Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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III

Die erste Behörde, welche die Meldung von dem Verschwinden des Kindes Anna B. empfangen hatte, war das Landratsamt des Landkreises Gr. Dieses hatte noch am 25. Juni telegraphisch alle Polizeibehörden bis in die weiteste Umgebung des Tatortes in Kenntnis gesetzt. Es erschienen zuerst am 3. Juli, dann fortgesetzt über vier Wochen lang in Abständen von drei Tagen Inserate in allen Zeitungen und als besondere Plakate große öffentliche Bekanntmachungen folgenden Inhalts:

»Menschenraub! Fünfhundert Taler Belohnung!

Am 24. Juni, abends 8 Uhr, wurde auf der Domäne Treuen bei L. im Kreise Gr. die vier Jahre alte Tochter Anna des Domänenpächters Christian B. vermißt. Da trotz gewissenhaftesten Suchens im Umkreis der Ortschaft Treuen Spuren von dem Kinde nicht gefunden werden konnten, auch ein Unglücksfall oder ein Verbrechen ausgeschlossen scheint, liegt der Verdacht nahe, daß das Kind etwa von herumstreifenden Zigeunerbanden oder anderen interessierten Personen geraubt worden sei.

Für die Wiederherbeischaffung des Kindes ist von dem Vater eine Prämie von fünfhundert Talern ausgesetzt worden.

Zweckdienliche Nachrichten nimmt jede Polizeibehörde entgegen.

Die verschwundene Anna B. ist vier Jahre alt, ein Meter und zehn Zentimeter groß, von zartem, aber gesundem Aussehen. Arme, Beine und Gesicht sind rund geformt. Sie hat große blaue Augen, glatte Stirn, kleine, etwas abgestumpfte Nase, kleinen Mund, bis auf vier Backenzähne vollständiges Gebiß und blondes lockiges Haar, das über der Stirn von einem Rundkamm aus dunklem Horn, mit zwei Goldstreifen verziert, zurückgehalten ist. Bekleidet ist das Kind mit einem rot- und grünkarierten, sogenannten schottischen Kleidchen aus feinem Wollstoff, dessen Rock in Falten gelegt und an das Leibchen angeknöpft ist. Das Leibchen ist am Hals ausgeschnitten, hat lange Ärmel, die am unteren Teil des Oberärmels mit kleinen Perlmutterknöpfen besetzt waren. Ebenso war die Vorderbahn des Leibchens mit zwei Reihen dieser Knöpfchen verziert. Das Kleid war neu. An den Füßen trug das Kind weiße, wollene Strümpfe mit roten Ringen und schwarze Knopfstiefelchen. Beides war ebenfalls neu. Das Hemdchen des Kindes trug rot eingestickt die Buchstaben A. B. 8, war aus feinem Leinen genäht mit kleinen Ärmelchen. Am Ausschnitt und den Ärmelrändern war es bogenförmig ausgestickt. Über dem Hemdchen trug das Kind ein rosa Leibchen aus Flanell, mit Leinenknöpfen zugeknöpft, ebenso waren an den Seiten Knöpfe angebracht, an denen die weißen Gummistrumpfbänder angebracht waren, welche die Strümpfe befestigten. Ferner trug es ein ebenfalls rosafarbenes Unterröckchen aus Flanell, das an den Seiten und hinten an das Leibchen angeknöpft war. Beinkleider trug das Kind nicht.

Als besonderes Merkmal ist vorhanden eine Narbe auf der linken Brust, die von einem früheren Geschwür herrührt.«

Diese Plakate, die in einer Größe von einem Meter im Quadrat, mit großer, fetter Schrift an allen Bahnhöfen der Eisenbahnstationen, an den Wirtshäusern der Poststationen, an allen öffentlichen Gebäuden, wie Rathäusern und Schulen, ja selbst an den Nebenportalen der Kirchen, in allen Städten und Dörfern in weitem Umkreis des Landes bis zu seinen Grenzen hin erschienen, trugen noch links oben angebracht die Photographie des Kindes. Vierfach vergrößert tauchte jenes Bild des Kindes, bei dessen Herstellung es sich so sehr gefürchtet hatte, bald überall auf. Es hing in den Auslagen der strahlend erleuchteten Geschäfte in den Städten, in den kleinen Schaukästen und an den Ladentüren der Krämerläden in den Marktflecken und Dörfern.

Wie zum Anblick gekrönter Fürsten drängten sich in Scharen die Menschen zu seinem Bild; sein Name, groß und leuchtend gedruckt, schwebte auf den Lippen, sein Schicksal rührte die Gemüter auf, hetzte warme, ehrliche Anteilnahme, leidenschaftliche Neugier und geldlüsternes Interesse in den Herzen der Menschen durcheinander. So geschah es, daß nach kurzer Zeit schon die Behörden mit Nachrichten über angebliche Spuren des Kindes überhäuft wurden. Diese Nachrichten enthielten durchaus glaubwürdige, oft ganz und gar zutreffende Beschreibungen des Kindes, mußten als wertvoll anerkannt und verfolgt werden. Die Möglichkeit eines anderen Verbrechens wurde mehr und mehr ausgeschaltet, und die Meldungen, daß das Kind gesehen worden war, zogen die Erwartungen und die Aufmerksamkeit der Behörden in solchem Maße auf sich, daß die Untersuchung Mühe hatte, alles zu verfolgen.

Am 8. Juli, drei Tage, bevor mit dem Schnitt der Ernte begonnen werden sollte, kam die erste Nachricht von dem Wiederauffinden des Kindes nach Treuen. Sie bestand aus einem Telegramm folgenden Inhalts: »Laut Zeugen bei Zigeunern in W. blondes Kind gefunden, identisch mit Anna B., kommt schnellstens.«

Lange hielt Christian die Nachricht in der Hand. Er schloß die Augen, horchte in die eigene Brust. Alles blieb still in ihm, kein Gefühl regte sich. Im Tod erwartete er noch einmal Gott, im Tod fühlte er sein Kind, an das Leben, an neue, verwirrende Hoffnungen konnte er nicht mehr glauben. Er traf mechanisch die Vorbereitungen zur Reise, zählte sein Geld und hinterließ nur wenige Bestimmungen für die Zeit seiner Abwesenheit. Am 9. Juli, morgens fünf Uhr, brach er auf. Er nahm von niemand Abschied. Nur Emma war bei ihm, reichte ihm den Imbiß und den kleinen Reisesack. Dieser enthielt außer Wäsche und Schuhen eine Kindertaille, die sie in der Nacht noch von dem übriggebliebenen Stoff des rot- und grünkarierten Kleidchens und nach genau demselben Schnitt zusammengenäht hatte, wie es das Kind am Tage des Verschwindens getragen hatte. Der Herr sollte es als Beweis mitnehmen, falls die Zigeuner, wie Emma es sich ausgedacht hatte, nun, da sie verfolgt würden, dem Kinde falsche Kleider angezogen hätten. Mit gefalteten Händen sah sie dem Herrn nach, als er davonfuhr. In ihr war eine inbrünstige Hoffnung, daß er mit dem Kinde zurückkehren würde.

Fritz kutschierte. Der Herr fuhr zuerst nach S., unterfertigte dort sein Testament bei dem Notar. Dann reiste er mit der Post bis zur nächsten Bahnstation, wo er gegen Mittag ankam. Seit er Treuen verlassen hatte, war ein seltsamer Zustand über ihn gekommen. Er fühlte sich selbst, wie er ging, sprach und handelte, als Träumenden, er fühlte sich im Innern leer, regungslos, wie gewaltsam gehalten zwischen Schlaf und Erwachen. Als er zum erstenmal wieder nach vielen Jahren einen Bahnhof erblickte, glaubte er sich zurückversetzt in seine Jugend, da er als Jüngling mit der Bahn zu den Ferienzeiten in die Heimat gefahren war. Auch daß er eilen mußte, da nur wenige Minuten bis zur Abfahrt des Zuges blieben, weckte ihn nicht auf. Als er in jugendlichen Schritten den langen Gang des Bahnsteiges durcheilte, streifte ihn im Lauf der Anblick eines großen weißen Plakates mit schwarzer Schrift: Menschenraub, und dann der Name Anna B., und darunter ein Bild: tiefe leuchtende Augen unter einer schönen, reinen Stirn, ein kindlich lächelnder Mund, ein Händchen, erhoben mit weisend ausgestrecktem Zeigefinger. Er stürmte vorüber, der Schaffner rief, er stieg schnell ein, und der Zug fuhr. Er saß still und erschöpft mit geschlossenen Augen da. Sanft fühlte er sich fortgetragen von einer fremden Kraft. Er schlief ein und erwachte erst wieder am Abend. Der Zug stand. Er hob die schweren Lider von den Augen, die verdunkelt waren in ihrer Farbe, ohne Glanz, zwei steinern erloschene Sterne, ohne Wunde mehr und ohne Schmerz. Er richtete den Blick durch das Fenster, durch das ein kühler, vom Duft des nahen Meeres erfüllter Wind eindrang und zart seine hohe Stirne umstrich. Er sah, in die blaue Dämmerung des Sommerabends gehüllt, ferne die schweren, eckigen, dunklen Türme einer Stadt, näher zu ihm dann die breite, sanft bewegte, wie von einem aus sich selber hervorschimmernden Licht silbern erhellte Fläche eines Flusses. Seine Ufer waren von tief sich niederbeugendem Gezweig umgrenzt, und in sein Wasser, das sanft von Licht getönte, bohrten sich große Kähne mit dunklen, in den samtnen Himmel ragenden Masten ein, die sich leise darin bewegten. Der Zug fuhr langsam über eine Brücke. Der Fluß und die Kähne wichen zurück, Gruppen dunkler Bäume tauchten auf, noch im Angesicht der schwarz sich auftürmenden Stadt breitete sich eine große, freie Wiese aus, und plötzlich erschollen Menschenstimmen, Lachen und Musik. Lichtschein von Fackeln, deren rötlicher Bauch gegen den blauen Nachthimmel stieg, beleuchtete einen großen, abgegrenzten Kreis von Menschen, in deren Mitte dunkle Gestalten in bunten Gewändern sich bewegten; braune Männergesichter, schwarzes, wallendes Haar von Frauen, und ihre nackten, leuchtenden Arme tauchten im Lichtkreis auf und nieder, Trommelwirbel erklang, neue Lichtgarben schossen auf, und nun erblickte Christian sein Kind. Schwebend in der Luft, den Rücken ihm zugewandt, die Ärmchen wagerecht ausgestreckt, die Händchen wie kleine schwingende Flügel bewegend, schnellte es mit winzigen Schritten vorwärts auf einem Seil, das unsichtbar schien aus der Ferne. Sein lichtes Haupt war im aufstrebenden Schein der Fackeln golden von dem zarten Flaum des Haares wie von Federchen umspielt.

Der Zug rollte um eine Biegung, und das Bild entschwand. Nacht war wieder ringsum. Unbeweglich saß Christian da. Er vermochte nicht zu entscheiden, ob diese Erscheinung Wirklichkeit oder Traum war. Wie von weit her vernahm er den aufgerührten, dumpf andringenden Schlag seines Herzens, doch Gedanken und Gefühl waren wie gefesselt in ihm, niedergehalten von Verzweiflung in seiner Brust.

Er kam nach einer Stunde weiterer Fahrt an seinem Ziel an. Auf der Polizeiwache erfuhr er, daß die Angaben über die Reise der Zigeuner falsch gewesen seien und daß dieselben, statt hier, eine Stunde Bahnfahrt zurück in dem Orte A. lagerten und wahrscheinlich morgen in der entgegengesetzten Richtung, als angenommen war, weiter wandern würden. Doch sei gestern noch das Kind bei ihnen gesehen worden. Schwer, mühsam Worte findend, erzählte Christian, daß er ein Zigeunerlager, eine Stunde Bahnfahrt entfernt von hier, erblickt habe, mit einem seiltanzenden Kind, das dem seinen glich. Er hörte den Beschlüssen der Beamten zu, die dahin gingen, daß alle noch in dieser Nacht nach R. fuhren, um die Zigeuner dort am frühen Morgen zu erwarten. Er erlebte alles wie in einem Traum.

R. war ein kleiner Ort, eine Stunde vom Meere entfernt, mit einem ziemlich großen Marktplatz, mit Schule, Rathaus und Gefängnis. Die Polizei verteilte sich in zwei Posten. Der eine stellte sich am Eingang der Landstraße, die von A. herführte, auf, um so die ankommenden Zigeuner sofort einzufangen, ehe sie Gelegenheit hatten, in den Winkeln der Stadt sich zu verkriechen, die anderen bewachten den Ausgang der Stadt auf der entgegengesetzten Seite, auch wurden die umliegenden Felder und Wiesen unter Aufsicht gestellt, so daß die Bande keinen anderen, unverhofften Weg einschlagen konnte. Gegen Mittag, in der höchsten Glut, sah man auch den Zug, bestehend aus drei Wagen, sich heranbewegen. Jeder der Wagen war bespannt mit zwei starken Pferden, umsprungen von Hunden, begleitet von einem ziemlich hohen Troß von Erwachsenen und Kindern. An der Stadtgrenze wurde der Zug angehalten und sofort von Polizei umstellt. Die Wagen wurden an Ort und Stelle auf das gründlichste untersucht, doch keine Spur von dem Kinde war zu sehen. Dann wurde die Bande gezählt und in Haft genommen. Sie bestand aus dreizehn Erwachsenen und sieben Kindern im Alter von fünf bis dreizehn Jahren.

Es ergab sich, daß die Zigeuner gestern in dem Ort, den Christian B. durchfahren hatte, wohl eine Gauklervorstellung abgehalten hatten, daß aber das seiltanzende Kind, das er erblickte, ein als Mädchen verkleideter fünfjähriger Knabe gewesen war. Ein aus rosafarbenem Tarlatan bestehendes Kleidchen und rosa Schuhe fanden sich in dem Wagen vor. Auch legte der sehr zierlich gewachsene Knabe sofort eine Probe seines Könnens auf dem schnell aufgespannten Seile ab. Im blendenden Sonnenlicht sah Christian nahe vor sich die Bewegungen des Kindes, das leicht, aber mit gespanntester Aufmerksamkeit über das Seil lief. Nichts erinnerte ihn mehr an sein Kind, auch war das Gesicht des Knaben bleich und hager und von dunklen Strähnen umhangen. Nachdem also die Untersuchung der Wagen und Personen nichts ergab, wurde die ganze Bande ins Gefängnis transportiert, Pferde und Wagen auf Staatskosten untergestellt, die Zeugen, die das Kind bei den Banden gesehen haben wollten, sowie die gesamten Inhaftierten aus den anderen Orten herbeibeordert. Mit dem Verhör der gegenwärtigen Zigeuner wurde sofort begonnen. Alle leugneten, je ein fremdes Kind bei sich gehabt zu haben.

Am übernächsten Tag begannen die großen Verhöre mit den Zeugen im Beisein des Vaters Christian B. Es wurde festgestellt, daß die Bande um die in Betracht kommende Zeit in zwei großen Wagen gereist war, von denen der eine weiß, der andere schwarz überspannt war. In dem ersteren befanden sich zwei Brüder mit ihren Frauen und deren Kindern, in dem letzteren der Führer mit seiner Familie und einem taubstummen Zwerg. Die übrigen der Bande kamen und liefen zu, nächtigten im Freien, in Scheunen oder Gasthöfen, mußten nur für den Führer arbeiten und ihm das verdiente Geld abliefern und erhielten dann dafür am Ende einer Fahrt eine größere Entlohnung ausgezahlt. Die Behörde konnte nun also gut annehmen, daß das Kind von diesen frei und einzeln umherstreifenden Personen der Bande ergriffen, ihr zugeführt und dann, als sich die Zigeuner verfolgt fühlten, wieder weiterverschleppt wurde, da entgegen den bestimmten Zeugenaussagen nie eine Spur des Kindes von den Gendarmen bei den Zigeunern gefunden werden konnte. Die Protokolle der Zeugenaussagen, die mit größter Gewissenhaftigkeit aufgenommen wurden, ergaben folgendes Bild:

Der erste Zeuge, Handelsmann Schröder, sagte aus: »Am 1. Juli war ich bei dem Schneider Freese in L., als eine Zigeunerbande die Straße entlang kam. Bald darauf trat eine alte Zigeunerin zu uns herein und bat um Kleidungsstücke und Geld. Vor der Tür sah ich drei Kinder auf einem Karren sitzen, von denen mir besonders ein Mädchen auffiel, welches ein schottisches Kleid trug und hellblonde, lockige Haare hatte. Das Kind konnte drei bis fünf Jahre alt sein. Ich kann mit Bestimmtheit behaupten, daß ich heute unter den mir vorgestellten Kindern der Bande weder ein Mädchen mit so hellen Haaren noch mit einem solchen Kleid gesehen habe.«

Der zweite Zeuge, die Arztwitwe aus St, Frau Fischer, gab an:

»Am 4. Juli kam ich aus dem Walde bei Sch. von einem Spaziergang und sah in der Nähe des Gasthofes zum Krug eine Zigeunerbande lagern. Ich wollte mir die Gesellschaft näher ansehen und ging darauf los. Da fiel mir ein Wagen auf, mit einer schwarzen Plane überzogen und mit Türen versehen, von denen die eine geöffnet, die andere geschlossen war. Aus der geöffneten Tür wollte zweimal ein hübsches Kind mit hellblauen Augen und lockigen hellblonden Haaren heraussehen, wurde aber jedesmal von einem kleinen Knaben, der am Wagen stand, zurückgeschlagen und mit alten Sachen überworfen. Als die Bande später abfuhr, hörte ich ein Kind weinen und erfuhr dann von meiner Kusine Anna, die noch vorher am Wagen gestanden hatte, daß es dieses hübsche, blonde Kind gewesen sei. Das Kind mochte etwa drei bis vier Jahre alt sein. Mit der größten Bestimmtheit kann ich behaupten, daß dieses Kind unter der mir heute vorgestellten Zigeunerbande nicht vorhanden ist. Den Knaben, der am Wagen stand und das Kind zurückschlug, habe ich in dem mir vorgestellten sechsjährigen Franz R. sofort wiedererkannt.«

Angesichts der von dem Vater vorgelegten Photographie der Anna B. erklärten beide Zeugen: »Wir erkennen in dem Bilde mit voller Bestimmtheit dasjenige Kind wieder, welches wir bei den Zigeunern gesehen haben.«

Entgegen diesen Aussagen bestritten die Zigeuner hartnäckig, je ein fremdes Kind bei sich gehabt zu haben. Die Untersuchung wandte sich daher am nächsten Tage an die Kinder der Zigeuner und erhielt von ihnen, wenn auch nicht ohne Drohungen mit Schlägen, folgende Auskünfte.

Ein fünfjähriger Knabe erzählte: »Als wir in S. waren, habe ich an dem Wagen mit der schwarzen Plane gestanden. In dem Wagen hat ein kleines Mädchen gesessen, das etwas kleiner war als ich und ein etwas dickeres Gesicht gehabt hat. Es ist wahr, daß ich dieses Kind in den Wagen zurückgestoßen habe, während es den Kopf zum Fenster hinausgesteckt hat, und dann alte Kleider darüber gedeckt habe. Daß ich dies tun sollte, hat mir die Tante Rosa gesagt. Später hat das Kind im Wagen geschrien. Am Anfang unserer Reise war das Kind noch nicht bei uns. Gestern, als wir kamen, war es auch nicht mehr bei uns. Wer es fortgeschafft hat, weiß ich nicht!«

Ein etwa sechsjähriges Mädchen, mit reichen schwarzen Locken, antwortete auf die ihr vorgelegten Fragen, während es tanzend von einem Bein auf das andere sprang: »Wir sind schon viele Wochen auf Reisen. Das fremde Mädchen ist nicht immer bei uns gewesen. Sie war beinahe so groß wie mein Bruder. Ihre Haare waren weißer als meine Haare. Sie war auch dicker im Gesicht als ich. Gespielt hat sie gar nicht mit uns. Sie war unartig, weil sie immer weinte. Wie sie heißt, weiß ich nicht. Sie hat immer in dem schwarzen Wagen gesessen. Hier in R. ist sie noch nie gewesen. Sie ging einmal mit mir und meinem Bruder in ein Haus, woanders. Wir ließen uns Wasser geben. Sie ging in der Mitte, wir hatten uns alle drei angefaßt. Vor dem Hause saßen wir auf einer Karre. Später ging das Mädchen mit einer Frau fort und ist nicht wiedergekommen. Ich habe sie nie wiedergesehen.«

Plötzlich aber drängte sich ein zehnjähriger Knabe mit einem bleichen, gefalteten Gesicht vor und begann freiwillig zu erzählen: »An einem Montag, ich glaube, es war am Johannistag, gegen Mittag, da waren wir in einem Dorfe eingekehrt. In dem Dorfe befand sich auch ein Herrenhof. Ich und mein kleiner Bruder Wenzel sind dahin gegangen und haben da Wasser getrunken. Als wir wieder zu unserem Wagen kamen, kam meine Mutter mit einem fremden Kind. Das Kind hatte sie fest an ihrer Brust. Geschrien hat es nicht. Erst als sie mit ihm im Wagen war, hat es geschrien. Das Kind hatte so ein Kleid an wie auf dem Bild hier. Auf dem ganzen Weg hierher war das Kind im schwarzen Wagen. Abends ist die Mutter immer mit dem Kind fortgegangen, und am Morgen hat sie erst wieder herangefunden. Wenn sie mit dem Kinde fortging, war stets die Pauline bei ihr. Einmal, vor drei Tagen, als wir schlafen gehen wollten, habe ich gesehen, wie meine Mutter das Mädchen in ein Laken gewickelt hat und vor sich genommen. Sie ist dann mit der Pauline zum Dorf hinausgegangen. Am anderen Morgen, als ich schon auf war und das Pferd auch schon gefüttert war, kam meine Mutter mit der Pauline zurück, aber sie hatte das Kind nicht mehr. Sie hat dann mit dem Vater gesprochen, sie hat das Kind im Walde umgebracht. Sie hat ihm die Kehle zugedrückt. Der Vater hat aber streng verboten, etwas davon zu sagen.«

Mit diesen, alle Anwesenden aufs tiefste überraschenden Aussagen der Kinder trat man nun wieder vor die Erwachsenen und las ihnen die Protokolle vor. Die Männer blieben auch jetzt noch völlig ruhig und schweigend, zuckten trotzig die Achseln. Dagegen gerieten die Frauen, und besonders die beiden von den Kindern beschuldigten, die Rosa Slicha und die Pauline S., in Unruhe, die sich steigerte, als man ihnen einerseits mit Prügeln drohte und andererseits ihnen Straflosigkeit und sogar einen Teil der ausgesetzten Belohnung versprach, falls sie bekennen wollten, wo das bei ihnen erblickte Kind geblieben sei und wenn es das von den Behörden und dem anwesenden Vater gesuchte sei. Aus leise zwischen ihnen gemurmelten, unverständlichen Worten entbrannte plötzlich ein lauter Streit, der sich schließlich auf die beiden beschuldigten Frauen konzentrierte, die sich gegenseitig laut und kreischend Schimpfworte zuschrien, zuletzt mit Schlägen aneinandergerieten, sich an den Haaren rissen und an den Kleidern, so daß zuletzt die Mutter des Knaben, der die Mordanklage ausgesprochen hatte, mit zerfetzter Bluse dastand, ihre große braune Brust völlig entblößt. Die jungen Zigeuner lachten, aber der Führer trat zwischen die Frauen, riß sie auseinander und zischte ihnen ein leises Wort zu, auf das sie beide sofort verstummten und auf die Fragen des Kommissars nicht mehr zu antworten wagten.

Die ganze Bande wurde abgeführt und das Verhör am nächsten Tage erst fortgesetzt. Die Männer leugneten abermals, ein Kind bei sich gehabt zu haben, die Frauen schwiegen. Zum Schein brach der Kommissar das Verhör ab, und als der Führer der Bande sagte, man würde sie wohl nun bald freilassen, da ihnen doch nichts Unrechtes nachzuweisen sei, antwortete er nicht und zuckte in der gleichen Weise wie vorher die Zigeuner die Achseln. Man behielt die Bande weitere drei Tage in Haft, die man nach Möglichkeit verschärfte, und gab ihnen Spione in die Zellen, bewachte genau ihre Gespräche und Bewegungen. Doch die Zigeuner verhielten sich ruhig, schliefen meist, sangen leise in Gruppen, die Mütter spielten mit ihren Kindern, nichts Verdächtiges oder Erklärendes wurde gesprochen. Auch stellten die Eltern die Kinder wegen der furchtbaren Aussagen nicht zur Rede. Endlich führte man sie wieder vor, und der Kommissar ermahnte sie eindringlich, das Leugnen aufzugeben, da sie doch auf diese Weise niemals weiterkommen würden. Sie sahen sich untereinander an, es war, als ob sie sich ohne Worte berieten. Dann begannen sie zögernd und vereinzelt zu sprechen, und zwar die jungen Männer zuerst. Sie gaben plötzlich zu, daß ein fremdes Kind zeitweise bei ihnen sich aufgehalten habe, und schließlich bekannten sie sogar, daß sie in dem ihnen vorgelegten Bild der Anna B. dasselbe Kind wiedererkannten. Dagegen verweigerten sie immer noch die Auskunft über das Verschwinden des Kindes und behaupteten, daß die Weiber das Kind unter sich gehalten und dieses vielleicht auch fortgebracht hätten, daß sie sich aber darum niemals gekümmert hätten.

An Hand dieser Geständnisse wurden nun die beiden durch den kleinen Knaben des Mordes bezichtigten Frauen ins Verhör genommen. Sie brachen in Schluchzen und Weinen aus und sprachen lange Zeit nichts. Erst als sie keine neuen Tränen mehr fanden, begannen sie zu erzählen. Sie gaben den Mord zu, doch eine beschuldigte die andere der Ausführung. Mit auffallender Übereinstimmung gaben sie beide die gleichen Erklärungen ab. Die Mutter des Knaben sprach zuletzt.

»Die von meinem Sohne gemachte Aussage ist wahr. Die Aussage der Pauline ist aber unwahr. Wir sind am 24. Juni in dem Forst gewesen, der nach dem Dorfe Treuen führt. Dort war ein Herrenhof. Ich schlich dahin und drehte mich in dem Hofe herum. Nach dem Mittagessen kam ein kleines Mädchen zu mir heran und sagte zu mir einige Worte. Ich konnte es nicht verstehen. Es war ein sehr schönes Kind mit blauen Augen und goldenen Haaren. Es ist dasselbe Kind, welches mir hier in der Photographie gezeigt wird. Ich habe keine Mädchen, nur zwei Söhne. Ich habe das Mädchen an mich genommen und bin nach dem Wald gelaufen zu unserem Wagen. Wir waren aber geteilt, nur der Wagen mit der weißen Plane war bei uns. Ich kroch sofort mit dem Kind hinein. Geschrien hat es nicht. Später, als wir mit dem schwarzen Wagen wieder zusammenkamen, habe ich meinem Mann das Kind gezeigt Er hat mich geschlagen, ich habe noch die Zeichen am Leibe. Wir haben dann das Kind in den schwarzen Wagen getan. Am 4. Juli langten wir in Sch. an, wo uns auch die gnädige Frau (die Zeugin Frau Dr. Fischer) besuchte, und wo sie das Kind gesehen hat. Die Aussagen meines Neffen Franz sind richtig. Ich hatte ihm gesagt, er sollte das Kind, wenn es aus dem Wagen heraussieht, zurückstoßen und alte Kleider auf dasselbe decken. Am Abend nun kam die Pauline und erzählte, daß wir wegen des Kindes von Gendarmen verfolgt würden. Da dachte ich, man muß das Kind fortbringen. In der Nacht, es kann wohl um 10 Uhr gewesen sein, habe ich das Kind aus dem Wagen genommen und bin mit der Pauline in den Wald gegangen. Erst habe ich das Kind getragen, dann die Pauline. Wir gingen erst zusammen in den Wald hinein. Etwa hundert Schritte. Dann sagte die Pauline, ich solle zurückbleiben. Wie sie weitergegangen war, hörte ich nach einer Weile einen jämmerlichen Schrei. Dann war es wieder still. Dann kam die Pauline zurück ohne das Kind. Ich habe mir gedacht, daß sie das Kind umgebracht hat, ich habe aber doch gefragt: »Wo ist das Kind?« Sie hat gesagt: »Es ist tot.«

Diese Geständnisse wurden vor allen Beteiligten verlesen. Während die Zigeuner stumm, teilnahmslos und sichtbar erschöpft durch die Haft und die ohne Unterlaß auf sie niederprasselnden Fragen und Verhöre, Drohungen und Versprechungen dastanden, machte sich plötzlich der taubstumme Zwerg durch heftige Gebärden und Zeichen bemerkbar. Man fragte in der Zeichensprache, die er aber nicht verstand. Als man ihm das Bild des Kindes vorzeigte, legte er aber heftige und deutliche Zeichen der Verneinung ab, deutete auf die beiden Frauen und schüttelte wiederum verneinend Kopf und Hände, geriet dabei mehr und mehr in große Aufregung, sprang ungeduldig von einem Bein auf das andere und rollte seine großen Augen in dem kleinen Kopf. Einer der beiden Polizisten mußte lachen. Die Protokolle wurden nun geschlossen und die Zigeuner abgeführt.

Am nächsten Tage reisten zwei Polizisten in Begleitung des Kommissars und des Vaters Christian B. mit den beiden des Mordes verdächtigten Frauen zurück nach Sch. Dort wurden die Frauen zuerst dem Wirt im Gasthof »Krug« vorgestellt, der die beiden sofort wiedererkannte und weiterhin bezeugte: »Ich habe ausdrücklich gesehen, wie die mir hier vorgestellte Rosalie am 4. Juli abends mit einem Kind auf dem Arm über meinen Hof hinaus auf die Straße ging. Die Pauline habe ich nicht gesehen.«

Nunmehr begann die Suche nach der angeblich im Walde verscharrten Leiche des Kindes. Die Frauen wurden nach dem nahen Walde geführt, die ganze, von ihnen geschilderte Szene des Mordes an dem Kinde sollte wiederholt werden. Doch sofort gerieten die beiden Frauen wieder in Streit, jede beschuldigte die andere, das Kind am Rande des Waldes auf die Arme genommen zu haben und mit ihm in das Dickicht gegangen zu sein. Dann wieder, als sie voneinander getrennt vernommen wurden, gestand die Rosalie Slicha, das Kind in einen kleinen Fluß auf der anderen Seite der Waldlichtung versenkt zu haben, während die Pauline St. angab, das Kind an der Stelle, wo es die Rosalia Slicha ermordet habe liegen lassen, am nächsten Tage heimlich aufgesucht zu haben und ihm mittels eines Steckens unter einer großen Tanne ein Grab gegraben, die Leiche mit Moos bedeckt und das Grab mit Glockenblumen bepflanzt zu haben. Eine volle Woche wurde auf das genaueste nach der Leiche des Kindes gesucht und geforscht, ohne daß eine Spur zu finden war.

Christian B. hatte während der ganzen Zeit in einem einfachen Gasthofe gewohnt. Seine Stube im ersten Stock des Hauses war klein, eng, grau getüncht, feucht und kalt trotz der ununterbrochen herrschenden Glut der Sommertage. Durch das Fenster sah er auf einen kleinen, alten Marktplatz, der von düsteren Häusern aus rotem Sandstein umstanden war, die, angeschwärzt von Schmutz und Regen der Zeit, die Farbe vertrockneten Blutes bekommen hatten. Der Gasthof war still, von Fremden fast nie besucht, abends nur war die Gaststube dicht besetzt von lärmenden Gästen, und in den späteren Stunden trieften die Tische von vergossenem Bier und Branntwein, wenn die unsichere Hand der Trinker das gefüllte Glas nicht mehr zum Munde heben konnte. Die Stadt war klein, doch Christians müde Schritte kamen nie aus den engen Straßen heraus, die mit harten, spitzen Steinen bepflastert, seinen wandernden Fuß feindlich zurückstießen. Winzige Häuser in langen Reihen standen immer vor seinen Blicken. Fest an die Erde gedrückt, verbargen sie doch den Himmel. Freie Ebene, weiche gütige Erde unter seinem Fuß, gewölbter Himmel Tag und Nacht über seinem Haupt, alles war verschwunden. Die Arbeit der Hände, die Liebe des Herzens, Weib und Kind, das Unglück, der Schlag Gottes, der Schmerz der Seele und die Klarheit des Todes, die er schon nahe gefühlt, alles war versunken, aufgezehrt von Enge, Fremde, Verwirrung, von dem trügerischen Schein der Wirklichkeit, von dem höhnischen Angesicht der Tatsachen. Er fuhr mit den Polizisten umher, war bei den Verhören der Zigeuner dabei, immer wieder breitete er die kleine Taille des Kleides aus, zeigte die Bilder des Kindes vor, richtete Fragen an die Zeugen, machte ihnen die Bewegungen des Kindes, wie es den Kopf zurückwarf, wie es lachte, wie es tanzend ging, mit seinem erbleichten Haupt, mit seiner erloschenen Stimme und seinen schweren, müden Schritten vor. Abends ging er in die Gaststube, die heiß und von Tabaksrauch durchwölkt war, setzte sich zu den fremden, lärmenden Menschen. Er, der sonst so Stumme, sprach mit ihnen, kritisierte den Gang der Verhandlungen, beschimpfte die Behörden, nannte den »Fall B.« den Prüfstein eines Rechtsstaates, ein Ereignis, ebenso wichtig wie Sieg und Einzug in Paris. Er lebte mehr als wie im Traum, er lebte während dieser Zeit nur noch im Rausch. Er trank vom frühen Morgen an. Im Rausch glaubte er, handelte er, konnte er sich noch erinnern, im Rausch baute er sich auf den leeren, nur noch Gott und dem Tod bereiten Raum seiner Seele nochmals auf: sein Heim, Gut und Geld, Weib und Kinder, Unglück und Strafe, Recht und Rache, Ordnung und Hoffnung. Sein Gesicht war gerötet, jugendlich begann es zu leuchten unter den weißen Haaren, die schweren Lider waren aufgehoben von dem betäubten Blick der Augen, die matt funkelten unter den Strömen des berauschten Blutes. Nur seine Stirn blieb unberührt von Rausch und Verwirrung, immer klarer, fast leuchtend stand sie unter den wirren weißen Haaren über den rauschglitzernden Augen, ein Zeichen des Wachenden über dem Träumenden.

Am Wirtshaustisch, tief im Rausch, die halbgeleerte Flasche vor sich, schrieb er mit klarer, sauberer Schrift seinem Notar um Geld, berichtete dem Wirtschafter Blank, daß wahrscheinlich eine Kriminalkommission nach Treuen käme, er solle deren Führung übernehmen und die Aussagen des Gesindes überwachen, befahl ihm, mit dem Schnitt des Roggens zu beginnen und denselben in Scheune vier, Fach zehn einzuscheuern. An Frau und Kinder schrieb er kein Wort. Er verlangte neuen Schnaps. Weich und schnell klopfte sein Herz, leicht, doch ohne zu zittern, bewegten sich seine Hände. Seine Zähne in dem offen atmenden Mund schimmerten durch seinen verwirrten Bart hindurch, und seine Augen glänzten entblößt von ihren Lidern aus dem geröteten Gesicht. Nur seine Stirn war bleich und kühl, unter den weißen Haaren tropften Schweißperlen langsam über sie hin, sammelten sich in den dichten Augenbrauen zu kleinen Bächen, die dann schnell das rote Gesicht entlang liefen und im Halse verrannen. Es war, als weine seine Stirn, indessen sein Mund im Rausche lächelnd geöffnet war. Er ergriff einen neuen Bogen Papier, und mit feinen, festen Linien und Punkten zeichnete er einen Plan der Domäne Treuen mit Haus, Hof, Ställen und Scheunen, Brunnen, Teichen, Gärten, Feldern, Wiesen, mit der Landstraße und dem Forst auf. Wieder trank er, und noch tiefer versinkend in Rausch, entwarf er neue Plakate mit der Bekanntmachung und erhöhte die Summe der Belohnung auf tausend Taler. Es war zwei Uhr nachts. Er war allein im Gastzimmer. Er erhob sich, nahm die Papiere und ging aufrecht, doch mit bleischweren Füßen die Treppe empor in sein Zimmer und warf sich in den Kleidern über das Bett. Er schlief ein. Er träumte, er sah das Zimmer vor sich, er lag im Bett gegenüber der Tür, die Tür aber öffnete sich, von draußen fiel mattes Licht herein, und im Halbdunkel erschien ein Kind, ein Knabe, bleichen Angesichts, mit langen, weißen Locken, mit traurig verkrümmtem Mund und gesenkten Augen, und schritt langsam auf ihn zu. Mit einem gewaltig aus dem Herzen aufspringenden Gefühl von Liebe und Schmerz zugleich erkannte er sich selbst in der Erscheinung. Das Kind stand still vor ihm, und als er eben noch in seinem Gesicht forschen wollte, versank es plötzlich in sich selbst, verwehte, und am Boden lag an der Stelle, wo es gestanden hatte, ein kleiner Haufen Schnee, aus dem ein schmaler, weißer Lichtstreifen aufstieg und mit eisiger Kälte ihm ins Gesicht strahlte. Er erwachte, die Hände vor das Gesicht gehalten. Er blickte um sich, es war völlige, schwarze Finsternis um ihn, durch dichte Vorhänge waren die Fenster verhangen. Aber in der Finsternis wehte noch der eisige Hauch des Lichtstrahles im Traum. Er sprang aus dem Bett und zur Tür und öffnete sie schnell. Vom Korridor kam matter Schein einer Lampe und schwüle, dunstige Glut der Sommernacht herein. Auf dem Boden lagen die Papiere, die er mit Schrift und Zeichen bedeckt hatte, und schimmerten weiß. Er hob sie auf und verbarg sie zwischen den Kleidern, die er nun ablegte, und schlief dann bis zum nächsten Mittag. Er ließ sich nie mehr unberauscht, denn dann war ihm alles klar, logisch und begreiflich. Er wohnte täglich den Gerichtsverhandlungen bei, feuerte die Kommissäre an, verhandelte mit Agenten und Spionen, unterhielt sich mit den Redakteuren der Zeitungen, machte Reisen, wenn es galt, eine neue Spur des Kindes zu verfolgen. An die Heimkehr dachte er nicht. Er erhielt die Briefe seines Wirtschafters und die seiner Schwester. Nur selten gab er einen Bescheid oder einen Befehl an den Wirtschafter zurück, an Frau und Schwester aber schrieb er niemals.

Die Anklage auf Mord brach zusammen. Trotz wiederholten, genauesten Forschens konnten keine Spuren einer Leiche gefunden werden, dagegen liefen neue Meldungen ein, nach denen das Kind wieder gesehen worden war. Das Gericht gelangte nun zu der Annahme, daß das Kind von dem fehlenden Mitglied der Zigeunerbande, dem alten Nikolaus, fortgebracht und entweder nachträglich ermordet oder über die Grenze geschafft worden sei. Nun setzte eine zweite, im Eifer auf das höchste gesteigerte Jagd nach dem Kinde ein. Aufgefordert von der Justiz, griffen in weitestem Maße Polizei und die gesamte innere Verwaltung des Landes helfend ein. Das Ministerium des Innern entsandte besondere Polizeibeamte, gab die Spalten sämtlicher Regierungsblätter zu den umfangreichsten Publikationen frei, sogar eine allgemeine Landesvisitation wurde in Erwägung gezogen und nur wegen deren Unzweckmäßigkeit unterlassen. Statt dessen erging an sämtliche Landräte und Amtshauptleute des Reiches eine dringliche Mahnung zur äußersten Aufmerksamkeit.

Eine ähnliche Verfügung wurde auf Anregung eines anonymen Einsenders von Seiten des Generalpostamtes an sämtliche Landbriefträger erlassen.

Das auswärtige Ministerium setzte sich jetzt mit den Regierungen der übrigen deutschen Staaten und denen der angrenzenden Länder in Verbindung und erhielt nicht nur bereitwilligste Zusage der Hilfe, sondern diese Regierungen ergriffen auch in der Tat energische Maßnahmen gegen Vagabunden, bei denen man das verlorene Kind vermuten durfte.

Zum dritten Male erhöhte der Vater Christian B. die Belohnung. Er setzte zweitausend Taler aus, und für das Auffinden der Leiche eine solche von tausend Talern. Täglich liefen aus den verschiedensten Gegenden Meldungen ein, daß das Kind gesehen worden sei. Alle Spuren wurden auf das genaueste verfolgt. Unaufhörlich reiste der Vater von Ort zu Ort, um bald hier, bald dort aufgefundene Kinder, die seiner Tochter ähnlich sehen sollten, zu rekognoszieren. Neunzig Personen wurden nach und nach verhaftet und monatelang festgehalten.

Blieben schon die Verfolgungen aller dieser Spuren ergebnislos, so fiel überhaupt der ganze, mit so ungeheurem Opfer an Geld, Eifer und Fleiß geführte Prozeß endlich zusammen, als Mitte November in einem ungarischen Dorf der vermißte Nikolaus aufgefunden und ausgeliefert wurde. Es war ein durch Trunksucht völlig zerrütteter Mensch, starrend vor Schmutz und Ungeziefer, von dem sogar sein grauer struppiger Bart wimmelte, und hatte eine eiternde Wunde am Hals. Er sprach nur stammelnd, aber bereitwillig und freundlich. Es wurde ihm der ganze Gang der Verhandlung und der Inhalt der Protokolle erzählt, er schien auch alles vollständig zu begreifen, erklärte aber, nie ein Kind mit sich genommen zu haben, und fügte mit rauher Stimme, aber gutmütig lächelnd hinzu: »Bin kein Väterchen!« Er konnte auch ziemlich genau die Orte, an denen er sich aufgehalten, angeben und verschaffte sich ein sicheres Alibi. Als er der Zigeunerbande Slicha vorgestellt wurde, die ihn auch sofort anerkannte, fiel er dem taubstummen Zwerg um den Hals, und beide umarmten und küßten sich und machten in einer Zeichensprache höhnische Grimassen gegen die übrigen Mitglieder der Truppe.

Am 20. November wurden die Akten über die Verhandlungen geschlossen. Als feststehend und erwiesen wurde immer noch angenommen, daß bei der Zigeunerbande Slicha laut Zeugen in den verschiedenen Orten in der Zeit vom 1. bis 8. Juli ein blondes Kind im Alter von vier Jahren vorhanden war, welches in der Zeit von 6 bis 10 Uhr abends am 8. Juli spurlos verschwunden ist

Der Richter, der mit übermenschlichen Kräften die Untersuchungen und Verhöre geleitet hatte, brach schwer erkrankt zusammen.

Am 23. November reiste auch der Vater Christian B. wieder heim. Er hatte die Nacht wachend und trinkend verbracht, berauscht trat er im Morgengrauen die Reise an. In der Bahn schlief er. Er kam nachts in S. an, wo der Wirtschafter mit dem Schlitten auf ihn wartete. Kein Wort wurde gesprochen. Sie fuhren über den ersten Schnee und Frost nach Treuen. Langsam wich Christians Rausch. Er erkannte die Wege, seine Felder, seine Erde, die jetzt im Winter wieder heller schimmerte als der dunkle Himmel, der Himmel über seinem Leben. Im Hofe hielten sie. Christian trat schnell in seine Stube ein, schloß fest die Tür hinter sich zu und antwortete auf Rufen und Klopfen nicht. Im Dunkeln sah er den Raum, die Möbel, durchs Fenster schimmerte es weiß, doch kein Licht, nur Schein von Schnee, und während er in tiefen Zügen die letzte Spur des Rausches aus seiner Brust atmete, erinnerte er sich plötzlich der Erscheinung seines Kindes, wie er es erblickt hatte, durch das Fenster des vorbeirollenden Eisenbahnwagens, wie es in der Luft schwebte, in der Dämmerung der Sommernacht von Fackelschein und Musik umbraust. Er tastete sich zum Fenster und sank in die Knie. Er schloß die Augen und ruhte. Er lächelte.

Über Rausch und verwirrenden Traum der letzten Wochen fühlte er den Frieden der Verzweiflung und die Klarheit, die nur im Tode noch war, wieder einziehen in seine Seele.


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