Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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Nun schien das Leben auf dem Hof beruhigt. Etwas von der alten Ordnung und Gleichmäßigkeit kehrte wieder und schloß sich über das Fehlen all der Menschen, die nun schon fortgegangen waren, wie neue, zarte Haut über einer Wunde. Diese große Beruhigung ging hauptsächlich von dem Herrn aus, der seine alte Tatkraft wiedergewonnen zu haben schien, und überall in Haus und Hof, selbst in der verwaisten Küche und in dem Milchkeller mit dem früheren Fleiß und der weisen Fürsorge allen voran schaltete.

Doch nicht mehr mit dem gleichen Segen. Unter den Kühen, deren einstmals so stattliche Herde schon zusammengeschrumpft war, brach eine Seuche aus und raffte die Tiere hin, ohne daß Rettung gebracht werden konnte. Fast jeden Tag mußte der große Wagen angespannt werden, der die verendeten Tiere in die Stadt zur Abdeckerei brachte. Da das Wetter ununterbrochen warm und trocken blieb, kein Regen fiel, kein Nachtfrost mehr kam, konnten wenigstens schnell neue, leichte Viehbaracken errichtet und die alten Ställe mit Schwefel ausgebrannt, die Wände geweißt, der Boden mit neuer Erde aufgefüllt werden. Doch kaum war es gelungen, auf diese Weise die Krankheit zum Stillstand zu bringen, mußte eines der schönsten und stärksten Pferde, ein Zuchthengst, erschossen werden, der, zum erstenmal wieder zur Weide geführt, im Hofe vor einem anrollenden Dungfaß scheute, sich losriß und gegen eine aufrecht gelehnte Egge so unglücklich anstürmte, daß er vom Hals bis zum Bauch förmlich aufgerissen wurde. Unversehrt waren nur bis jetzt die Schafherden geblieben, die Wolle, dicht und lang, versprach eine gute Schur. Durch die frühe, ungewöhnliche Wärme wuchs und sproßte alles mit Macht. Im Nu war die Wintersaat bis zu einer halben Elle aufgeschossen, ehe noch die anderen Felder fertig gedüngt und bestellt waren. Zu Ostern schon standen die Bäume in voller Blüte. Doch kein Regen fiel. Anfang Mai war die Hitze schon so groß wie sonst zur Erntezeit. Die Saat war hoch im Halme, doch die Ähren setzten spärlich an. Als auch im Mai kein Regen fiel, begannen die Wiesen zu trocknen, da der kleine Bach, der die gut verteilte Bewässerung speiste, selbst immer weniger Wasser mit sich führte. Auch der Wasserspiegel des Teiches begann zu sinken. Die Einnahmen des Hauses waren gegen das Vorjahr um die Hälfte zurückgegangen, und doch waren jetzt auch noch die Zinsen für das geliehene Geld aufzubringen, außerdem das Schul- und Pflegegeld für die Kinder in der Stadt und die noch immer laufenden Ausgaben für die Nachforschungen nach dem Kinde Anna. Um immer wieder Bargeld zu gewinnen, mußte von neuem die Herde als Schlachtvieh verkauft und das Nutzholz gefällt werden, soweit es nur in der Befugnis der Pacht stand. Es wurde gearbeitet wie früher, das Gesinde hatte alles vergessen, es wurde gelacht, geruht und gefeiert wie früher, die Arbeit gelohnt, aber ihre Früchte vergingen. Doch nur der Herr merkte das. Er versuchte sich zu wehren, hielt alles fest in der Hand, ließ nicht nach an Mühe und Arbeit, um der Kinder willen. Er arbeitete selbst mit von früh bis spät, er gönnte sich nicht mehr als vier Stunden Schlaf täglich. Er war hager geworden, sein Gesicht abgemagert, es war jetzt gebräunt unter dem gebleichten Haar, wetterhart unter der breiten, hohen, leuchtend geglätteten Stirn. Er ging nie unter Menschen, nie mehr in die Kirche, das Grab der Frau ließ er von Emma betreuen und von seiner Schwester.

Als im Juni Hitze und Trockenheit noch anhielt, sah man, daß es in der ganzen Gemarkung Mißernte geben würde.

»Strohernte, Herr!« sagte in Treuen der Wirtschafter zu Christian und deutete traurig auf die weiten, grauen Flächen der Felder, auf die braunen, jämmerlichen Wiesen. Christian dachte daran, daß er einmal schon um den Kaufpreis für Treuen gehandelt hatte, und nun würde er im Herbst kaum die Pacht zahlen können. Es wurde immer schwerer, die Tiere zu tränken, es kam Wassernot. Die Teiche verdunsteten und enthielten nur noch trüben Schlamm, der Brunnen drohte zu versiegen, in großen Tonnen wurde Wasser aus dem Forst geholt, wo eine versteckte Quelle noch rieselte. Mitte Juni war schon alles, Menschen, Tiere und Pflanzen, vollständig durch die Tag und Nacht andauernde trockene Hitze erschöpft. Das Lachen und die wiedergewonnene Sorglosigkeit waren auch schon verschwunden, abends lagerten sich alle auf die Treppe, die in den Keller führte, um etwas Kühlung zu genießen. Nur Christian litt nichts, denn sein Körper war fühllos geworden. Unermüdlich arbeitete er weiter von früh bis spät, und seine große Sorge war, Feuer, das leicht in den ausgetrockneten Ställen und Gebäuden entstehen konnte, zu verhüten.

Der Termin kam, wo Christian die schon im voraus verkaufte Ernte des vorigen Jahres liefern sollte. Diese Schuld bedeutete für ihn einen großen Verlust, da die vorjährigen Preise niedrig, die diesjährigen aber, der bevorstehenden Mißernte wegen, hoch gestiegen waren. Er ließ nun in der zweiten Woche im Juni die Scheune Nummer vier öffnen, da zuerst der darin eingescheuerte Roggen ausgedroschen werden sollte. Zum Dreschen wurden bestimmt: Anton, der junge Knecht, der jetzt die Stelle von Fritz einnahm, vier Arbeiter und die junge Magd Paula zum Zureichen und Aufbinden der Garben. Wegen der großen Hitze sollte morgens von drei bis acht und abends noch einmal von acht bis zehn Uhr gearbeitet werden.

Im grauen Morgendämmer schritten die sechs mit dem Wirtschafter über den Hof auf die Scheune zu, um das Tor zu öffnen. Es war noch völlig still in der Natur, die Vögel schliefen, und am silbernen Himmel standen noch einzelne, ferne kleine Sterne. Der Wirtschafter wählte den Schlüssel aus dem großen Bund hervor und öffnete das Schloß, das den schweren Hebebaum an die Wand schmiedete. Er erinnerte sich dabei, wie schwer das Tor im vergangenen Sommer zugegangen war, und sagte, ein wenig sein zerknittertes Bauerngesicht zum Lachen verziehend: »Werden doch keinen Ochsen vorspannen müssen, um aufzukriegen!« Doch kaum war der Hebebaum entfernt und die Pfosten der übereinandergreifenden Flügel leicht angezogen, so stürmten die ausgetrockneten Tore auseinander, kreisten im Schwung vor und dann weit zurück zur Seite, bis nahe zu den Wänden, wo sie, zitternd in ihren ganzen Flächen, stehenblieben. Den jungen Knecht Anton hatte der rechte Flügel in den Rücken gestoßen, so daß er hart zu Boden stürzte. Ihnen allen war es, als hätte unsichtbarer Druck von innen her voller Gewalt gelauert, um endlich das Tor aufzusprengen. Sie griffen zögernd zu, um die Flügel nun ganz zurückzuschlagen, und traten dann in die weite, dunkle Öffnung ein. Drei Meter im Geviert war ungefähr die Tenne noch frei zum Dreschen, dann erhoben sich ringsum die dicken Mauern der Garben. Ein erstickender Dunst von Hitze, ausgetrocknetem Stroh und Moder entwich in den ebenfalls schon warmen Sommermorgen. Aufseufzend griffen die Männer nach den Dreschflegeln, und Paula band die ersten Garben los. Der Wirtschafter kehrte aufatmend in den Hof zurück, und bald hörte man, und von nun an alle Tage hindurch, getreulich den wohl etwas langsamen, aber steten Takt der Dreschflegel.

Dann kam die Wiederkehr des Geburtstages der kleinen Anna. Es war an einem Sonnabend. Der Herr hatte schon mittags Feierabend geboten, die Hitze drückte sehr und auch die Erinnerung an das Unglück.

Mittags war Klara gekommen, um bei dem Bruder zu sein, und überredete ihn, in diesen Tagen mit zu ihr, nach Hause, zu kommen. Christian willigte ein. Er hatte geglaubt, auch die Erinnerungen in die Tiefe seines von Schmerzen wie ausgehöhlten Herzens versenken zu können, doch jetzt packte ihn Grauen, jetzt trieb es ihn zur Flucht. Er rief Blank und Emma zu sich in die Stube und gab an, daß morgen, Sonntag, alle zur Kirche fahren sollten, und wer wolle, könne nachmittags ausbleiben, und er verteilte auch einige Zehrpfennige. Nur solle Emma nach dem Mittag das Feuer gut löschen im Herde und es am Abend nicht wieder entzünden, kalte Milch und Brot sei zum Essen genug da. Emma, seit der Abreise der Kinder sehr verändert, erbleichte, zitterte in Furcht, richtete den flackernden Blick auf den Herrn und flehte: »Herr, geht nicht fort, es sind böse Tage, ich fürchte mich, bleibt hier, Herr, bleibt bei uns«, und sie legte am Ende der Rede mit verzweifelter Gebärde ihre Hände über das Gesicht.

Erschüttert, unschlüssig sah der Herr Emma an. Klara trat auf Emma zu. »Was hast du? Fehlt dir der Sohn? Du hast wohl Sehnsucht?«

Emma ließ die Hände sinken, unruhvoll, als flüchte sie vor sich selbst mit ihren Blicken, wanderten ihre Augen hin und her. »Nein, Frau, ich weiß nicht, was das ist, ich habe keine Sehnsucht nach ihm. Nur Angst habe ich. Denn, wißt Ihr, liebe Frau, zweimal gehen die Kinder von uns, wenn sie geboren werden und wenn sie unrein werden. Wenn sie böse werden, dann gehen sie aus dem Herzen fort, die Mutter sehnt sich nicht nach ihnen.«

»Du versündigst dich!« sagte Klara entsetzt. »Was hat er denn getan?«

»Er hat nichts getan, Frau, gar nichts, aber es ist besser, man hat kein Kind.«

Klara trat dicht zu Emma heran, rüttelte sie an den Schultern. »Emma, was hast du? Vertrau es mir. Ich war doch dabei, wie das Kind kam, weißt du es noch? Sage mir alles.«

»Es ist nichts, liebe, gute Frau. Es ist nichts. Er ist doch brav und gut und fleißig. Das bin nur ich.«

»Es ist Sünde, wie du sprichst.«

»Ihr habt keine Kinder, Frau, Ihr wißt nicht, was da alles kommen kann.«

Glühende Röte überzog jetzt Emmas Gesicht, sie wandte sich zur Tür. »Herr, bitte, kommt mit, ich brauche Fett und Mehl aus der Kammer für den Sonntag.« Und als der Herr ihr folgte, ging sie stets vor ihm her und zeigte ihm ihr Gesicht auch nicht, wenn sie ihn für alles genau um Anweisung fragte.

Christian erschütterte tief ihr verstörtes Wesen. Warum muß es auch noch sie ergreifen, dachte er, und um ihretwillen wäre er jetzt gern zu Hause geblieben. Doch als er neben ihr die von Sonnenlicht durchflutete Küche durchschritt, auf dem Herd den schweren, roten Saft der Beeren in den Töpfen brodeln sah, stieg die Erinnerung auf an Weib und Kind, wie sie hier, innig im Spiel verschlungen, übermütig sich im Kreise gedreht hatten, wie in unbeschreiblich süßem Doppelklang ihr Lachen ertönt war, und es hetzte ihn von neuem mit Gewalt zur Flucht. Mit einer Eile, mit einer Ungeduld, die man noch nie hatte an ihm bemerken können, befahl er, den Wagen fertigzumachen, und trieb zum Aufbruch. Nach einer halben Stunde schon fuhr er mit der Schwester davon.

Die zurückblieben, hockten sich zusammen in dem kühlen Hausflur auf die Steinfliesen und auf die ersten Stufen der Kellertreppe nieder. So genossen sie den frühen Feierabend. Sie sprachen von der kleinen Anna, zum erstenmal wieder nach langer Zeit, doch so, als ob sie längst tot wäre, ermordet von den Zigeunern. Die Mägde begannen zu schluchzen und wollten erzählt haben, wie und wo das Kind begraben sei, und wollten nicht glauben, daß man es nirgends und nirgends finden könne. Die Männer verhandelten, scheinbar gänzlich unbewegt, darüber, ob der Herr nicht von Staats wegen Schadenersatz haben müsse, dafür, daß die Gerichte den Prozeß mit den Zigeunern aufgelassen und abgebrochen hätten, wo es doch Zeugen und Geständnisse genug gab, daß das Kind bei den Zigeunern gewesen war. Und man merke doch, wie die schöne Wirtschaft hier zugrunde ginge, und es sei eine Schande, wenn das Kind eines Herrn und steuerzahlenden Bauern einfach von der Erde verschwinden könne.

»Der Herr ist zu gut, wenn er nur das Kind wiederbekommen hätte, er hätte sein letztes Hemd gegeben«, sagte Blank. Alle nickten stumm. Emma kam und brachte das Vesper, einen großen Eimer saurer Milch, Becher für alle und geschnittenes Brot. Sie setzte sich zu ihnen, niemand wollte allein sein. »Wir haben es schön da,« sagte sie, »unser Herr ist gut. Er hätte kein solches Unglück verdient.« Wieder nickten alle, und es blieb eine Weile still. Plötzlich ertönte die heisere Stimme eines Greises, eines alten Tagelöhners, der vor kurzer Zeit um Arbeit betteln gekommen war, und den der Herr um Obdach und Gnadenbrot aufgenommen hatte. Er setzte den mit Mühe zum Mund geführten Becher mit zitternden Händen wieder ab und sagte, die trüben kleinen Augen ins Leere gerichtet: »Es kann nichts verschwinden von der Erde, was da war, kommt wieder.«

Sie versuchten zu lachen, sich des Grauens zu erwehren, das bei den Worten des Greises sie alle anfiel, und Anton schrie laut dem Alten ins Ohr: »Was tot ist, kann doch nicht wiederkommen.

»Tot?« sagte der Alte, schüttelte den Kopf, winkte abwehrend mit der Hand und schwieg. Auch die anderen schwiegen, keiner wurde des frühen Feierabends froh. Als endlich die lastende, zehrende Sonne dem Abend langsam gewichen war, krochen sie heraus, versorgten noch das Vieh und rüsteten still Kleider und Schuhe für den Sonntag.

Den ganzen Sonntag war Emma mit einer älteren Magd allein im Hause. Unruhe und Angst trieben sie umher, plötzliche Mattigkeit ließ sie zusammensinken, bis sie von neuem wieder aufgejagt wurde. Sie durchlief das ganze Haus, ordnete die geordneten, leeren Zimmer, öffnete Fenster und schloß sie wieder, prüfte die Ställe, spähte, die Hand schützend über die Augen gelegt, mit scharfem Blick über den Umkreis des Hofes, nach den Scheunen, den Gärten, den Wiesen hin. Alles lag still, verdorrt, tot in der sengenden Glut da. Sie dachte daran, wie sie im vorigen Jahr um dieselbe Zeit das Kind gesucht hatten, gerufen und gelockt, und plötzlich war ihr, als sei die glühende, flimmernde Stille ringsum erfüllt von leisem, langgezogenem Kinderweinen, und darüber hin erklang aus der flirrenden Hitze in höheren Tönen leises, jauchzendes Lachen, vermischte sich mit dem Weinen und schied sich wieder von ihm, allein für sich hintönend.

Emma stürzte ins Haus, bleich und kalt, trotzdem sie in der furchtbaren Glut im Hofe gestanden hatte. Sie lehnte sich mit der Brust gegen die Wand, preßte die Hand auf das verkrampfte Herz. Die Magd, die am kühlen Steinboden saß, sah sie an. »Hörst du es?« brachte Emma endlich hervor.

»Nein«, sagte die Magd ruhig. Und sowie die Magd ihre Stimme erhoben hatte, war das Weinen verstummt.

»Es hat geweint und gelacht in der Luft, ich habe es gehört«, sagte Emma.

»Du kommst jetzt in die Jahre, das ist das Blut«, sagte die Magd.

»Nein, ich bin noch zu jung dazu, es ist Angst, immer Angst«

»Bei dem einen kommt es früher als bei dem andern. Wie alt warst du, als es zum erstenmal gekommen ist?«

»Ach, das ist es nicht, das ist heute der Unglückstag.«

»Man kann nicht ewig trauern. Wenn einen Gott leben läßt, muß man leben. Die einen sind tot, und die andern leben noch. Mit dem Kind ist es wohl etwas anderes, da ist kein Grab und nichts, jetzt wäre es fünf Jahre.«

»Das Lachen war schrecklicher als das Weinen, ich habe es noch deutlicher gehört«, sagte Emma, noch immer verstört.

»Es ist etwas im Hause,« erwiderte die Alte, »ich fühle es wohl auch. Es war auch niemals recht von der Frau, wie sie da kaum von der Krankheit aufgestanden war und zum Weihnachtsfest das Bettchen auf den Boden räumt. Aber die Strafen sind zu hart. Der Herr ist gut, es ist schon unheimlich im Hause.« Und die beiden Frauen schwiegen beklommen in dem einsamen, stillen Hause, das umlastet war von glühender Hitze.

Gegen Abend, als kaum die letzten des heimkehrenden Gesindes zurückgekehrt waren, überzog sich plötzlich, unfaßbar woher, der eben noch weiße, glutflirrende Himmel mit schwarzen, tief herabhängenden Wolken. Die Luft war still, dick, nicht zu atmen mehr, und von Dunst durchzogen, der trocken, beißend wie Rauch war. Eine fahle, gelbe Dämmerung senkte sich mehr und mehr nieder. Es war kaum sieben Uhr, und alle saßen um den großen Tisch zum Essen versammelt. Viele waren noch laut und lustig, manche noch berauscht vom Schnaps, den sie in der Stadt genossen hatten, andere von Küssen, getauscht in der Tiefe des Waldes, an einem verborgenen, noch grün schimmerndem Ort, wo eine Quelle noch gerieselt hatte inmitten der tot und verdorrt in Hitze knisternden Bäume, alle aber waren erschöpft von der Glut des Tages. Plötzlich stand nun das Gewitter über ihnen, schwarz, drohend, unbeweglich. Kein Blitz zuckte, kein Donner dröhnte, kein Wind wehte, kein Regen fiel. Es war dunkel, still, kein Atem mehr in der Welt Einer blickte dem andern in das fahl angeleuchtete Gesicht. Langsam standen sie vom Tische auf. Lange schwiegen alle. Es wurde noch finsterer, die Gegenstände der Küche verschwanden, durch das Fenster war nur noch in einem Umkreis von hundert Schritten etwas zu sehen, rechts noch ein Streifen Wiese, in der Mitte der Brunnen, und links, von einem fahlen, durchbrechenden Schimmer Lichtes gelb angeleuchtet, die Scheunenwand von Nummer vier mit dem weitgeöffneten Tor.

Jetzt begann ein Wind zu kreisen, leise, wie schleichend, rückte er gegen die Fenster, raschelte in den ausgetrockneten Kronen der Bäume, eine Tür im Hause schlug krachend zu, einige Augenblicke lang war auch plötzlich das Brüllen des Viehes, das noch auf der Weide war, zu hören. Dann war es wieder still. Der Wind raschelte wieder auf, kraftlos, heiß, träge, aber stetig, er schleifte Staub und verdorrte Erde, welke, braun verbrannte Blätter, die vorzeitig von den Ästen gefallen waren, mit sich. Alle warteten, die Frauen mit gefalteten Händen, die Männer mit geducktem Nacken, auf den ersten Blitz und Donnerschlag. Nach so langer Hitze und Trockenheit mußte es ein schweres Gewitter werden. Aber es blieb still. Der Wind schlich und raschelte um das Haus, es wurde völlig Nacht, es roch nach Schwefel und Brand.

»Mach doch Licht, Emma«, schrie aus der Stille heraus Minna, die kleine Entenhirtin, mit vor Angst bebender Stimme.

»Um Gottes willen, kein Licht! Wenn bei dem Wind etwas passiert, brennt alles wie Zunder. Wir können ja nicht einmal löschen«, sagte Blank.

»Nein, kein Licht,« sagte auch Emma, »der Herr hat es verboten.«

Wieder schwiegen alle. »Ich habe so ein Gewitter noch nicht erlebt,« sagte Blank wieder, »man kann ja nicht atmen.« Alle seufzten auf, ein jeder aus der beklommenen Brust.

»Es war zu lange trocken. Jetzt müssen wir im Dunkeln stecken am hellen Tage, wie die Kinder im Keller, wenn sie unartig waren«, versuchte Anton zu scherzen. Doch niemand lachte. »Vielleicht regnet es doch noch«, sagte ein anderer. »Es will nicht losgehen«, sagte Blank. Sie konnten ihre Gesichter gegenseitig nun nicht mehr erkennen, aber in ihren Stimmen verrieten sich ihre Erregung und ihre Angst Sie schwiegen wieder und atmeten schwer. Die kleine Entenhirtin, im Dunkeln an Emma geschmiegt, betete leise das Vaterunser. Alle hörten das Flüstern des Kindes in der Stille, neben dem Rascheln des Windes. Stumm bewegten sich die Lippen der Frauen mit im Gebet, und die Männer senkten die Köpfe. So blieben sie während einer Stunde. Nach und nach hatten sie wieder angefangen zu sprechen, stockend, und immer noch den ersten Donnerschlag erwartend, oder den Sturm und den Regen.

»Ja,« sagte Blank endlich, »es muß einer nach dem Vieh sehen.«

»Warum treibt denn Gahl nicht ein?« fragte Anton unwillig. Keiner wollte gehen.

Da ertönte plötzlich, unsichtbar aus der Ferne, hinter der Dunkelheit der Wolken her, das Bellen des Hundes, das aufgeregte Brüllen der Rinder, das Blöken der Schafe, das Stampfen der Pferde, dann Rädergerassel.

»Das sind Räder, das ist der Herr!« rief Emma und stürzte zur Tür.

In der fahlen Dämmerung, die weder Licht noch Finsternis war, wälzte sich die Herde wie grauer Schatten auf den Hof zu. Sie irrte durcheinander, die Pferde stampften auf und scheuten vor den Ställen, die Ochsen senkten die Köpfe und drohten mit den Hörnern. Gahl, der Hirt, führte den Wagen des heimgekehrten Herrn, während dieser, die lange Peitsche schwingend, die hin und her rasenden Tiere zusammentrieb, sich an die Hälse der aufbäumenden Pferde hing, sie herumriß und in die Ställe führte, wo sie aufwiehernd still standen. Angefeuert und ermuntert durch das Beispiel, ja nur durch die Gegenwart des Herrn, stürzten nun auch die anderen herbei, und unter einem ungeheuren Tumult der entsetzten Tiere wurde endlich die Herde geborgen. Der Wind kreiste noch immer, die heiße, trockene Luft erstickte den Atem. Keuchend, in Schweiß gebadet, kehrten alle vom Hof zurück. Schweigend, ruhig und vorsichtig schlug der Herr Feuer und zündete die Lampe an. Aber sie brannte trübe, ohne Strahl, wie erstickt von giftiger Luft, flackerte leise vom heißen, raschelnden Wind bewegt, unheimlich war ihr Anblick in der fahlen Dunkelheit, die sie nicht zu durchleuchten vermochte. Bleich erschienen jetzt die starken, gebräunten Gesichter, farblos die hellen Haare, die weitgeöffneten Augen dunkel und glanzlos wie Höhlen.

Der Herr schöpfte sich einen Becher voll Milch und trank ihn aus. Seine Unruhe vom gestrigen Tag war gewichen, er war gefaßt. Er hatte die Natur gesehen, wie noch nie. Er war von der Schwester aufgebrochen, da ein Wetter von weitem aufzog, um zur Zeit noch daheim zu sein. Als er abfuhr, waren die grauen Gewitterwolken noch weit in der Ferne hinter seinem Rücken gewesen, und da kein Sturm kam, hatte er bald daran vergessen und glaubte nicht mehr, daß sie in seine Gegend kommen und Regen, den ersehnten, bringen würden.

Vor ihm lag Hitze, dorrende Felder und Wiesen, blendender Sonnenschein. Da traf ihn plötzlich, kurz ehe er in den Forst einbog, in nächster Nähe der Treuener Felder, kalter Wind im Rücken und heiße Tropfen im Nacken. Er wandte sich um. Dicht hinter ihm, als wollte sie auf Haupt und Schultern sich ihm stürzen, stand, steil aufgetürmt, eine schwere, schwarze Wolkenwand, unfaßbar schnell herangeweht, Blitze zuckten unaufhörlich, leiser Donner dröhnte, feine, heiße Tropfen sprühten senkrecht zur Erde. Doch vor ihm lag Sonne.

Er trieb das Pferd an, bog in den Forst ein. Im Walde war es still, die Sonne plötzlich erloschen, durch die Wipfel der smaragden aufleuchtenden Bäume schimmerte gelber Himmel. Schnell kam er zum Ausgang des Waldes. Da stampfte das Pferd auf, blieb stehen und scheute. Vor ihnen lag Treuen, gehüllt in ein Meer von schwarzen, wogenden Wolken, die, von einem kreisenden Winde umfegt, sich ineinander verschlangen zu schweren, düsteren Knäueln, sich auf und nieder senkten, aus ihrer Mitte heraus mit Dunkelheit die Erde beschatteten, während an ihren tiefhängenden Rändern Streifen gelben Lichtes mit fahlem Schein die Erde matt wieder erhellten. Denn am entgegengesetzten Horizont, jetzt im Rücken Christians, war der Himmel hell und rein, strahlend und golden erleuchtet von abendlicher Sonne.

Christian mußte absteigen und das scheuende Pferd in die Finsternis der drohenden Wolken führen. Der heiße, raschelnde Wind umschlich jetzt auch sie, die Luft drückte, von Schwefelgeruch erfüllt, kein Blitz, kein Regen fiel. Unbeweglich, scharf abgegrenzt, von dem im Kreise jagenden Wind zusammengehalten, lagerte das Gewitter heiß und tief auf Haus, Hof und den Feldern von Treuen. Kein Vogel war zu sehen noch zu hören, doch durch die dürren Halme hindurch konnte Christian auf der trocken-staubenden Erde der Felder das geschäftige Wimmeln der Millionen Feldmäuse erblicken, die durch die Hitze und Trockenheit in Unzahl entstanden waren und jetzt in der plötzlichen, fahlen Dämmerung aus- und einschlüpften, ihre winzigen Pelze und blitzenden Äuglein matt und gelb angeleuchtet.

Christian kam an dem Wiesenschlag sieben vorbei, wo die eben zusammengetriebene Herde scheu durcheinanderlief und dem Ruf der Hirten nicht mehr folgen wollte. Mit Mühe konnten alle vier, der Herr, der Hirt mit seinem Hütejungen und der Schäferhund, sie zusammenhalten und eintreiben. Hinter ihnen senkte sich die Wolkenwand, umschloß sie, der heiter strahlende Abendhimmel war nicht mehr zu sehen.

»Es will nicht losgehen,« sagte jetzt der Hirt in der Küche, »es steht ganz genau über uns, drüben hat noch die Sonne geschienen, aber es geht nicht los.«

»Im Gebirge soll es das oft geben«, sagte der Herr mit ganz ruhiger, klarer Stimme.

»Aber hier sollte es nicht so sein,« widersprach Emma, »es erstickt einen ja, es zeigt auf uns.«

»Die Emma wird ein altes Weib, immer fürchtet sie sich«, sagte Anton, und einige versuchten zu lachen. Da ertönte aus der Ecke hervor, erst leise, dann aber immer stärker einfallend, ein langgezogenes Schnarchen. Der Greis, der alte Tagelöhner, war eingeschlafen. Nun lachten alle. Einige der Katenleute wagten jetzt aufzubrechen. Schnell erhoben sich nun auch die Mägde, langsam folgten dann die Männer. Es war schon neun Uhr. Es war völlig dunkel, es wurde aber kein Licht angezündet; sie legten sich alle im Dunkeln nieder, und ihre starken Körper fielen trotz der lastenden Luft auch bald in Schlaf. Träumten sie auch nie, auch in dieser Nacht nicht, so drangen doch heute das Stöhnen alpbedrückter Herzen und die Geräusche der in den Betten schwer sich herumwälzenden Leiber von Kammer zu Kammer.

Die Mitternacht kam heran. Es war weder Erde noch Himmel zu sehen, auch das Gewitter nicht mehr zu unterscheiden, das so, Finsternis selbst wieder von Finsternis umhüllt, unvernehmbar Auge und Ohr, furchtbarer noch auf die Herzen der Menschen niederlastete. In der Küche brannte noch das Licht, die trübe, flackernde, vom Schwefeldunst der Luft halb erstickte Flamme der Lampe ohne Schein. Der Wind raschelte, heiß und trocken wehte er in kurzen Stößen zu dem halbgeöffneten Fenster herein. In der Küche waren Emma und der Herr.

Christian saß am oberen Ende des Tisches, das erbleichte Haupt in beide Hände gestützt, die sich über den verhangenen Augen und der breiten, klaren Stirn falteten. Emma saß ihm gegenüber, auf den Knien eine Schüssel, aus der sie Beeren verlas. Ihre Hände zitterten, von Zeit zu Zeit schöpfte sie tief Atem, füllte ihre ganze Brust damit aus, hielt ihn an, lange, hob den Kopf und ließ ihn in den Nacken fallen, bis sie mit einem leisen, dumpfen Seufzer den Atem wieder frei ließ und den Kopf tief wieder auf die Brust, über die Arbeit senkte. Doch freiatmen konnte sie sich nicht. Über sie, die Sanfte, über sie, die Geduldige, im Leid niemals Müde, in Liebe Unerschöpfliche, war jetzt der drohende Schlag eines bösen Schicksals nahe gehalten. Zum letzten Male war sie so, wie sie bisher gewesen: um ihr Haupt, schwer und weit gebaut, lag das weiche, glänzende Haar in üppige Flechten geordnet, am Scheitel entlang und vorn über der Stirn, die rund gewölbt war wie eine Kinderstirn, kräuselten sich kleine Locken, die mit einem zarten Schimmer, wie goldgefärbte Luft, Haupt und Gesicht umspielten. Trotz ihrer mütterlichen Brust, die sich voll unter dem Kleid wölbte, war noch immer um ihre Gestalt, in ihren Bewegungen, in ihrer Stimme der Hauch reinster Mädchenhaftigkeit, die gütige Keuschheit einer Mutter, die nie Geliebte war. Zu dieser Stunde aber, der schweren, schwarzen Gewitterstunde, war um sie ein besonderer Glanz, ein zitternder Schimmer von Schönheit. Zarte Röte hob den noch immer goldfarbenen Flaum ihrer Wangen, und der tiefe, leuchtende Glanz ihrer Augen färbte das Blau zu samtenem Schwarz. In der dumpfen, bleiernen, heißen Stille umwob es sie unsichtbar. Sie fühlte selbst ihre Gehobenheit, es ängstigte und verwirrte sie, emsig versuchte sie sich in die Arbeit zu retten. Der Herr, der sie lange angesehen und alles gefühlt hatte, fragte sie: »Willst du nicht Feierabend machen? Es ist ja Mitternacht.«

»Ich kann mich nicht legen, Herr,« sagte sie, »es ist zu heiß.«

Sie schwiegen beide. Christian schloß die Augen wieder hinter den gefalteten Händen, weich schlugen die Pulse der Schläfen und die der Hände aneinander. »Immer noch Leben«, dachte er. Hinter seinen festgeschlossenen, fest durch die Hände zugepreßten, wachen Augen war eine Finsternis, tief wie Abgrund ohne Ende, weit wie der unbegrenzbare Flug der Gedanken, und durch nichts wahrnehmbar als durch die in sich selbst versunkene Seele. Ausgelöscht alles, was menschlich war, Erinnerung, Glück, Leid und Gebet zu Gott. Er ruhte im Nichts, er ruhte eine Sekunde lang im Tod. Aber die Ewigkeit verging, wie mit Flügelschlag von weither kam wieder der erste Gedanke. »Das ist der Tod«, dachte er, und nun war das Leben wieder da, sein Atem wehte, die Schwärze vor seinen Augen wurde lichter, im dunklen Grau kam die Erinnerung, fahle, trockene Erde sah er vor sich, von winzigen Löchern durchsiebt, in die graue, kleine Mäuse in tausendfacher Zahl aus- und einschlüpften, von weitem erschien das Haus, von schwarzen Wolken umlagert, doch im Nacken fühlte er heiße, stechende Sonne. Er hob die Hand ein wenig von den Augen, roter Schein, von bunten Lichtfunken durchtanzt, drang durch die Lider. Er öffnete sie ganz und erblickte Emma, leuchtend und schimmernd in der fahlen Düsternis der Lampe. Er stand auf und trat ans Fenster, suchte den Himmel, doch Erde und Himmel waren eins, verschmolzen ineinander zu wogender Finsternis.

Die ganze Nacht stand das Gewitter über Treuen, ohne sich zu entladen. Gegen drei Uhr morgens war Emma, auf dem Stuhle sitzend, eingeschlafen. Christian ging leise zum Tisch und löschte das Licht. Aber die Morgendämmerung war noch furchtbarer als die beklemmende Dunkelheit der Nacht. Das Licht des Himmels, gewaltsam sich durch die Ränder der nebeneinander lagernden schwarzen Wolken drängend, umgab sie mit einem schmalen weißen Saum. Das graue, verdorrte, von den Wolken überschattete Antlitz der Erde wurde sichtbar. Der Wind hatte sich gelegt, und schreckliche Stille herrschte ringsum. Kein Hahn krähte, kein Vogel schien zu erwachen, von den Ställen her kam kein Laut. Als Christian, der bewegungslos am Fenster gestanden hatte, einen Schritt zurücktrat, erschrak er von dem dumpfen, weithinhallenden Geräusch, das er erweckte, das in der Stille erklang wie in einem unterirdischen Gewölbe. Die Hitze drückte, Schweiß rann in Strömen an ihm nieder. Er hatte gehen wollen, um die Leute zu wecken, doch nun stand er wieder unbeweglich, gebannt durch die Stille, er lehnte sich an das Fenster, und plötzlich von Müdigkeit überfallen, schlief er stehend ein.

Als er erwachte, schlug die Uhr im Wohnzimmer sieben. Die Wolken waren fort, eine glühende Sonne stand am blendenden, weiß überhauchten Himmel. Die Erde war trocken, die Luft heiß, unerquickt alles. Sein Mund war wie ausgedörrt, Durst quälte ihn, er konnte nur schwer die Zunge bewegen, als er Emma rief, die schlafend noch auf dem Stuhle saß. Sie erwachte, riß die Augen auf und starrte in die von Licht erfüllte Küche.

»Das Gewitter ist fort,« sagte Christian, »es hat nicht geregnet.«

»Die Sonne ist schon so hoch,« sagte sie erschrocken, »wir haben alle verschlafen«, und mit den Händen ihr Haar glatt streichend, lief sie zum Gesindehaus hinüber, wo ihr schon die Stallknechte entgegenkamen, müde und zerschlagen von dem lähmenden Schlaf dieser Nacht. Die Ställe wurden geöffnet, die Tiere schossen heraus, die Hühner wälzten sich sofort in dem trockenen Staub der Erde, die Schafe drängten sich um den Trog des Brunnens und fuhren zurück, als sie mit den zarten Mäulern den trockenen, glühend heißen Stein berührten. Sie wurden sofort abgetrieben und zur Weide geführt, wo der Hirt eine verborgene Quelle noch wußte. Ein Wagen mit einer Wassertonne wurde angespannt und folgte der Herde, um noch etwas Wasser für den Hof herbeizuschaffen. Barfüßig, mit nackten Gliedern unter den weiten Röcken, nur den Kopf noch eingebunden in ein weißes Tuch, liefen die kleinen Entenhirtinnen hinter ihrer Herde her, die sich schreiend in das trübe, flache Wasser des halb ausgetrockneten Teiches warf. Im Hofe, am Brunnen, wurde mit Mühe etwas Wasser in einem dünnen, kraftlosen Strahl für die Menschen und die Pferde zusammengepumpt. Die Tauben umkreisten die tränkenden Pferde und fingen im Fluge die versprühenden Tropfen auf, ehe sie auf die Erde fielen. Von den Bäumen zitterten die braun verbrannten Blätter nieder auf braunes, verdorrtes Gras oder auf die glühende, grau staubende Erde, die Früchte hingen klein und verkümmert in den kahlen Zweigen, die Felder, hoch und spärlich im Halm, wimmelten deutlich von Millionen Ungeziefer. Der Himmel war weiß, flirrend von Licht und Glut, an den Horizonten ohne Grenzen, die Luft erfüllt von Brandgeruch.

Mit gespanntester Aufmerksamkeit wurde auf dem Hofe alles beobachtet und vermieden, was Feuersgefahr bringen konnte. Der Herr stieg selbst mit dem Wirtschafter auf die großen Heuböden, wo das Heu aufgelockert, das noch etwas feuchte Innere nach außen gekehrt wurde, damit es sich nicht von selbst entzünden konnte.

Gegen zehn Uhr kam ein Postbote, er brachte gute Nachricht von den Söhnen und die Nachfrage des Käufers nach der gedroschenen Ernte. Von der Scheune Nummer vier kamen aber schon die Takte der Drescher, wenn auch nicht so kräftig wie sonst, so doch gleichmäßig und unermüdlich.

In dem Helldunkel der offenen Scheune standen die vier Männer und droschen. Nur mit Hemd und Hose bekleidet, eine Mütze auf dem Kopf, hoben sie in langsamen Abständen voneinander die Dreschflegel und ließen sie niederfallen. Schweiß, verklebt mit dem Staub der Spreu, überzog ihre Gesichter und durchfeuchtete das schwere, graue Leinen ihrer Hemden. Die Hitze in der Scheune war betäubend. Die Augen quollen ihnen in den Höhlen auf, das Blut preßte sich mit Zentnerschwere durch die Stränge ihrer Adern, die sichtbar auf den harten Muskeln ihrer Arme und in den Falten ihrer rotgebrannten Hälse aufsprangen. Aber sie hämmerten weiter, ohne Gedanken, die Arbeit mußte sein.

Paula, die junge Magd, kam und ging und trug ihnen die Garben zu. Die hohe Garbenmauer war schon zur Hälfte abgetragen, ein schmaler Gang, rechts der Wand entlang, legte einen tiefen Winkel der Scheune frei. Im Hin- und Hergehen, im Reichen und Heben der Garben fühlte die junge Magd plötzlich in ihrer lose unter dem Hemd mitschnellenden Brust schweres Ziehen und drückenden Schmerz, eine leichte Schwäche zitterte durch ihren Körper, und als sie sich bückte, fühlte sie ein mildes Weh ihren Leib zusammenziehen, und, neben dem rinnenden Schweiß, die tiefere Wärme ihres Blutes sanft an sich niederrieseln. Da sie nur mit Hemd und Rock bekleidet war, wagte sie nicht, vor den Männern in die blendende Helle des Hofes zu treten, um so in ihre Kammer zu gelangen, sondern sie wandte sich verlegen der noch tieferen Dunkelheit der Scheune zu und schlich sich in den Winkel. Sie ergriff eine Handvoll Bodenstroh, um sich zu reinigen. Da berührte sie einen glatten, unter dem Stroh weiß hervorschimmernden Gegenstand, und als sie das Stroh wegriß, lag vor ihr entblößt die obere Hälfte eines kleinen Menschenschädels. Entsetzt starrte sie darauf nieder. Sie wußte nicht genau, was sie eigentlich sah, aber ein furchtbares Grauen ging davon aus, lähmte sie, sie vermochte nicht zu rufen noch sich zu rühren. Vorn in der Scheune setzte der gleichmäßige Takt der Drescher aus. »Garben!« rief Anton mit lauter Stimme. Als keine Antwort kam, durchforschte er mit scharfen Augen den Raum und erblickte endlich ihr helles Hemd und ihre Arme schimmernd in dem tiefen dunklen Winkel. Er ließ den Dreschflegel fallen, ging langsam zu ihr und legte den Arm um ihre Hüfte. Doch sie stieß ihn von sich und zeigte mit der Hand zum Boden. Er folgte mit den Blicken, erkannte langsam in der Dunkelheit das schimmernde Weiß, das ihm ein Stein zu sein schien, und schob vorsichtig mit dem Fuß das Bodenstroh noch mehr zur Seite. Der kleine Schädel lag nun völlig entblößt vor ihnen, mit winzigen Zähnen in den auseinanderklaffenden Kiefern. Jetzt schrie das Mädchen auf und barg das Gesicht an der Wand. Auch Anton, stumm, von Grauen gepackt, wich zurück. Auf den Schrei der Magd kamen die anderen herbei, beugten sich nieder und fuhren entsetzt wieder empor. Alle flüchteten aus dem Winkel fort, in der Mitte der Scheune blieben sie stehen, über ihre s chweißtriefenden Körper, über ihre blutgefüllten Stirnen legte sich Eiseskälte des Grauens.

Nach langer Zeit sagte Anton: »Einer muß den Herrn rufen.«

Keiner wollte gehen. Anton sah auf Paula, die bebend am ganzen Körper, bleichen Gesichtes, am Tore lehnte. »Hole eine Hacke,« sagte er zu ihr, und warf sich in die Brust, »man muß nachsehen, was es ist, vielleicht ist es ein Tier.«

Sie flüchtete davon. Sie lief über den Hof, und ihr Entsetzen begann sich zu lösen, sie schrie, besinnungslos, jammernd: »Herr, Herr! In der Scheune, Herr! Kommt schnell in Scheune vier, o Gott, o Gott!« und sie hetzte umher, ohne Besinnung und Ziel.

Der Herr kam mit dem Wirtschafter vom Boden des Schafstalles. Er sah die Magd mitten im Hofe stehen und mit bleichem Gesicht in der heißen Sonne, Blut an den Füßen, nach dem Scheunentor zeigen. Ohne sie weiter zu fragen, ging er auf die Scheune zu. Aus der Küche kam Emma. »Was ist, was schreist du so?« fragte sie die Magd. Diese besann sich plötzlich. »Eine Hacke! Eine Hacke soll ich holen, in der Scheune ist etwas vergraben!« Dabei legte sie ihre Hände über den schmerzenden Leib. Emma erblickte die Blutspuren auf ihren nackten Füßen. »Gehe auf die Kammer,« sagte sie sanft, »ich hole die Hacke.« Und schnell, doch noch ruhig, eilte sie an die Gartenseite der Scheune, wo unter dem vorspringenden Dach die Geräte hingen. Sie ergriff die Hacke und eilte damit auf das Tor der Scheune zu.

Da plötzlich, als sie vor dem Tore stand, die breite Dämmerung des riesigen Raumes vor sich, die leicht hin- und herschaukelnde Hacke in ihrer Hand, ward ihr die furchtbare Offenbarung der Wahrheit. Noch wußte ja niemand, was in der Scheune verborgen lag. Aber sie erhob eine gewaltig in ihr aufbrechende Kraft zur Seherin: die tiefe Verbundenheit von Mutter und Kind, diese Verbundenheit des Blutes, das ineinandergekreist war, das eine vom andern erzeugt und genährt, ward lebendig in ihr, als trüge sie den Sohn noch einmal in sich; und doch stand er vor ihr: Fritz, ihr Kind, begegnete ihr am Scheunentore, die Hacke schaukelte in seiner Hand, das Lächeln unschuldiger Kindheit hatte er auf dem schönen Gesicht, aber Fritz, ihr Kind, tauchte durch dieses erste hindurch zum zweiten Male auf, ein von schwarzer Röte überwalltes, ausgeweitetes, grinsendes Teufelsantlitz, ein großer, fremder Männerleib, bedeckt von Blut und schwarzen Wunden. Fritz, der Mörder, begegnete ihrem Herzen.

Sie stürzte, ohne zu suchen, ohne im Dunkeln zu sehen, in den Winkel, wo der Herr mit den anderen stand. Sie sank nieder, die Hacke im Bogen von sich schleudernd; sie kniete und keuchte: »Schlagt mich tot! Schlagt mich tot!« Sie schrie nicht, ihre Augen waren geschlossen, wie von weither kam ihre Stimme, leise und flehend: »Ach, Herr, schlagt mich tot.« Dann verstummte sie, fiel in sich zusammen, ließ sich ruhig hinaus und in das Haus zurückführen, sank in der Küche in den Stuhl vor dem großen Tisch nieder und schien, die Arme schützend um den Kopf gelegt, in Schlaf zu versinken.

Die anderen standen noch im Winkel der Scheune. Keiner begriff Emmas Handlung und ihre Worte, aber der Anblick ihrer knienden Gestalt vor dem Herrn hatte das Entsetzen und Grauen noch gesteigert

Der Herr ergriff die fortgeworfene Hacke, und mit zarter, fürsorglicher Hand schob er nach und nach den ganzen kleinen Hügel des Bodenstrohes beiseite, und mit seinen Augen, unerblindet durch Schmerz und Leid, geschärft immer mehr zu klarsten Blicken in die Dunkelheit, mußte er die toten Reste seines Kindes sehen, einen zarten, blonden Hauch von Haar noch an der rechten Schläfe des kleinen, völlig ausgetrockneten Schädels und, zwischen Erde und Stroh hervorschimmernd, das rot- und grünkarierte Kleidchen und kleine, schwarze Schuhe. Raschelnd schlüpften braune Iltisse und schwarze Ratten aus dem kleinen Grab hervor, rannten aufgescheucht durcheinander, neuen Unterschlupf suchend.

Als Christian Haar, Kleid und Schuhe erkannt hatte, trat er zurück; die Hacke fiel aus seinen Händen; mit einer Stimme, die nicht die seine war, und mit einer Ruhe, die von einer fremden, göttlichen Macht über ihn gebreitet schien, sagte er: »Hier muß zugesperrt werden, und Anton soll sofort zum Gendarmen.« Und er schob die Knechte an den Schultern aus der Scheune, löste die Flügel des Tores von der Wand und verschloß sie. Er setzte sich nieder auf die Stufen vor der Haustür, mitten in die glühende Sonne. Es war derselbe Tag, an dem im vergangenen Jahre das Kind verschwunden war. Jetzt war es gefunden. Gottes Strafe, Gottes Gnade, Gottes verhülltes Angesicht, alles war versunken. Das Böse war da, das Teuflische hatte sich gezeigt.

In furchtbarer Verödung lagen Haus und Hof während der nächsten Stunden da. Nichts schien mehr zu leben als der kleine, weiße Schädel im Dunkel der verschlossenen Scheune und das Grauen, das die mittägliche Luft und Sonnenglut erfüllte. Niemand rief und niemand kam zum Essen. In den Kammern drückten sich die Mägde zusammen, ohne Frage, stumm starrten sie einander in die bleichen, von Entsetzen verzogenen Gesichter. Die Männer standen, hinter die Ställe gedrückt, beieinander, spuckten aus und traten von einem Bein auf das andere. Alles schwieg. Hitze, Schweiß und kalter Schrecken dunstete um sie. In der Küche, allein, saß Emma, die Hände ineinandergefaltet; ihr geweiteter Blick hing fern am Himmel, bewußtlos im Aufruhr ihrer Seele, ruhte sie unbeweglich.

Gegen fünf Uhr nachmittags kam zugleich mit der zum Melken heimgetriebenen Herde die Polizei. Christian führte die beiden Gendarmen noch zur Scheune, öffnete sie und zeigte stumm auf den schmalen Gang neben der Wand der Garben, dann brach er zusammen. Zwei Knechte brachten ihn bewußtlos ins Wohnzimmer.

Die Gendarmen besichtigten die Scheune, den Winkel, in dem die Leiche lag, ohne etwas anzurühren, dann nahmen sie die Personalien aller im Hause befindlichen Personen auf; das Scheunentor ward verschlossen, versiegelt und einer der Polizisten als Wache aufgestellt, während der andere mit dem für das Gericht aufgesetzten Protokoll davonritt. Es wurde noch angeordnet, daß niemand den Hof verlassen dürfe, das Vieh dürfe nicht ausgetrieben werden am nächsten Morgen, bevor nicht die Gerichtskommission eingetroffen sei und es erlaubt habe. Gegen Abend kam ein zweiter Gendarm, um die Wache für die Nacht zu verstärken. Die zweite schlaflose, angstgequälte Nacht senkte sich auf alle nieder. Verhungert und müde kamen sie am nächsten Morgen in die Küche, wo nichts vorbereitet war, denn unbeweglich, in einem Zustand von wacher Ohnmacht saß Emma auf ein und derselben Stelle. Eine alte Magd verrichtete notdürftig die Arbeit des Haushaltes.

Am Mittag kam eine aus sechs Mann bestehende Kriminalkommission, ein Untersuchungskommissar, begleitet von medizinischen und anderen Sachverständigen, und nahm während vier Stunden den Tatbestand in der Scheune auf. Gegen Abend betraten der Kommissar, ein Polizist und der Schreiber die Küche, setzten sich längs des großen Tisches nieder und begannen mit dem Verhör des Gesindes. Auch der Herr kam jetzt herein mit bleichem, verhangenem, ausgelöschtem Gesicht. Die Fragen waren einfach, wie die Antworten, genau und klar. Es ergab sich immer wieder das gleiche Bild der bereits schon vor Jahresfrist aufgenommenen polizeilichen Protokolle, bis auf die jetzt fehlenden Aussagen der verstorbenen Frau, der abwesenden Söhne und des Dienstjungen Fritz Schütt. Über ihn wurden vorläufig Zeugen vernommen, die aussagten, daß er gegen 4¼ Uhr vom Teich fortgegangen war, mit Weidenruten bepackt, daß die kleine Anna ihm gefolgt war, daß aber niemand sie mit ihm in die Scheune hatte eintreten sehen; dagegen waren Zeugen da, daß er 4¾ Uhr mit Güse zur Vesper in die Küche gegangen sei und dort seinen Becher mit Milch getrunken habe. Niemand hatte Unruhe oder ein verändertes Wesen an ihm bemerkt, und die Zeugnisse über ihn waren gut Der Kommissar fragte den Herrn: »Warum und wann ist er von hier weggezogen?«

»Er ist zur selben Zeit weg wie meine Söhne, mit denen er hier aufgewachsen ist, und ich habe ihm selbst die Stelle verschafft«

»Wo befindet er sich jetzt?«

»Auf dem Rittergut Mandelkow, Plestlin.«

»Wir werden ihn morgen dort vernehmen.«

Es war Mitternacht, als das Verhör zu diesem Punkte gelangt war. Alle waren bleich, übernächtigt, erschöpft durch Schrecken, Aufregung und Hitze. Die Beamten saßen an dem langen Tisch und schrieben Bogen für Bogen, sie hatten die Kragen ihrer Uniformen geöffnet, Schweiß rann allen über die Gesichter. Der Gerichtsschreiber löschte den letzten, eben geschlossenen Bogen ab und schob das gesamte Protokoll dem Kommissar zur Unterschrift hin, wobei er sich zurücklehnte und gähnte. Alle standen bereit, das Zimmer endlich zu verlassen, als sich Emmas Stimme leise, aber durchdringend erhob.

Sie hatte ihre Aussagen schon längst gemacht, wie die anderen hatte sie geantwortet auf die Fragen des Kommissars. Dann hatte sie die ganze Zeit über in der Ecke bei dem Herd gestanden, vier Stunden lang, ohne sich zu rühren. Niemand hatte sie beachtet, selbst dann hatte niemand an sie gedacht, als die Zeugen über Fritz vernommen wurden. Sie hatte den Blick, voll unendlichen Schmerzes, voller Qual und Liebe, unverwandt auf das erloschene Antlitz ihres Herrn gerichtet. Die arbeitsharten Hände ineinandergepreßt, hatte sie gebetet, das Vaterunser unzählige Male zwischen den stummen Lippen gehalten, flehend zum eigenen Herzen gesprochen, Gott angerufen gegen das eigene Herz, das alle Mutterliebe verlassen hatte. Als schon alles beendet war und die Kommission schon aufstand und gehen wollte, war ihre Kraft im Kampf erschöpft, sie sank in sich zusammen, sie fühlte sich auf den Knien ruhen, sie hörte sich langsam, leise und deutlich sagen: »Herr Kommissar, mein Sohn Fritz ist der Mörder, ich habe ihn gesehen mit der Hacke, glauben Sie nicht seiner Unschuld und seinen guten Zeugen.«

Die Stille, die diesen Worte folgte, war so tief, daß das Flügelschlagen der kleinen Motten, die gegen das Licht der Lampe stießen, wie Donner den Raum erfüllte. Dann kamen die scharrenden Geräusche, mit denen die Umstehenden von Emma wegrückten und durch eine Gasse, die sie bildeten, ihre zusammengesunkene Gestalt in dem Winkel freigaben. Der Kommissar, mitten im Zimmer stehend, fragte: »Was sagen Sie da? Stehen Sie auf und wiederholen Sie!«

Doch sie rührte sich nicht. Den flehenden Blick auf den Herrn gerichtet, sagte sie: »Schlagt mich tot, Herr, lieber Herr!«

Christian stand auf und ging zu ihr. Sanft sie um den Leib fassend, hob er sie vom Boden auf und führte sie zu einem Stuhl am Tisch. Auch die Beamten nahmen wieder ihre Plätze ein, und der Kommissar fragte: »Wer sind Sie?«

»Emma Schütt«

»Sie sind die Mutter von Fritz Schütt?«

»Ja.«

»Ich mache Sie aufmerksam, daß Sie nicht gezwungen sind, gegen Ihren Sohn belastend auszusagen.«

»Ja.«

»Verstehen Sie mich? Sie brauchen als Mutter nichts Schlechtes über Ihren Sohn zu sagen, selbst wenn er etwas Schlechtes getan hat.«

»Ja.«

»Also, was haben Sie gesehen, was er getan hat?«

»Ich habe ihn mit der Hacke gesehen.«

»Mit welcher Hacke?«

»Die ich gestern geholt habe für die Scheune.«

»Wo haben Sie sie geholt?«

»Unter dem Dachvorsprung, da gehört sie hin.«

»Und wann haben Sie Ihren Sohn damit gesehen?«

»Als das Unglück geschah.«

»Wollen Sie damit sagen, am 24. Juni des vergangenen Jahres?«

»Ja.«

»Wissen Sie noch, um welche Stunde das war?«

»Eine Stunde vor dem Abendessen.«

»Haben Sie mit Ihrem Sohn gesprochen?«

»Ja.«

»Was sagten Sie?«

»Ich sagte: Was machst du mit der Hacke? Und er lachte und schaukelte sie in den Händen und sagte: Ich habe sie ein bißchen gebraucht.«

»Er hat gelacht?«

»Ja.«

»Nun, da kann er doch nichts Böses getan haben, wenn er lacht.«

»Nein.«

»Ist das alles, was Sie wissen?«

Emma verstummte, mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie auf, schlug die Hände vor das Gesicht und eilte hinaus.

»Verdächtig,« sagte der Kommissar zu dem Gendarmen, »ist zu überwachen.«

Die Beamten erhoben sich nun eilig und fuhren noch in der Nacht unter Zurücklassung der Wache ab. Das Gesinde zerstreute sich in die Kammern, Christian blieb allein zurück. Er löschte das Licht. Eine schmale, zarte Mondsichel stand am Himmel, Sterne, klar und funkelnd, waren um sie geschart. Mattes Silberlicht umschwebte Hof, Brunnen und die Scheune. Christian verließ die Küche und stieg leise die Treppe empor zu Emmas Kammer. Er öffnete die Tür und trat ein. Ein Schrei wie der eines gemarterten Tieres gellte neben ihm auf. Emmas Gestalt, im Winkel neben die Tür gedrückt, schnellte vor, floh, schwang sich auf das Bett, das breit vor dem geschlossenen, matt blinkenden Fenster stand, Glas klirrte im nächsten Augenblick, das Holz des Fensterkreuzes krachte splitternd, und nur in der allerletzten Sekunde konnte Christian die schräg aus dem Dunkel der Kammer in die silberne Tiefe des Hofes neigende Gestalt der Magd an den Röcken packen, und während er mit der rechten Hand aus aller Kraft die gewaltsam zum Sturze Strebende festhielt, zog er mit der Linken behutsam die zersplitterten Glasstücke aus dem geborstenen Rahmen, brach eine Öffnung in das geschlossene Fenster, durch das er Brust und Gesicht der Magd zurückziehen konnte. Er legte sie auf das Bett und machte Licht. Beide bluteten. Emma hatte Wunden im Gesicht, an Kopf, Hals und Brust, Christian tiefe Schnitte an Händen und Armen. Mit geschlossenen Augen lag Emma auf dem Bett, Schluchzen erschütterte ihren Körper, doch statt Tränen rann ihr Blut über Haupt, Stirn und Gesicht.

An die verschlossene Haustür klopfte der Wachposten von der Scheune, durch den Schrei und das Klirren des Fensters alarmiert. Doch Christian antwortete und öffnete nicht. Er löschte wieder das Licht. Im Dunkeln trug er leise Emma die Treppe hinab in das Wohnzimmer, wusch ihre und seine blutenden Wunden aus und wachte über ihren ohnmächtigen Schlaf. Erloschen war sein eigenes Leid, ausgebrannt war seine Verzweiflung, geendet selbst die Hoffnung auf Tod. Er lebte hinter Gottes aufgehobener Hand auf schmalem Raum, und was ihm noch blieb, Kraft des Körpers und Gefühl des Herzens, gab er aus nur noch für die Schicksale anderer Menschen.


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