nähe erlebt habe, wie es wohl bei einem jungen Burschen zu verstehen gewesen wäre. Wenn er sich von Fritz über Land fahren ließ und dieser vor ihm auf dem Kutschbock saß, bestrich er mit lauernden Blicken seinen jungen, starken Rücken, der im Takt auf und nieder federte, seinen vollen Nacken, der bis zu den blonden Haarspitzen hinein gerötet war, seine Ohren, die, klein und schön geformt, doch ein wenig abstehend, zu beiden Seiten seiner Mütze rosig leuchteten. Einmal war er mitten in der Nacht aufgestanden und nach dem Pferdestall geschlichen, hatte dort den schlafenden Jungen aufgescheucht und ihm das Nächtigen außerhalb der Kammer verboten. Er beobachtete dann zufrieden, mit welcher Vorsicht und List Fritz die Schlafstätte im Stall doch wieder aufsuchte, wiederholte aber das Verbot nicht.

Im Juni, zur selben Zeit, als in Treuen die Leiche aufgefunden wurde, saß der Schultheiß mit seiner Frau und dem Gesinde beim Abendessen. Im Wirtshaus hatte er von dem Gendarmen die Neuigkeit erfahren. Er wartete, bis alle aßen, dann sagte er plötzlich und richtete dabei seinen stechenden Blick voll auf den in Frieden essenden Fritz: »Na, Fritz, siehst du wohl, nun haben sie die Anna doch gefunden.«

Fritz ließ den Löffel fallen, riß seine Augen aus dem funkelnden Blick des Herrn los und sah zum Fenster hinaus. Noch hatte er die Worte selbst nicht begriffen, doch jener böse Blick überwältigte ihn. Noch nie hatte ihn jemand so angesehen. Plötzlich ward die ganze Welt ihm zum Feind in diesem einen Blick. Die Welt, die ihn bisher so gütig geborgen und getragen hatte, ihn, den frühen Feind der Welt. Entsetzen und Furcht überfielen ihn zum ersten Male. Sein Gesicht erbleichte zu einer fahlen Maske seiner selbst. Der Glanz der Augen, die Jugend war wie fortgewischt, seine Kiefer stießen klappernd aneinander. Schweiß tropfte von seiner Stirn und feuchtete seine Hände. Dann kamen ihm langsam die Worte des Herrn wieder ins Gedächtnis. Sein Blut strömte zurück, die Kräfte zum Kampf erwachten in ihm. Er lehnte sich langsam in den Stuhl zurück und vergrub herausfordernd die Hände in den Taschen. Ruhig und voll richtete er den Blick auf den Herrn, der den seinen senkte. Nach einer Weile aber schnellte der Herr den Blick wieder hoch und fragte: »Wie groß war denn die Anna, Fritz?«

Fritz sagte: »Oh, sehr groß war die nicht«, und lachte.

»Warum ißt du nicht?«

»Es ist so heiß, ich habe keinen Hunger.«

»So, du hast keinen Hunger?«

Die andern blickten bei diesen Worten auf und sahen auf Fritz, der nun seinen Löffel wieder ergriff und aß. Nach dem Essen verrichtete er noch seine Arbeit, dann ging er in die Knechtekammer und legte sich da in sein Bett, so verstört und verschüchtert hatte ihn der Blick des Herrn. Doch als die andern kamen und um ihn her in tiefen Atemzügen zu schlafen begannen, hielt es ihn doch nicht, er nahm seine Kleider, schlich sich hinunter und legte sich auf einen halb mit Heu beladenen Wagen, der neben den Ställen stand, denn er wagte auch nicht, in den Pferdestall zu gehen. Die Nacht war heiß und hell, die Sterne funkelten. Fritz sah sie über sich stehen, sie glichen den böse funkelnden Augen des Herrn, die ihn erschreckt hatten. Er richtete sich auf, wer wollte etwas von ihm? Plötzlich fiel ihm sein Geld ein, der ersparte Lohn, den er im Pferdestall vergraben hatte. Er sprang vom Wagen, schlüpfte vorsichtig in den Stall, mit den Händen schaufelte er die kleine Grube auf, in der das Geld lag, es war wohl da gut verwahrt, aber vielleicht fanden sie es auch, und er nahm es auf und knüpfte es seitwärts in den unteren Saum seines Hemdes. Dann ging er wieder zurück zum Wagen, wühlte sich tief in das heiße, betäubend duftende Heu ein und schlief, bis ihn in der Morgendämmerung der feuchte Tau erweckte. Um sieben Uhr, nach dem Frühstück, fuhr er den leeren Lastwagen hinaus ins Moor. Er ließ wie immer die Pferde durch die Gassen sausen, stand breitbeinig auf dem Bock und hielt lose die Zügel. Auf der Heide half er die Torfstücke verladen. Er arbeitete flink, pfiff vor sich hin. Alles war wie immer. Er erschrak auch nicht, als er nach ein paar Stunden den Herrn kommen sah mit zwei Gendarmen. Sie gingen geradewegs auf ihn zu, und der eine Gendarm zog ein kleines schwarzes Heft zwischen zwei blanken Knöpfen seiner Uniform hervor, schlug es auf und fragte: »Sind Sie Fritz Schütt?«

»Jawohl«, sagte er.

»Dann kommen Sie mit uns«, sagte der Gendarm.

Fritz sah auf den Herrn: »Ich kann doch nicht so von der Arbeit fort.« Der Schultheiß schwieg und sah ihn nur mit seinen stechenden Augen an. Doch der Gendarm lachte: »Komm nur, mein Junge, da ist die Arbeit ganz egal.«

Dieser Ausspruch verwirrte Fritz sehr. Zögernd ließ er die Torfstücke, die er eben im Schwung vom Boden aufgehoben hatte, wieder fallen und folgte langsam den Gendarmen. Auf dem Hauptplatz sah er mit Staunen den Treuener Wagen stehen mit den beiden Braunen, die er so oft gelenkt hatte. Er trat zu den Tieren, klopfte ihnen die Hälse, schnalzte leise, wobei sie ihn erkannten, die Ohren bewegten und freudig wieherten. Er nahm die Zügel in die Hand, wog sie liebkosend auf und nieder. Aber der Gendarm zog plötzlich einen dicken Strick unter dem Sitz hervor und band ihm die Hände. Die bösen Augen des Schultheißen ruhten triumphierend auf ihm. Das erschreckte ihn so, daß er sich nicht zu wehren versuchte. Er mußte im Wagen Platz nehmen, der eine Gendarm setzte sich neben ihn, während der andere die Braunen lenkte. Das erfüllte ihn mit Wut und Zorn. Er knirschte mit den Zähnen, suchte seine gebundenen Hände zu verbergen, indem er sie gegen seinen Leib preßte und seinen Oberkörper tief darüberneigte. Er blickte unter der gesenkten Stirn hervor nach allen Seiten, ob ihn niemand sähe. Doch der Wagen war schnell ins Freie gelangt, rollte den Weg nach Treuen zu. Nun wandte er seine zornigen Blicke nicht von dem Gendarmen, der auf dem Kutschbock saß und die Pferde lenkte, während er im Wagen sitzen mußte, mit gebundenen Händen. Ein Gefühl bitterer Feindschaft stieg in ihm auf gegen die Gendarmen, gegen die Pferde, die sich so leicht von einem anderen lenken ließen, gegen den Wagen sogar, auf dessen Boden er mit den Füßen stampfen wollte, aber er verbarg seine Feindschaft und seine Wut, heimlich drückte er nur mit großer Kraft seinen rechten Fuß gegen das Holz, als könne er ihm so wehe tun. Trotzig und feindselig sah er nun die Gegend der Heimat wieder, der sie sich inzwischen genähert hatten, die breite Chaussee, von der sie in den Forst einbogen, dann den Teich, die Wiesen und Felder, an deren Ende die Domäne mit ihren Häusern, und dann schließlich den Hof, auf den sie ratternd einfuhren, am Brunnen endlich haltend. Von weitem hatte er wohl Gestalten im Hofe bemerkt, doch jetzt war alles leer, niemand zu sehen, nicht der Herr, nicht die Mutter. Sie stiegen alle drei vom Wagen, die Gendarmen nahmen ihre Mützen ab und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Die Hitze war noch drückender geworden, seit der Himmel von weichen, weißen und grauen Wolken tief überzogen war; heißer Dunst lagerte in der Luft. Der Gendarm, der kutschiert hatte, rückte Mütze und Uniform wieder zurecht und schritt mit abgemessenen Schritten ins Wohnhaus, wo der Kommissar ihn erwartete. Fritz, unter der Bewachung des zweiten Gendarmen am Wagen stehend, riß verstohlen an den Stricken um seine Hände, doch er sagte nichts, fragte nichts. Nach einer Weile trat der Kommissar mit dem Gendarmen aus der Tür des Wohnhauses und ging geradewegs auf die Scheune Nummer vier zu. Der Gendarm winkte ihnen, zu folgen.

»Also vorwärts«, sagte der Begleiter zu Fritz. Fritz rührte sich nicht. Er wandte nur den Kopf nach den Pferden zurück, die schweißtriefend noch vor dem Wagen standen. Sie hätten mit Stroh abgetrocknet werden und etwas frisches Heu für den Durst bekommen müssen. Aber ihm hatte man ja die Hände gebunden, und die Gendarmen dachten nicht daran. Er fühlte Verachtung gegen sie und im voraus auch gegen den Kommissar. »Na, geh doch«, drängte der Gendarm, und langsam setzte sich Fritz in Bewegung. Der Gendarm ließ ihn vorschriftsmäßig drei Schritt vorausgehen, und in diesem kleinen Zug gelangten sie zur Scheune. Das verschlossene Tor, vor dem Tag und Nacht eine Wache patrouillierte, war inzwischen geöffnet worden. Die Flügel waren aber nicht ganz zurückgeschlagen, sondern standen in einem rechten Winkel nach vorn und bildeten eine Gasse, die in den dunklen Raum führte. Unter dem Bogen des Tores, zwischen Licht und Dämmerung, waren der Kommissar und der zweite Gendarm aufgestellt und erwarteten Fritz. Der Kommissar, selbst im Dunkeln stehend, richtete den Blick scharf auf das beleuchtete Gesicht des langsam näherkommenden Jungen und auf seinen Gang. Doch konnte er nicht das leiseste, selbst unbewußte Zögern in seinen Schritten bemerken, die auf die Unglücksstätte zulenkten, kein Zucken oder Verändern des Gesichtes. Mit Trotz, aber völlig offen und klar richtete Fritz den Blick gegen ihn. Stumm blieben sie voreinander stehen. Der Gendarm stand stramm und grüßte. Noch immer schwieg der Kommissar und sah Fritz an. Doch der blieb geduldig und still, kein Wort, keine voreilige oder verräterische Frage entschlüpfte ihm. Lässig hielt er die gebundenen Hände vor sich hin und blickte ruhig in die Dämmerung der Scheune hinein. Endlich fragte der Kommissar und hob den Bogen eines Protokolls, den er in der rechten Hand gehalten hatte, empor: »Sie sind Fritz Karl Martin Schütt?«

»Jawohl«, sagte Fritz und mußte lachen, als er seine vielen Namen hörte.

»Geboren am fünften Dezember 18 . . . in G.?«

»Das kann wohl sein, wenn es da steht«, erwiderte Fritz.

»Lassen Sie solche Scherze,« sagte der Kommissar, »antworten Sie auf meine Fragen mit Nein oder Ja.«

»Das soll keine Frechheit sein,« sagte Fritz ruhig, »aber ich selbst kann doch nicht genau wissen, wann ich geboren bin.«

Der Kommissar schwieg eine Weile und sah Fritz an, dann fragte er plötzlich und scharf: »Dann weißt du wohl auch nicht, wo die Anna  B. hingekommen ist?«

»Das weiß ich nicht, das weiß keiner,« sagte Fritz ruhig. Der Kommissar fühlte, daß der Überfall mißlungen war und er einen Fehler gemacht hatte. Durch diese Frage war Fritz gewarnt und mit Widerstand gewappnet.

»Folgen Sie mir,« sagte der Kommissar und ging voraus nach dem Winkel zu, wo die Leiche in noch unveränderter Stellung lag. Fritz und die Gendarmen folgten. Da der Tag trübe war und zudem die Torflügel nicht ganz geöffnet waren, gerieten sie nach ein paar Schritten in völlige Dunkelheit. »Rechts halten!« kommandierte der Kommissar, stieß aber selbst nach dem nächsten Schritt heftig mit dem Kopf gegen einen aus der Wand hervorspringenden Balken. Fritz lachte, als er den dumpfen Knall hörte. Er kannte hier alles ganz genau, sagte aber nichts. Endlich schimmerten nach ein paar weiteren, tappenden Schritten schmale Streifen Lichtes aus dem Dache hernieder, und man konnte den Teil des Raumes, der unter ihnen lag, allmählich erkennen. Fritz blinzelte nach dem einfallenden Licht empor, »das Dach ist schon wieder entzwei«, dachte er. Der Kommissar stand jetzt still. Alle keuchten, denn die Luft in der Scheune ließ sie kaum atmen. Der Kommissar fragte: »Wo sind wir hier?«

»In Scheune vier, Fach zehn«, antwortete Fritz.

»Du kennst es genau, was?«

»Ja, da haben wir voriges Jahr das Dach ausgebessert, Güse und ich. Es läßt aber schon wieder durch«, sagte Fritz und verfolgte prüfend die Ritzen im Dach, durch die Licht einfiel.

»Nein, mein Freund, das ist etwas anderes«, sagte der Kommissar und gab dem rechts stehenden Gendarmen ein Zeichen. Jetzt bemerkte Fritz, daß eine Leiter an der Wand lehnte. Der Gendarm stieg sie empor und schob mit einer Stange, die er plötzlich zur Hand hatte, blitzschnell ein genau viereckiges, kunstvoll ausgeschnittenes Stück des Strohdaches zur Seite, so daß plötzlich Licht einströmte und ein viereckiges Stück Himmel zu sehen war. Fritz verfolgte mit Staunen eine träge sich vorüberwälzende Wolke, ihm war, als sähe er so Wolken und Himmel zum ersten Male. Der Kommissar beobachtete auf seinem Gesicht genau das kindliche Staunen, mit dem er das plötzlich enthüllte Stückchen Himmel betrachtete.

»Jetzt sieh hierher!« befahl er und wies mit der Hand zur Erde, wo sich die Grube mit der Leiche befand, genau unter dem Viereck des einfallenden Lichtes.

Doch Fritz senkte nicht sofort den Blick zu Boden. Geblendet vom Licht, blinzelte er erst in das Gesicht des Kommissars, aus dem er unter gespielter Ruhe und Gleichmütigkeit die furchtbare Spannung des Augenblickes wohl erkannte. Wieder fühlte er die Feindschaft der ganzen Welt gegen sich, wieder fand er Kraft und Trotz zum Kampf. Er ließ seinen Blick vorsichtig seitwärts zu Boden wandern, erst ins Dunkle zurück, wo er nichts sah, dann langsam das Bodenstroh entlang, das erst glatt und eben lag, dann aber sich langsam häufte, ein kleiner Hügel kam, den sein Blick überstieg, dann ein kleines Tal, dann erblickte er kleine schwarze Schuhe, etwas Rotes schimmerte auf, dann Schmutz und Erde und dazwischen gebettet kleine weiße Stücke. Einige lagen beisammen, als wären es Finger einer Hand, aber dann erkannte er plötzlich den kleinen Schädel, weiß glänzend, und, von dem einströmenden matten Licht getroffen, einen Hauch blonden Haares. Jetzt erbebte er und trat zurück. Doch der Kommissar konnte kein anderes Entsetzen auf seinem Gesicht entdecken als das, welches dieser Anblick in jedem Menschen, wenn er nicht völlig roh sein sollte, hervorrufen mußte. Ja, jetzt richtete der Mörder seinen entsetzten Blick gerade auf ihn, voll, offen und fragend.

»Erkennen Sie die Leiche?« fragte der Kommissar.

»Nein, das kenne ich nicht«, antwortete Fritz leise.

»Warum sagen Sie ›das‹, ich frage Sie, ob Sie die Leiche erkennen?«

»Das ist eine Leiche?«

»Natürlich. Sie wollen mir doch nicht weismachen, daß Sie noch keine Leiche gesehen haben?«

Fritz schüttelte den Kopf und schwieg.

»Natürlich haben Sie schon eine Leiche gesehen, Sie haben sogar schon diese Leiche gesehen. Nur sah sie damals, vor einem Jahr zum Beispiel, ganz anders aus. Das hier sind ja nur noch Knochen, aber damals hatte sie noch Fleisch und Haut und Augen und Haare, nicht wahr?«

Fritz sah den Kommissar ungläubig an, schüttelte den Kopf. »Was denn nur für eine Leiche?«

»Na, die Anna.«

»Das soll die Anna sein?« fragte Fritz jetzt lebhaft und blickte wieder auf die Leiche nieder.

Der Kommissar befahl, daß man ihm die Hände aufbinde. Der Strick war feucht von Schweiß und knotete sich nur schwer auf. Allen dreien rann der Schweiß in Strömen den Körper entlang, nur mit Mühe konnte der Kommissar das Verhör in der drückenden Luft zu Ende führen.

»Knien Sie nieder!« befahl er jetzt.

»Was soll ich?«

»Niederknien!«

»Das tu ich nicht.«

»Widersetzen Sie sich nicht, je schneller Sie gehorchen, desto besser wird es Ihnen gehen«, sagte der Kommissar und drückte Fritz an den Schultern nieder. Fritz kniete vor der Leiche.

»Fassen Sie die Schuhe an«, befahl der Kommissar. Fritz gehorchte. »Sehen Sie sie genau?«

»Ja.«

»Sind das die Schuhe, die die Anna B. bei ihrem Verschwinden getragen hat?«

Fritz zog seine Hand von den Schuhen fort und sagte: »Das weiß ich nicht mehr.«

»Fassen Sie das Kleid an! Betrachten Sie es genau! Wie ist es?«

»Rotes Zeug.«

»Betrachten Sie es genau. Wie ist es noch?«

»Es ist auch Grün darin.«

»Sind die Farben gestreift?«

»Nein, das ist gewürfelt.«

»Erinnern Sie sich, daß die Anna B. ein solches Kleid getragen hat?«

»Ja, dessen erinnere ich mich.«

»Heben Sie den Rock des Kleides hoch.«

Fritz gehorchte. Ein rosafarbener Unterrock mit weiß gesticktem Bogenrand kam zum Vorschein.

»Erkennen Sie auch diesen Unterrock als den der Anna B. wieder?«

»Das weiß ich nicht, ich habe sie nie ausgezogen.«

»Sie bestreiten also, daß die Leiche, die da vor Ihnen liegt, die der Anna B. ist?«

»Das kann ich nicht wissen, sie hat doch kein Gesicht.«

»Nun, wir sind aber alle überzeugt, daß das die arme kleine Anna ist, und Sie können es auch ruhig glauben, daß sie es ist. Sind Sie nun nicht traurig darüber, das kleine Kind, das so lieb und heiter war und gegen alle so freundlich, daß Sie das nun so hier wiedersehen?«

»Das ist schon so lange her, daß sie weg war.«

»Ja, aber Sie erinnern sich doch an sie. Sie haben doch viel mit ihr gespielt«

»Ja.«

»Nun, und das hier erschüttert Sie gar nicht?«

»Das hier erkenne ich gar nicht. Es hat kein Gesicht.«

Der Kommissar verstummte und überblickte noch einmal die kniende Gestalt des Jungen. Er hielt sich ruhig und lässig, die Hände lagen leicht auf den Oberschenkeln, der Kopf über dem gerade gehaltenen, kräftigen Rücken war ein wenig nach vorn geneigt, der jugendliche, rosig-braune Nacken, die reichen, blonden Haare, die zart geröteten Ohren, alles war matt angeleuchtet von dem einfließenden, wolkig trüben Licht. Die Augen hielt er, mit dem Blick auf seine Knie und auf die schmale Spur Bodenstroh, die zwischen ihm und der Leiche lag, gerichtet, so tief und ruhig gesenkt, daß sie geschlossen schienen. Er glich einem trotzigen, aber völlig offenen Kinde.

»Sie können aufstehen«, sagte der Kommissar und wandte sich dem Ausgang der Scheune zu. »Ich will im Wohnzimmer noch ein paar Fragen an Sie richten.«

Fritz erhob sich, klopfte die Spuren von Stroh und Erde von seinen Knien ab, strich sich über die Hände, die jetzt erst von dem Binden zu schmerzen begannen und rote Striemen zeigten, und folgte ruhig, doch etwas mürrisch dem Beamten. Als sie auf den Hof kamen, begegnete ihnen der Wirtschafter mit ein paar Knechten. Sie blieben in einer Reihe stehen und sahen ihn an. Er steckte die Hände in die Taschen und ging gleichmütig an ihnen vorüber. Keiner grüßte den anderen. Als sie sich nun dem Wohnhause näherten, überfiel ihn plötzlich die Angst, daß er dem Herrn oder seiner Mutter begegnen könnte. Bei dem Gedanken an den Herrn zitterte er. Ja, wenn der Herr ihm etwas tun wollte (daß man ihm etwas tun wollte, nur so empfand er die Fragen und das argwöhnische Forschen der Polizei), dann konnte er sich nicht dagegen wehren. Aber der Herr hatte ihm ja nie etwas getan, war immer gut zu ihm gewesen, und die Arbeit bei ihm war doch die schönste gewesen. Seiner Mutter aber wollte er das Geld geben, den ersparten Lohn, den er sich in der letzten Nacht in das Hemd geknüpft hatte. Bei diesem Gedanken beruhigte er sich wieder.

Sie traten alle in das Wohnzimmer ein, das ganz verändert war. Der Tisch war zum Fenster gerückt, seine schöne rote Decke war abgenommen, und das spiegelnde Holz war mit Papieren überdeckt; Stühle standen ringsum. Ein Schreiber saß da mit einer Feder hinter dem Ohr und gähnte. Als der Kommissar eintrat, sprang er auf und grüßte. Der Gendarm blieb an der Tür stehen. Der Kommissar warf seine Mütze auf das Sofa, öffnete Rock und Weste. Sein bleiches Gesicht mit den graublauen, matten Augen war gedunsen von der Hitze und von dem Aufenthalt in der Scheune, auf seiner Stirn war eine große blaue Beule von dem Stoß an die Wand. Er löste seine Halsbinde und trocknete sich mit einem Handtuch, das an der Tür hing, den Schweiß von dem kurzen, kräftigen Halse. »Holen Sie Wasser zum Trinken!« sagte er zu dem Schreiber.

Der Himmel war von Wolken jetzt ganz umzogen, bleigrau, von heißem Dunst erfüllt war die Luft vor den geöffneten Fenstern. Der Schreiber kam zurück und meldete, es sei kein rechtes Trinkwasser da, der Brunnen sei seit drei Tagen trocken, ob er Buttermilch bringen solle.

»Ja, nur etwas zu trinken«, sagte der Kommissar. Nach einigen Minuten kam der Schreiber mit einer Kanne Milch und einem Glas zurück. In dem Augenblick, als er zur Tür eintrat, setzte draußen der erlösende, lang ersehnte Regen in Strömen ein. Der Kommissar blickte zum Fenster und sagte: »Also, da gibt es doch Wasser!« Da lachten alle, am fröhlichsten aber Fritz, sein Kichern trillerte über die Laute der anderen hin. Der Kommissar trank ein Glas Milch und blickte über den Rand des Glases auf ihn hin. Er goß ein zweites ein, reichte es ihm und sagte: »Na also, einen Spaß verstehst du auch. Nun setze dich auch. Du kannst dich ruhig ein bißchen ausruhen, und trink die Milch, wir haben ja alle Durst. Nachher, wenn du dich ausgeruht hast, werde ich dich noch ein paar Kleinigkeiten fragen, nichts anderes, als was schon vor einem Jahr die Polizei gefragt hat.« Er rückte Fritz einen Stuhl hin. setzte sich ihm gegenüber, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und lächelte ihn an. Draußen rauschte in machtvollen Strömen der Regen. Feuchte Kühlung wehte in das Zimmer, alle fühlten sich erquickt, leicht und fast glücklich.

Fritz setzte sich und hielt das Milchglas in der Hand. Er sah den Kommissar an, lächelte und fragte mit sanfter, heller Stimme: »Ihr seid kein Polizeikommissar?«

»Nein, nein! Wir sind vom Gericht, das ist lange nicht so schlimm.«

Der Posten an der Tür lächelte. Das sah Fritz. Er schwieg und trank bedächtig seine Milch. Der Kommissar sah ihm eine Weile zu, dann fragte er: »Trinkst du Milch gern?«

»Jawohl.«

»Lieber als Bier?«

»Bier kenne ich nicht, das kostet Geld.«

»Na, du verdienst doch auch. Da kannst du dir doch wohl auch einmal Bier kaufen. Was machst du denn mit deinem Gelde?«

Fritz schwieg und trank weiter.

»Na, du sparst wohl?«

Fritz nickte.

»Für wen denn? Du hast wohl gar schon einen Schatz?«

»Ach wo«, sagte Fritz plötzlich böse und gereizt.

»Na, warum nicht,« lachte der Kommissar, »da ist ja doch nichts Böses dabei. Du bist doch bald ein Mann,« er senkte die Stimme und blinzelte vertraulich, »hast du schon einmal so eine Dummheit gemacht, du weißt schon?«

»Ich habe immer meine Arbeit gemacht.«

»Na und abends nach Feierabend? Hast du nicht ein Mädchen lieb?«

»Das gehört doch nicht auf das Gericht.«

»Na ja, wir sprechen jetzt auch nicht amtlich zusammen, nur so, du brauchst mir so etwas natürlich nicht zu sagen. Ich dachte nur, weil du doch so ein junger hübscher Bursche bist. Du hast also immer nur mit den Kindern gespielt, mit der kleinen Anna?«

»Jawohl.«

»Die war doch noch so klein. Hast du ihr auch nicht mal wehe getan, so aus Versehen?«

»Nein.«

»Hast du sie auch nie geneckt oder geschlagen? Kinder quälen einen doch manchmal so sehr und sind unartig.«

»Ach wo.«

»War die kleine Anna immer artig, und du hast sie nie ein bißchen gestraft?«

»Nein.«

»Du warst also nur gut zu ihr und hast sie geküßt und gestreichelt?«

Fritz lachte: »Ach wo!«

»Na, wir wollen ja jetzt auch gar nicht mehr von der kleinen Anna sprechen. Das kommt später. Aber das kannst du mir noch verraten, was du mit deinem Gelde machst.«

»Das kriegt die Mutter.«

»Die Mutter, so.« Der Kommissar schwieg. Er dachte an die furchtbare Anklage der Mutter gegen den Sohn, der für sie sein Geld sparte.

»Du hast wohl deine Mutter gern?« begann er nach einer Weile wieder.

»Ach ja.«

»Und sie dich wohl auch?«

»Na ja.«

»Hast du ihr nicht einmal irgendeinen großen Kummer gemacht?«

»Ich weiß nicht, da hat sie mir nie etwas davon gesagt.«

»So? Sie hat aber sehr über dich geklagt.«

»Da weiß ich nichts davon, ich habe ihr Geld mitgebracht.«

»So? Wo hast du es denn? Zeige doch einmal.«

Fritz stutzte. »Das kann ich nicht«, sagte er.

»So«, sagte der Kommissar und schwieg.

»Ich habe es im Hemd«, begann Fritz nach einer Weile wieder. »Wenn ich einmal in die Ecke gehen darf, kann ich es holen.«

»Natürlich,« lachte der Kommissar, »das Hemd wollen wir gar nicht sehen, nur das Geld darin.«

Fritz stand auf und ging in die Ecke zwischen Wand und Schreibsekretär, öffnete die Kleider und nestelte das Geld los. Nachdem er alles wieder an sich geordnet hatte, trat er zum Tisch und legte drei Taler darauf nieder.

»Drei Taler!« rief der Kommissar erstaunt aus. »Nein, du bist wirklich ein guter Sohn!« und er schlug ihm auf die Schulter. Doch Fritz rührte sich nicht und sah ihn mit ernstem Gesicht mißtrauisch von der Seite an.

»Na, was willst du?« sagte der Kommissar. »Ich sehe eben, du bist ein anständiger Kerl. Du lügst nicht. Wenn du mir das Geld nicht gezeigt hättest, hätte ich dir natürlich nie mehr was geglaubt. Aber so sehe ich, daß du die Wahrheit sagst. Nun sage ich dir aber auch die Wahrheit, du bist nämlich ein bißchen in Verdacht gewesen, aber nun ist das alles widerlegt, und du wirst mir nur noch ganz klipp und klar auf ein paar Fragen antworten, die ich dir jetzt amtlich vorlege, und dann kannst du gehen.« Bei diesen Worten legte der Kommissar Binde, Weste und Rock wieder an, strich das Haar glatt und setzte sich neben dem Schreiber an den Tisch. Der Schreiber hatte, durch einen Blick des Kommissars verständigt, das Protokollieren unterlassen, um die bisher gestellten Fragen als völlig unverfänglich erscheinen zu lassen. Jetzt fiel er gierig mit einer bereit gehaltenen Feder über das Papier her, um das Verhör, das er fest im Gedächtnis hielt, niederzuschreiben. Es war zwei Uhr mittags. Alle verspürten Hunger. Draußen regnete es gleichmäßig, ruhig, ununterbrochen. Der Posten an der Tür trat verstohlen von einem Bein auf das andere. Fritz lachte, als er es bemerkte. Der Kommissar aber klopfte mit dem Finger auf den Tisch, er saß plötzlich hochaufgerichtet, streng und unnahbar da, sagte mit kaltem, befehlendem Ton zu Fritz: »Stehen Sie auf!« und zum Schreiber: »Fertig?«

»Jawohl«, antwortete der Schreiber, vollendete schnell eine Zeile und faltete einen neuen Bogen.

»Antworten Sie mit Ja und Nein! Sie sind Fritz Karl Martin Schütt, geboren am 5. Dezember 18 . . in G. als Sohn des Tagelöhners Karl Schütt und seiner Ehefrau Emma, geborenen Anton?«

»Ja.«

»Sie besuchten die Schule in L., lernten Lesen, Schreiben und Rechnen?«

»Ja.«

»Sie wurden Ostern 18 . . . in der Pfarrkirche L. im evangelischen Glauben eingesegnet?«

»Ja.«

»Sie traten in den Dienst des Domänenpächters Friedrich Christian B. in Treuen und waren da tätig von 18 . . bis vor einem Vierteljahr, wo Sie in den Dienst des Bürgermeisters Mandelkow in Plestlin eintraten, in welchem Dienst Sie sich zurzeit noch befinden?«

»Ja.«

»Warum gingen Sie von hier fort?«

»Ich soll nur ja und nein sagen.«

»Gingen Sie fort, weil Sie unzufrieden waren?«

»Nein.«

»Oder hatten Sie sich etwas zuschulden kommen lassen und fürchteten Strafe?«

»Nein.«

»Der Herr hält sehr auf Ordnung, er war wohl sehr streng?«

»Nein. Der Herr ist gut. Er ist wie mein richtiger Vater. Ich habe immer Ordnung gehalten.«

»Sie haben nie einen Verweis von dem Herrn erhalten?«

»Nein.«

»Warum gingen Sie fort?«

»Der Anton hat mir die Arbeit abgenommen.«

»Was für eine Arbeit?«

»Meine Arbeit.«

»Das verstehe ich nicht. Deshalb geht man doch nicht aus einem guten Dienst.«

»Doch.«

»Ist das die Wahrheit?«

»Ja.«

»Am vierundzwanzigsten Juni vorigen Jahres zwischen vier und acht Uhr abends verschwand das Töchterchen Ihres Dienstherrn spurlos. Sie waren an dem Tag und zu der Zeit hauptsächlich damit beschäftigt, dem Dachdeckermeister Güse beim Ausbessern des Strohdaches der Scheune Nummer vier, über Fach zehn, zu helfen?«

»Ja.«

»Sie holten zu diesem Zwecke Bandweiden vom Teiche herauf, wo Sie mit den Entenhirtinnen Friederike und Minna zusammentrafen und wohin auch die kleine Anna kurz vor ihrem Verschwinden angelaufen kam?«

»Ja.«

»Sie haben mit ihr gesprochen und sie mit sich genommen, um ihr ein Vogelnest in der Scheune zu zeigen?«

»Nein.«

»Sie lügen! Sie haben früher zu Protokoll gegeben, daß die kleine Anna mit Ihnen nach der Scheune gegangen ist, weil Sie ihr ein Vogelnest zeigen wollten.«

»Ein Vogelnest ist viel zu hoch zum Zeigen.«

»Aber die kleine Anna ist doch mit Ihnen gegangen?«

»Ja.«

»Bis in die Scheune?«

»Nein.«

»Sie ist nicht mit Ihnen in die Scheune getreten?«

»Ich habe es nicht gesehen.«

»Wohin ist sie denn gegangen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Aber vom Teich herauf ist sie mit Ihnen gegangen?«

»Ja.«

»Wissen Sie noch, was sie für ein Kleid anhatte?«

»Was Rotes.«

»Und Sie haben auch nicht gesehen, wohin sie gegangen ist, als Sie aus der Scheune zurückkamen?«

»Nein, da war sie schon weg.«

»Wohin weg?«

»Sie war ja verschwunden.«

»Was haben Sie denn mit der Hacke gemacht, die Sie an dem Nachmittag in der Hand gehalten haben, als Ihre Mutter Ihnen begegnete? Die haben Sie wohl für die Weiden gebraucht?«

»Für die Weiden kann man nur Messer brauchen.«

»Wozu haben Sie sie also ein bißchen gebraucht?«

»Ich habe einen Bettler fortgejagt.«

»Haben Sie ihn mit der Hacke geschlagen?«

»Nein. Er lief von alleine fort.«

»Wo haben Sie denn an dem Abend gesucht, als alle anderen nach dem Kinde suchten und riefen?«

»Ich habe nirgends gesucht.«

»Warum nicht?«

»Ich habe mit Karl einen Scheiterhaufen gemacht, damit es leuchtet, das ist besser.«

»Wollten Sie auf diese Weise helfen, das Kind zu suchen?«

»Ich weiß nicht«

»So. Was haben Sie in der Zeit von vier bis acht gemacht?«

»Mit Güse gearbeitet, zur Vesper habe ich Milch getrunken, dann habe ich mich ein bißchen gedrückt und habe geschlafen.«

»Sie erinnern sich genau?«

»Ja.«

»Schlafen Sie öfters so am Tage?«

»Nein.«

»Warum waren Sie an diesem Tage so besonders müde?«

»Es war heiß, und ich hatte schwer getragen.«

»Ach ja, Sie trugen die Weidenruten.«

»Ja.«

»Sie haben nun heute in der Scheune Nummer vier, im Fache zehn, die vergraben gewesene Leiche der Anna B. wiedererkannt?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Ach, richtig, ja. Sie erkannten nur das Kleid wieder.«

»Ja.«

»Nun sind wir alle überzeugt, daß diese Leiche die verschwundene Anna B. ist, und daß das Kind am vierundzwanzigsten Juni vorigen Jahres schon dort in der Scheune von unbekannten Tätern vergraben worden ist. Sie haben nun zur selben Zeit, an demselben Ort, dort in der Scheune gearbeitet. Haben Sie gar nichts bemerkt, einen fremden Menschen, einen Schrei, ein Geräusch, das uns auf eine Spur lenken könnte?«

»Nein.«

»Aber denken Sie doch nach, Sie müssen doch etwas bemerkt haben.«

»Güse hat auch nichts gemerkt«

»Allerdings.«

»Ja.«

»Aber Sie haben doch zum Beispiel den fremden Bettler gesehen?«

»Der war beim Brunnen.«

»Vielleicht ist er dann zurückgeschlichen, haben Sie nichts bemerkt?«

»Nein, er lief ja auch in die Felder, die andern haben ihn ja auch gesehen.«

»Ach ja, natürlich, Sie haben sich alles gut gemerkt.«

»Jawohl.«

»Und immer die Wahrheit gesagt?«

»Jawohl.«

»Dann ist es gut. Nun kannst du gehen, mein Junge, und brauchst keine Angst zu haben. Und die Hände werden dir auch nicht mehr gebunden.«

»Das ist gut, das hat mich auch sehr geärgert.«

»Du kannst nun ruhig den Leuten erzählen, daß nichts mehr gegen dich vorliegt.«

»Jawohl.«

Der Kommissar brach das Verhör ab und erhob sich. Fritz ging langsam zur Tür, zögerte noch ein wenig und ging dann hinaus. Er stand im Flur und sah durch die offene Haustür auf den vom Regen überschütteten Hof. Der Regen floß in dicken, schweren Tropfen senkrecht nieder und schlug kleine Wasserblasen auf dem Pflaster. Ab und zu huschte eine Magd, unkenntlich unter den über den Kopf geschlagenen Röcken, über den Hof und verschwand in einem der Ställe. Niemand sah nach ihm hin. Aus der Küche drangen Stimmen. Fremd, verlassen, feindselig war auch die Heimat. Er dachte, daß er von hier wieder fortgehen müsse, seine Arbeit war ja nicht mehr hier. Da fiel ihm ein, daß er das Geld für seine Mutter drinnen auf dem Tisch hatte liegenlassen, er wandte sich zur Stubentür zurück, doch als er sah, daß die Klinke, von innen niedergedrückt, sich bewegte, stürzte er davon, lief in den strömenden Regen hinein, hetzte über den Hof und, ohne sich umzusehen, durch die Felder in den Wald. Hier hielt er inne, wischte sich das Haar aus dem Gesicht und fühlte mit Behagen, wie der warme Regen in weichen, kleinen Bächen vom Nacken her seinen Rücken entlanglief, so daß er lachen mußte. Unter dem Schutz der Bäume ging er bis zur Landstraße, seine bloßen Füße bei jedem Schritt in das vom Regen neu aufschwellende Moos mit wohligem Gefühl eindrückend. Auf der Landstraße angelangt, zog er seinen Rock aus, schlug ihn über Kopf und Schultern und lief in gleichmäßigem Trab bis nach S., wo er müde und durchnäßt ankam. Dort traf er einen Knecht, der ihn auf seinem Wagen bis kurz vor Pl. mitnahm, wo er um die Zeit des Abendessens eintraf. Er schlüpfte in seine Kammer, zog ein trockenes Hemd und seine Sonntagshosen an und trug die nassen Kleider in den Pferdestall zum Trocknen. Dann trat er in die Stube ein. Das Gesinde hatte schon abgegessen, nur der Schultheiß saß noch am Tisch, sah aber nicht zu ihm auf. Fritz, von Hunger und Müdigkeit ganz benommen, durch die Anwesenheit des Herrn verwirrt, begann zu sprechen: »Ich kann nicht dafür, wenn die Arbeit liegenbleibt. Den ganzen Tag haben die nichts zu tun, als einen zu fragen.« Der Schultheiß sagte nichts, sah ihn nicht an. Die Magd brachte ihm eine große Schüssel voll Suppe, Fritz lachte und begann gierig zu essen. Plötzlich schnellte der Herr über den Tisch herüber, seine funkelnden, kleinen Augen waren dicht vor den Augen des Jungen, als dieser erschrocken vom Essen aufsah, doch seine Stimme war gedämpft, freundlich, vertraulich lockend: »Na, nun sage doch, was wollten denn die von dir?«

Fritz bog seinen Kopf zurück und sagte mit lauter Stimme: »Ach, die hören jeden ab, ob er die kleine Anna nicht gesehen hat.«

»Brauchst doch nicht so laut zu schreien!« sagte der Schultheiß und zog sich langsam wieder zu seinem Platz zurück. Fritz aß weiter. Der andere sah ihm zu. Dann rückte er von neuem ganz nahe an ihn heran und schmeichelte von neuem: »Na, Fritz, wenn du da nur nichts damit zu tun hast! Weißt du, dann kriegen sie dich doch!«

»Ich habe damit nichts zu tun. Ich habe nichts getan, ich weiß nichts.«

»Ja, aber Fritz, du sahst doch gestern so verstört aus?«

Fritz schwieg und blickte auf. Der Herr hatte sich weit über den Tisch gebeugt, sein Kopf war von dem Höcker seines Rückens hoch überragt, das Gesicht zu einem schmeichlerischen Lächeln verzogen, die Augen aber stachen feindselig nach ihm. Vor dem Blick erschrak Fritz. Jetzt sprach auch er leise, als er sagte: »Ach, das tat ich doch nur so.« Er legte den Löffel hin und stand auf.

»Iß doch fertig!« rief der Herr plötzlich laut und lebhaft. »Iß doch fertig. Wenn du nichts getan hast, kannst du doch fertig essen.«

Fritz kehrte langsam zum Tisch zurück, setzte sich und sprach: »Immerzu wird bloß von der Anna geredet.«

»Na ja, du kannst da doch viel erzählen, was?«

»Ich kann da gar nichts erzählen, ich weiß davon nichts.«

»Na, dann ist es ja gut«, sagte der Herr und stand vom Tische auf, während Fritz zu Ende aß.


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