Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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II

Am Morgen des sechsundzwanzigsten Juni, im ersten Schimmer des Lichtes, das golden wie immer aufstieg, erwachte die Frau. Sie hatte tief geschlafen. Ohne sich zu regen, wendete sie den weitgeöffneten Blick zum Fenster. Dort kniete der Mann, das Kinn auf die Fensterbank gestützt, das Haupt steil emporgerichtet, unbeweglich Gesicht und Blick gegen Luft und Himmel gerichtet. Leise rief sie seinen Namen. Er rührte sich nicht. Sie richtete sich im Bette auf. In der aufflammenden Sonne erkannte sie langsam, mit geblendeten Augen, deutlich seine breiten Schultern, seinen Nacken, und, daß das Haar seines Hauptes weiß gebleicht war in dieser Nacht. Sie eilte zu ihm und rüttelte ihn an der Schulter. Er wollte sich erheben, doch seine großen Glieder schienen ohne Kraft, die Arme, gestützt auf das Fensterbrett, knickten zitternd ein, von neuem sank er mit dumpfem Schlag in die Knie. Die Frau wollte ihn hochziehen und griff nach seiner Hand. Doch kaum hatten ihn ihre warmen, vollen Finger berührt, als er aufgeschnellt plötzlich vor ihr stand, hochgereckt, um Haupteslänge größer als sie, das weiße, wirre Haar über der hohen Stirn, die Augen ganz verhangen von den schweren Lidern, der Mund verdeckt von dem zerzausten Bart, der allein noch die Lebensfarbe behalten hatte. So wich er fremd vor ihr zurück. Er riß seine Hand von ihr los, an dem leeren Bettchen des Kindes vorbei ging er aus dem Zimmer.

Die Frau stand still und sah mit ihren weitgeöffneten Augen im Zimmer umher. Sie weinte nicht. Sie konnte Unglück nicht begreifen. Sie strich ihre Kleider glatt, in denen sie geschlafen hatte, mit einem Kamm fuhr sie durch ihr langes, dunkles, aufgelöstes Haar, drehte es im Nacken zu einem Knoten und stieß die Haarnadeln tief ein. Sie lächelte. Sie glaubte und hoffte.

Es war fünf Uhr, und alle waren schon wach. Die Ställe wurden geöffnet, die Schäfer trieben die Herden hinaus, die Hammel und Ziegen stürmten auf die Weide, die Kühe sammelten sich zum Melken.

An der Tür des Hauses stand der Herr, wie jeden Morgen. Tiefes Erschrecken ging von seinem ergrauten Haupte aus. Alle, die es an diesem Morgen erblickten, sanken in sich zusammen. Erschüttert, verzagt und mutlos gingen alle an die Arbeit. Noch bewegte sich alles in dem alten, guten Gleise, in der tief eingewurzelten Ordnung. Doch der Blick des Herrn, der bewacht, angefeuert und auch gedankt hatte, fehlte bald über allem. Schon an diesem Morgen sah er nicht die Züge seiner Herden an sich vorüberziehen, zählte nicht mehr ihre Zahl, sondern unter den schweren Lidern hervor erblickte er nur die verkohlten Reste des Scheiterhaufens, die schmutzigen Spuren der durchsuchten Gruben auf dem Hof und weiterhin die zerstampften, niedergetretenen Kornfelder. Nur die Scheune Nummer vier war wie immer. Ihre Tore waren weit geöffnet, hin und wieder schoß ein Vogel in weitem Bogen aus dem Licht in die Finsternis des fensterlosen Raumes, eine Atzung im Schnabel, oder kehrte aus dem Dunkel zurück und senkte sich in das Korn nieder. Das dunkle Dach der Scheune zeigte den neuen, helleren Fleck, an dem es ausgebessert war.

Auf dem Hausflur trat der Fischer Andreas zu ihm. »Sollen wir nicht noch einmal suchen, Herr?« fragte er leise.

Christian stand still, und es dauerte eine Weile, ehe er antworten konnte. Die schweren Lider hoben sich nicht von den Augen, und der Mund schien sich nur schwer zum Sprechen zu bewegen.

»Sucht nur,« sagte er endlich, »das Wasser treibt oft erst den dritten Tag auf. Tut alles, was not ist.«

Der Fischer wandte seinen Blick nicht von seines Herrn gebleichtem Haar, bis dieser in die Wohnstube eingetreten und die Tür leise und fest hinter sich geschlossen hatte.

Im Wohnzimmer ließ sich Christian vor dem Pult seines Schreibsekretärs nieder. Er stützte den Kopf auf und legte müde Stirn und Augen in seine Hände. In der Nacht, die sein Haar gebleicht hatte, waren in menschlicher Verzweiflung seine Knie zusammengebrochen, hatte das Bild seines Kindes, erstanden aus der väterlichen Sehnsucht, in tiefstem Schmerz sein Herz bewegt, doch jetzt war alles leer, tot seine Brust, vernichtet die Welt, die Gott erschaffen, in Sinn und Gesetz erhalten hatte nach seinem Glauben bis zu diesem Tage. Alles war zertrümmert und versunken, nur er selber war noch, atmete, lebte, er fühlte seine aufrechten Schultern zu Seiten des starken Rückens, der noch nicht gebeugt war, der noch immer Schläge empfangen, noch Bürden auf sich nehmen konnte.

Er hob den Kopf und zog langsam mit der rechten Hand das oberste Schubfach des Sekretärs auf. Er entnahm ihm eine längliche Geldschatulle aus grünem, dicht geflochtenem Metalldraht und öffnete sie. Ihr Inneres war eingeteilt in verschiedene Fächer. Darin lagen sortiert die Geldmünzen, Gold- und Silberstücke, Kupfer- und ausländische Münzen, und unter dem obersten Einsatz, der abzuheben war, lagen zusammengefaltet die Papiere: die Urkunde über die Pacht der Domäne, der Trauschein, die Geburtsurkunden und Taufbriefe der Kinder.

Christian faltete alles auseinander, las und legte es breit vor sich hin. Er schlug die Wirtschaftsbücher auf, die Sparkassenbücher, fünf an der Zahl, lautend auf seinen Namen, auf den Namen der Frau und der drei Kinder. Er las die Daten der Eintragungen. Zu jedem Geburtstag, zu Weihnachten, nach Genesungen von kleinen Krankheiten hatte er die Summen vermehrt. Der Mutter hatte er bei der Geburt jedes Kindes eine heimliche Einzahlung von hundert Talern geleistet. Sein eigenes Barvermögen bestand aus viertausend Talern, so viel, als er gewollt und erstrebt hatte. Er hatte den Ertrag der Felder auf das Vierfache gesteigert Der Erlös aus den Herden und den Produkten allein reichte aus für die Erhaltung des großen Gesindes, für die reichen und guten Anschaffungen an Geräten, Wagen, für Steuern und reiche Almosen, für die Erziehung der Kinder und für die Pacht.

Christian las die Bücher, prüfte die Summen, übersah die Arbeit seiner Jugend, den Segen seiner Mühen, sein Leben baute er noch einmal um sich auf. Zuletzt ergriff er noch ein Buch, schwarz und schmal gebunden, und hielt es in der Hand. Auf der weißen Etikette des Umschlags stand geschrieben: »Clara, Charlotte, Anna B.«, und auf der ersten Seite, die er aufschlug, stand links »Mit Gott!« und auf der rechten neun Eintragungen zu je zehn und fünfzehn Talern. Es war das Sparbuch für das verlorene Kind. Sein kleiner Besitz, bestimmt, sich zu vergrößern mit den Jahren seines Lebens, mit der Zahl seiner Freudentage. Christian sah es lange an, dann räumte er alles zurück an seinen Platz, ergriff einen Bogen Papier und entwarf sein Testament für die Frau und die beiden Söhne.

Von der Mutter erhielt Fritz den Befehl, den Hof zu reinigen, der noch immer beschmutzt war mit den Resten des verbrannten Holzes und des Mistes. Er erschrak, denn er hatte sich in Gedanken seine Arbeit so schön eingeteilt, erst das Reinigen der Ställe, dann das Ordnen der Geräte, das Hacken auf dem Kartoffelacker, die Arbeit im Garten, wo er heimlich die Obstbäume stützen wollte, zur Überraschung für die anderen, die in diesen Tagen verwirrt einherliefen und die gute Ordnung der Arbeiten ganz vergaßen. Er aber freute sich mehr als je auf seine Arbeit, und wenn er jetzt den Hof waschen mußte, würde ein anderer sie tun, und alles war umgestoßen. Trotzdem eilte er gehorsam über den Hof zur Scheune, wo unter dem Dachvorsprung die Geräte hingen. Er holte den großen Reisigbesen, den Wassereimer und die Gießkanne, lief zum Brunnen zurück, schöpfte Wasser und begann den Hof auszuwaschen. Die Sonne brannte, das Wasser, vermengt mit den Resten des Dungs, dunstete übel. Schweiß rann ihm von der Stirn. Unermüdlich holte er frisches Wasser, schwemmte und rieb die Steine, bis endlich doch der große Hof wieder sauber und feucht in der Sonne glänzte. Er wusch noch sorgfältig den Besen in klarem Wasser aus, spülte die Eimer und trug alles an seinen Platz zurück.

Zum vierten Male an diesem Morgen kam Fritz an dem offenen Tor der Scheune Nummer vier vorbei. Ein Vogel stieß aus dem Dunkel ins Licht, senkte sich trillernd tief im Flug an ihm vorbei. Fritz stand still und blickte in den hohen, weiten, schweigenden und schwarzen Raum hinein. Da drinnen war etwas geschehen mit ihm, ganz im Verborgenen, etwas hatte er getan, was er noch nie getan hatte, er war ein Mann, kein Kind mehr. Er tastete an seinen Kleidern, waren sie nicht mitten am Tage geöffnet gewesen? Scham ergriff ihn, vorsichtig schlich er einige Schritte in die Scheune hinein. Nein, er hatte alles in Ordnung gebracht. Es war dunkel und heiß, kaum konnte er sehen. Beruhigt ging er wieder hinaus. Des Kindes erinnerte er sich nicht, aber etwas hielt ihn auch ab, an es zu denken, wenn die anderen von ihm sprachen, noch vermochte er selbst von ihm zu sprechen. Sein zu furchtbarer Einsamkeit verdammtes Herz fühlte keine Liebe und keinen Schmerz, ruhig war sein Gewissen und tief sein Schlaf, der abends über seinen arbeitsmüden Körper fiel.

Am wahrsten und tiefsten trauerte Emma um die kleine Anna. Denn sie dachte nur an das Kind, sehnte sich nach seinem lieben Anblick und zerrieb sich in Sorgen und Kummer über sein Verschwinden. Es quälte sie, daß sie nicht helfen konnte in diesem furchtbaren Unglück, das so tückisch, so versteckt war, das keinen Namen hatte wie alle anderen, wo man Hilfe bringen konnte, wie bei Krankheiten, oder sich in Demut unter Gottes Willen beugen mußte, wie bei dem Tod. Aber so konnten nicht einmal ihre Gedanken das Kind umgeben, das verschwunden war, irgendwohin, schlimmer als in ein Grab, an das man treten konnte. Voll Liebe, voll Hingabe verrichtete sie ihre einfachen Arbeiten, als könnte sie dadurch das Böse besänftigen, die Schmerzen lindern. Neben ihrer Trauer um das Kind dachte sie noch an den Herrn, an die Frau und an die Söhne, denen sie nachgesehen hatte, wie sie traurig und verwaist zum Wald zur Arbeit gegangen waren. Alle umfaßte ihr gutes, starkes Herz, mit allen versuchte sie mitzufühlen, um alle sorgte sie sich. Tränen stiegen ihr in die Augen. Da öffnete sich die Tür der Küche leise, und Fritz kam langsam herein, gebeugt unter einem großen hölzernen Wassertrog, den er auf dem Rücken trug. Er stellte ihn vorsichtig auf der Bank neben dem Herd ab, ohne den kleinsten Tropfen zu verschütten, und wollte sofort wieder hinaus an seine Arbeit.

Emma rief ihn. Er wandte sich zu ihr und sah sie ruhig an. Sie blickte über sein volles, sanftes Gesicht, über seine große, starke Gestalt, dann eilte sie auf ihn zu, umfing ihn und preßte seinen Kopf an ihre volle weiche Brust. Ihr Kind war auf dem Gut neben den anderen aufgewachsen, gesund und gut, wie sie es stets gesehen hatte, versorgt mit guter Nahrung und Kleidung, erzogen zu redlicher Arbeit, die ihm gerecht belohnt wurde. Nie hatte sie Last und Sorgen um ihn gespürt. Sie hatte ihn auch nicht mehr geliebt, nicht mehr betreut und geliebkost als die anderen Kinder, die Kinder des Herrn. Jetzt fühlte sie plötzlich, daß er ihr Kind war, ein Teil ihres Wesens, ihres Fleisches und Blutes. Sie fühlte noch einmal, wie sie ihn empfangen hatte mit bitteren Schmerzen und geboren in Schmerzen, aber in Freude, wie sie ihn genährt hatte mit der Nahrung ihrer Brust, die geheimnisvoll mit ihm zugleich in ihrem Leib entstanden war. Und nun erschütterte sie das Glück, daß ihr Kind noch da war, unverloren, daß es, behütet vor so furchtbarem Schicksal, groß geworden war, daß es in ihrer Nähe lebte und sie es umarmen konnte. Unaufhörlich strich sie über seinen goldgelockten Kopf und ließ ihre Tränen darauf niederregnen. Denn zugleich mit ihrem Glück ermaß sie den Schmerz der anderen, der unglücklichen Mutter.

Fritz, tief in die Umarmung seiner Mutter gepreßt, hielt still. An seinem Ohr hörte er das Pochen ihres Herzens, es kam weich, klar und fern aus der Tiefe ihrer reichen Brust Es jagte ihn nicht auf, in wohliger Ruhe fühlte er die Wärme des mütterlichen Blutes an seinem Körper herabströmen. Er fühlte, nun war alles gut, alles mit ihm in Ordnung, und mit den Armen umschlang er fest die volle, weiche Gestalt der Mutter, wühlte seinen Kopf mit sanftem Druck tiefer in ihre Brust hinein. Gemeinsam hob und senkte sich beider Atem.

Im Wohnzimmer war inzwischen eine Kommission der Justizbehörde eingetreten, die gekommen war, das Terrain zu besichtigen und den Tatbestand aufzunehmen. Am frühen Morgen schon hatten sie sich von den Nachforschungen, die mit soviel Planmäßigkeit und Genauigkeit vollführt worden waren, Bericht erstatten lassen, hatten selbst noch einmal alles überprüft und waren nun auch zu der Überzeugung gelangt, daß das Kind verschleppt sein müsse. Sie hatten das Gesinde vernommen und lauter offene Augen gesehen und ehrliche Antworten erhalten. Bei Fritz hatte das Verhör einen Augenblick gestockt. Einer der Beamten hatte ihn wiederholt gefragt, ob er nicht doch die kleine Anna gesehen habe, da sie mit ihm zur Scheune gegangen sei, und weiter, was es mit dem Vogelnest für eine Bewandtnis habe. Er hatte dann auf die gleichmäßig lautenden Antworten »Ich weiß es nicht«, »Ich habe nichts gesehen«, »Ich weiß kein Vogelnest« zornig werden wollen. Doch da hatte der Herr selbst die Hand auf die Schulter des Knaben gelegt und ruhig gesagt: »Er ist ein braver Junge. Er ist aufgewachsen bei mir!« So blieb als einziger Anhaltspunkt schließlich nur der Bettler auf dem Hof, der alte Mann mit dem roten Streifen am Hals, von dem niemand wußte, war es ein Tuch oder eine Wunde.

Der Beamte verfaßte sein Protokoll, las es vor und ließ es unterzeichnen. Er versprach, bald Nachricht über den Verbleib des Kindes zu geben. Es würde alles getan werden, um in diese Angelegenheit Licht zu bringen. Außerdem sei die Behörde ja auch außerordentlich unterstützt durch die reiche Belohnung, die der opferwillige Vater für das Wiederauffinden des Kindes ausgesetzt habe. Diese errege überall die größte Bewunderung. Fürs erste wolle man die Spur des Bettlers, der an dem Tage verschiedentlich in der Nähe des Gehöftes gesehen wurde, verfolgen und sich auch mit der Schwester des Herrn, der Baronin G., in Verbindung setzen, wegen näherer Auskunft über die Zigeuner, die auf ihrem Besitz festgehalten worden waren. Schon zum Gehen bereit, wandte sich der wortführende Kommissar noch einmal zurück und sagte zögernd, schonungsvoll, in gesenktem Tone: »Haben Sie auch bedacht, daß die Möglichkeit eines Unzuchtverbrechens oder Mordes neben der eines Raubes vorliegt?«

Der Vater antwortete ruhig: »Ich habe das bedacht. Aber man muß alles tun!«

»Selbstverständlich,« erwiderte der Beamte, »denn auch ein solches Verbrechen bedarf ja der Aufklärung!«

Die Beamten verließen das Zimmer, drückten sich schmal an der Frau vorbei, die an der Tür lehnte. Mann und Frau blieben allein. Das Zimmer war still, voll von sanfter Dämmerung der großen Bäume vor seinen Fenstern. Der Mann ließ sich schwer auf den Stuhl vor dem Schreibpult nieder. Sein Kopf sank auf die Brust

Die Frau rief leise von der Tür her: »Christian!«

Es kam keine Antwort, kein Blick, kein Zeichen.

Der Mann hob den Kopf, doch vermochte er nicht zu sprechen, noch die schweren Lider von den Augen zu heben.

Die Frau ging zu ihm hin, nahm seinen weißen Kopf und preßte ihn gegen ihre Brust: »Christian, es wird noch alles gut werden. Ich bin doch deine Frau«, sagte sie.

Er schob sie sanft von sich. »Was wir gelebt haben, das ist alles vorbei, das dürfen wir nicht mehr wollen«, sagte er; seine Stimme war ohne Klang.

»Aber Anna kann noch wiederkommen, es ist doch mein Kind auch. Was soll denn mit ihr geschehen sein, es muß noch alles gut werden, was soll denn sonst kommen?«

»Wir müssen versuchen, das Unglück zu begreifen«, sagte der Mann.

»Ich kann das nicht, Christian,« sagte Martha, »Christian!« rief sie noch einmal leise ihn an. Er stand auf und ging an ihr vorüber aus dem Zimmer, ohne auch nur einmal sie angeblickt zu haben. Sie sah ihm nach. Ihre aus dem Boden des Glückes entwurzelte Seele konnte nichts mehr fassen. Ihr Gesicht verwandelte sich. In einem starren, wie blinden Blick waren ihre Augen so weit aufgerissen, daß die Lider schmerzten, über den hochgeschobenen Augenbrauen hatte die Stirn wie durch Zauberschlag sich in tiefe, harte, von Schläfe zu Schläfe laufende Furchen gefaltet, die sie nie mehr verließen. Der Mund, der bisher durch sein Lächeln das Fleisch der Wangen heiter kräuselte, war breit und scharf über den fest ineinandergebissenen Zähnen geöffnet und riß zwei Furchen bis zum Kinn.

Das Mittag wurde ausgerufen. Sie wandte sich und ging zur Küche. Das Gesinde kam herbei, drückte sich still an seine Plätze und ließ die Blicke scheu und schnell über das verhangene Gesicht des Herrn, über die gefurchten Züge der Frau gleiten, in deren blinde Augen sie hineinsehen konnten wie in totes Glas; dann sahen sie auf ihre Teller nieder. Die Kinder kamen auch, Karl und Gustav, und Fritz zwischen beiden. Sie sahen sich nur untereinander an, sie vermieden den Anblick der Eltern, der Angst und Schrecken verbreitete. Emma brachte die Speisen, und der Herr verteilte sie. Das Gebet kam, das die letzten Tage nicht gesprochen worden war. Emma versuchte zu reden, doch aufsteigende Tränen schnürten ihr die Kehle zu. »Fritz,« rief sie leise, »bete du.« Fritz erhob sich von seinem Platz, neigte den Kopf und sagte mit seiner sanften schönen Stimme das Gebet. Alle senkten hastig die Löffel in die Teller, das Mahl war gut und reichlich, wie immer. Doch Mann und Frau aßen nicht, und eine schwere Beklemmung lag über der Runde. Hastig und verstohlen stillten die andern nur notdürftig ihren Hunger und standen bedrückt, halb nur gesättigt, vom Essen auf. Nur die drei Knaben hatten erst eine Weile verlegen und zögernd mit den Löffeln gespielt, doch dann sich unbekümmert ihrem jugendlichen Hunger überlassen. Schnell strömte nach dem Essen alles auseinander. Alles strebte so weit als möglich von dem Hause fort, fort aus dem Anblick der Herrschaft. Schnell und flüchtig erledigten sie ihre Arbeiten, nicht mehr wie bisher mit tiefem Ernst und freudigem Eifer, es drängte sie immer wieder, beisammen zu stehen, das Unglück zu besprechen, das sonderbare Wesen der Herrschaft und ihr eigenes Los zu beklagen. Es fehlte ihnen der klug waltende Wille, der vorsorgende Befehl, dem sie so gern gehorcht hatten, es fehlte ihnen der lohnende Blick des Herrn für ihren Fleiß. Das Essen, der schöne Feierabend ward ihnen zur Strafe. Das Haus, das ihrer aller Heimat war, wurde ihnen zum Schrecken.

Am Abend, nachdem wieder rasch und schweigend abgegessen worden war und das Gesinde schnell aus der Nähe des Hauses flüchtete, um erst im Dunkel in den Hof zurück und in ihre Kammern zu schlüpfen, herrschte früh schon völlige Stille über Haus und Hof. Verlassen die Bänke unter den abendlich duftenden, mächtigen Bäumen des Hofes, verlassen der milde, verschwiegene Teich. Von Emma sanft um den Leib gehalten, war die Frau in das Schlafzimmer gegangen, nachdem sie stumm und tatenlos den ganzen Tag in der Küche gesessen hatte. Der Mann war in das Wohnzimmer getreten, in das Zimmer, in dem nur die Erinnerungen an die Zeit waren, wo er allein und einsam gelebt hatte. Nach drei schlaflosen Nächten empfand er tiefe Müdigkeit. Inmitten des Zimmers stehend, fühlte er seine Knie wanken, seinen Körper zittern und taumeln. Er wollte auf das Sofa zugehen, sich niederlassen und ruhen, doch plötzlich erinnerte er sich des leisen Rufes, mit dem die Frau heute seinen Namen genannt hatte. Zögernd und schwer verließ er das Zimmer, stieg die Treppe empor, stand lange vor dem Schlafzimmer still. Ein furchtbares Grauen überfiel ihn davor, einzutreten, die Frau zu fühlen, ihren weiten schwarzen Blick, das Bett des Kindes zu sehen, leer und verlassen. Durch den schmalen Spalt der halb offenen Tür trat er endlich ein. In der mondlosen Nacht war alles verhüllt, das Bettchen des Kindes nicht zu sehen. Er hörte seufzend und schwer die Atemzüge der Frau. Er konnte sie nicht erkennen, doch es war, als sei ihr Blick aufgegangen in der großen schweren Nachtdunkelheit und umwoge ihn drohend und fordernd zugleich. Er tastete sich vor und entzündete Licht

Hell, weiß und leer stand das Bettchen des Kindes plötzlich vor ihm. Tief unter seinem geneigten, verhangenen Blick erschien es, ein geheimnisvolles Zeichen des unbegreiflichen Unglücks, das geschehen war. Lange sah er darauf nieder, Gefühl ohne Namen durchströmte ihn.

Plötzlich hob er die schweren Lider von den Augen, die im Schein der Kerze nicht mehr wie Augen, sondern wie zwei Todeswunden in dem Gesicht unter der hohen, reinen Stirn sich zeigten, und sah auf die Frau. Sie lag im Bett auf dem Leib. Ihr Gesicht verborgen in die Kissen, Blick und Auge verborgen in den Kissen. Schwer und halb erstickt preßte sie den Atem aus der Brust hervor. Er löschte das Licht, nun schien ihm alle Finsternis rein, sie war nichts mehr als der versunkene Tag, aus dem der neue wieder erstehen würde.

Leise verließ er das Zimmer wieder und kehrte in die Wohnstube zurück. Seine große Gestalt zusammenziehend, legte er sich auf das Sofa und fiel endlich in tiefen, traumlosen Schlaf. Doch dieser Schlaf war so von Verzweiflung durchtränkt, daß er spät am Morgen erst erwachte, mit bleierner Müdigkeit in den Gliedern, das Herz in matten langen Schlägen leise pochend, und aus dem schlaff geöffneten Munde rann ihm bitterer Speichel langsam an den tief gezogenen Mundwinkeln herab in den traurig verwirrten Bart, bis auf die Brust, wie kalte Tränen der tiefsten Trostlosigkeit.

Als am frühen Morgen sich weder Mann noch Frau zeigten, war Emma erfreut darüber und hoffte, daß beide schlafen und sich erholen würden. Sie sorgte dafür, daß sie nicht geweckt würden. Leise geschah die Morgenarbeit, am Brunnen beim Waschen wurde nicht gezankt und geneckt, und das Vieh wurde schnell vom Hofe getrieben. Sie weckte und betreute die Kinder und schickte sie mit in die kleine Stadt zum Wochenmarkt, um ihnen eine Freude zu machen. Sie verlud und maß die Waren ab, die zum Verkauf gebracht werden sollten. Sie ließ den Schlächter, der das Schlachtvieh abholen wollte, sich selbst die besten Stücke aussuchen, den Müller sich selbst das Korn abmessen, das er sich zum Mahlen holte. Zwei Pferde mußten beschlagen werden, ein Bienenvolk, das verschwärmt war, eingeholt und neu verpflanzt werden. Doch sie litt nicht, daß jemand an das Schlafzimmer anklopfte, sondern auf Treu und Glauben, nach der guten Absicht ihres guten Herzens erledigte sie alles. Große Hilfe hatte sie an Fritz, den sie hin und her schicken konnte, der arbeiten, aufpassen und spionieren mußte, der unermüdlich lief und gehorchte, und dem sie zur Belohnung, und sich selbst zum Trost, oft über seine weichen, hellen Locken strich. Sie war stolz, als es um zehn Uhr schon wieder ganz still auf dem Hof geworden war und Mann und Frau noch nicht gekommen waren. Schnell bereitete sie in der Küche die Mahlzeit vor, als sie, aufsehend, plötzlich den Herrn mitten auf dem Hof erblickte. Das erbleichte Haupt in der hellen, heißen Sonne, so ging er mit verdrückter Kleidung langsam mit schweren Schritten auf den Brunnen zu, pumpte den Trog voll Wasser, tauchte seine Hände ein und ließ sie lange darin ruhen. Dann neigte er sich und tauchte auch das Gesicht in das Wasser, zog sein Tuch aus der Tasche und trocknete sich ab, während er über den Hof ging, den Feldern zu. Emma erschrak tief. Nie wusch sich der Herr am Brunnen, sogar den Kindern war dies verboten, und sie taten es nur heimlich, weil sie sich gern mit den anderen Burschen neckten und bespritzten. Besorgt eilte sie die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. Leise öffnete sie die Tür. Die Frau lag noch im Bett, in den Kleidern, das Gesicht nach unten gepreßt, auf dem Leib, und stöhnte schwer. Emma rührte sie an, sie erwachte nicht, Emma packte sie vorsichtig bei den Schultern und wendete sie um. Die Frau hielt noch immer die Augen geschlossen, ihr Gesicht war geschwollen und gerötet, die Falten des Kissens hatten in das Fleisch der Wangen tiefe weiße Gräben gedrückt Der Mund war geöffnet, und mit den tiefen schweren Atemzügen stieß sie Stöhnen hervor, während ihre linke Hand in steter Bewegung ihre linke Brust umkreiste. Emma riß ihr das Kleid auf, holte ein Handtuch, tauchte es in Wasser, hielt sanft die kreisende Hand Marthas fest und preßte ihr das Tuch gegen die nackte Brust. Mit einem leisen Aufschrei erwachte die Frau. Die Augenlider entblößten ihren Blick, der weitgeöffnet noch funkelte von dem Traum, der sie bis jetzt umfangen gehalten hatte. Dieser Traum war voll von Hoffnung gewesen und voll von bräutlichem Verlangen.

Die Frau blickte an sich nieder, sah ihre bloße Brust aus dem Kleid aufschimmern, sie blickte zur Seite, der Mann war nicht da, sie blickte auf das Bett zu ihren Füßen, das Kind war fort. Sie war keine Frau mehr, sie sollte keine Mutter mehr sein. Schweiß rann an ihr nieder, Brust und Rücken entlang, von der Stirn herab gegen Schläfe und Augen. Sie glaubte, daß sie weine, und fühlte sich mit einer langsamen Bewegung der Hand in die weitgeöffneten, trockenen Augen. Sie sah Emma an, die mit traurigem Blick ihr begegnete. Sie schleuderte das nasse Tuch von sich, stand auf und schloß ihr Kleid. Sie sprach nichts, und auch Emma wagte nichts zu sagen, sondern ging still hinaus, langsam wieder zur Küche hinab. ›Sie waren nicht zusammen diese Nacht,‹ dachte sie traurig, ›warum tragen sie es nicht miteinander? Im Glück waren sie so gut zusammen.‹

Christian war an den Feldern entlanggegangen, die knisternd in der Glut des Mittags reiften. Seinem gesenkten Blick boten sich die üppig gefüllten Ähren dar in der glatten Fläche der ebenmäßig stehenden Halme. Es war eine gute Ernte, bald konnte mit dem Schnitt begonnen und frühzeitig die Wintersaat angesetzt werden. In der Wasserfurche in Schlag fünf traf er Blank, den Wirtschafter. Als dieser den Herrn endlich wieder hier zwischen den Feldern gehen sah, war er so voll Freude, daß er zum Gruß seinen breiten Strohhut vom Kopfe riß.

»Ach, Herr!« sagte er, und seine grauen ernsten Augen hoben sich scheu zum Gesicht des Herrn auf, »ein gutes Korn und ein früher Schnitt, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Christian, »übernächste Woche könnt ihr wohl anfangen!«

»Wann, Herr, Mitte oder Ende? Es ist wegen der Tagelöhner.«

»Mitte oder Ende«, wiederholte der Herr und ging weiter.

Traurig enttäuscht sah ihm Blank nach. »Man kann nichts mit ihm sprechen,« dachte er, »ein guter Herr, aber alles wird ihm verlorengehen.«

Zum Mittagessen war der Herr nicht da, doch die Frau kam und setzte sich an ihren Platz, verteilte das Essen und aß auch selbst. Die Söhne waren noch nicht aus der Stadt zurück, doch schien sie es nicht zu bemerken, sie starrte vor sich hin, und nur, als Fritz zu beten begann, zuckte sie zusammen und richtete ihren aufgerissenen Blick lange auf ihn. Nach dem Essen stand sie auf und ging in den Garten, wo Emma sie dann ziellos hin und her gehen sah. Später, als sie die Frau zur Vesper rufen wollte, fand sie sie auf einer kleinen Bank sitzen, unbeweglich, mitten im glühenden Sonnenschein, und kleine Schweißperlen standen in den Furchen ihrer Stirn. Sie hörte auch nicht auf ihren Anruf und blieb regungslos sitzen.

Christian war nach vier Uhr, als der Hof vom Melken wieder leer war, zurückgekommen und sofort in das Wohnzimmer eingetreten. Es war kühl und von grüner Dämmerung erfüllt. Auf dem Tisch stand ein Becher Milch und ein Stück Brot, heimlich von Emma bereitgestellt. Er aß und trank. Dann ging er zum Schreibsekretär, öffnete ihn und zählte das Geld ab für den morgigen Wochenlohn. Es war Sonnabend, die Woche des Unglücks hatte sich erfüllt. Er trat zu dem Schrank, in dem seine Bücher aufgestellt waren, und streifte mit dem Blick über sie hin. Am Ende einer Reihe las er auf breitem, schwarzem Rücken in goldenen Buchstaben »Die Heilige Schrift«. Lange ruhte sein Blick auf diesen einfachen Worten.

Zum Feierabend erschien er zum ersten Male wieder bei Tisch und setzte sich neben die Frau. Er aß. Er hob seinen schweren Blick und sah die beiden Söhne an. Beim Aufstehen sagte er: »Morgen ist Kirchgang für alle. Ihr könnt auch den Feldwagen noch einspannen.« Dann ging er hinaus, von neuem durchwanderte er die gesegneten Felder.

Auf alle, die am Tisch saßen, hatten seine Worte eine tiefe, befreiende Wirkung. In den Gesichtern der Männer glätteten sich die mürrischen Züge, die Frauen atmeten hörbar auf, Emmas Augen füllten sich mit Tränen einer weichen, tröstlichen Rührung. Der Gedanke an die Fahrt zur Kirche, daran, einmal wieder fort zu kommen von der verwirrenden Nähe des Unglücks, und dann auch daran, vor Gott zu treten, in seinen Willen die furchtbar drückende Last niederzulegen, in das Vertrauen zu ihm sich zu retten, im Gebet sich zu trösten, das erfüllte alle mit einem Anflug von Freude. Sie gerieten in eine eifrige Geschäftigkeit, sie stritten sich darum, mitzukommen, niemand wollte der sein, der notwendigerweise die Arbeit im Haushalt übernehmen mußte. Auf dem Hof vor dem Gesindehaus drängten sie sich, bürsteten ihre Schuhe und Röcke, die Mädchen holten in Kübeln Wasser vom Brunnen in ihre Kammern, um sich am ganzen Leibe zu waschen. Heimlich wurde das Feuer in der Küche noch einmal angeschürt zum Erwärmen des Wassers und zum Glühendmachen eines Bügelstahles, mit dem sie auch noch die weißen Schürzen und Kopftücher glätteten.

Nur zwei Gemüter blieben unbewegt und ohne Teilnahme an dem Aufschwung der andern. Das waren Fritz und Martha, die Frau.

Emma ließ die Frau nicht von sich, sie beschäftigte sie, gab ihr Befehle wie einem Kind. Sie hieß sie Wäsche und Sonntagskleider für den Mann und die Kinder heraussuchen, schickte sie im Hause umher, während sie selbst schnell die Betten des Herrn in das Wohnzimmer trug, sie auf dem Sofa ausrichtete, seine Kleider über den Stuhl hing, die Leibwäsche auf den Tisch legte. Auch eine Waschschüssel mit Wasser trug sie herbei, Seife und Handtuch dazu, damit der Herr nicht wieder, wie am Morgen, am Brunnen sich waschen müsse. Langsam wurde es dunkel und alles ruhig. Niemand wußte, ob der Herr zurück war oder nicht. Die Frau ging in das Schlafzimmer, Emma verschloß Keller und Küche, und ihre Müdigkeit war so groß, daß sie trotz ihres Kummers sofort in Schlaf versank, als sie kaum ihr Haupt auf das Lager gebettet hatte.

Der Sonntagmorgen begann strahlend und schön.

Christian erwachte früh. Er war im Dunkeln heimgekehrt, in gutem Schlaf hatte sein Körper geruht, seine Augen grüßten Sonne, Himmel und prangende Erde, sein Ohr wurde umschmeichelt vom morgendlichen Jubeln der Vögel. Der schwere Duft der reifenden Felder durchwogte das Zimmer. Seine Haut brannte wohlig, als er sich wusch, er verspürte Hunger und Durst. Die sonntäglichen Kleider legten sich schön und frisch um seine Gestalt. Er lebte und fühlte sich leben. Und doch war das Unglück da, das Furchtbare geschehen, seine Welt vernichtet. Die Kraft, die sein Körper, seine Sinne, sein Geist wiedergewonnen hatten in dieser Nacht, war nur da, um das Geschehene noch einmal mit neuem Schmerz zu erleben. Er dachte zurück an seine Jugend, an Vater und Mutter. Sie hatten gelebt und gearbeitet, Sorgen und Glück gehabt, die Kinder erzogen nach bestem Wissen und Gewissen, und ruhig, wie sie gelebt, waren sie gestorben. Auch er hatte gearbeitet und mit Wissen niemand unrecht getan, er hatte gelebt wie die andern, Gott gebeten, wenn die Saat ausgestreut war, ihm gedankt, wenn sie geerntet war, hatte die Kinder seinen Geboten geweiht, seine Feste gefeiert, und vor allem hatte er sein Leben gegründet auf die tiefe Gerechtigkeit Gottes. Nun aber, in dem grauenvollen Schicksal seines unschuldigen Kindes, das er nur ahnte, das, wenn es eine Strafe sein sollte für vergangene oder verborgene Sünden, blind und grausam gegen einen Unschuldigen gerichtet war, fand er das von ihm gewaltig und vertraut zugleich gefühlte Dasein Gottes nicht mehr.

Als er sich jetzt zum Kirchgang rüstete, war sein Herz noch einmal bewegt. Verlangen erfüllte ihn, Hilfe zu finden in Gottes Wort. Er war bereit, sich zu opfern, das Leiden aufzunehmen, auch die Qual und den martervollen Tod seines Kindes, wenn sich Gott ihm nur noch einmal zeigte, auch in diesem tiefsten Dunkel.

Als er Leben auf dem Hofe bemerkte und das Erwachen der anderen, trat er aus dem Zimmer in die Küche. Emma richtete den Tisch, Fritz war da, schon zum Kirchgang angekleidet, ging auf den Herrn zu und fragte ihn bittend: »Darf ich kutschieren, Herr?«

Über das Gesicht des Herrn glitt der Schein eines Lächelns. »Kannst ja die Schimmel führen«, sagte er, und Fritz dankte freudestrahlend.

Emma fand die Frau im Schlafzimmer vor der Truhe kniend, das schwarze, seidene Brautkleid in der Hand haltend.

»Wollt Ihr das Seidene anziehen, Frau?« fragte sie erschrocken.

Martha sah sie an, dann blickte sie nieder auf das Kleid und sagte leise: »Nein, ich will nicht trauern!« und klappte die Truhe zu.

»Zieht das blaue Leinene an, Frau, es wird Euch leicht sein in der Hitze«, sagte Emma sanft, wie eine Mutter zur Tochter. Sie ging zum Schrank, holte das Kleid hervor und legte es bereit. Die Frau nickte gehorsam.

Inzwischen waren draußen die Wagen in den Hof gerollt und eingespannt. Alles war sauber und blank gewaschen und die Geschirre der Pferde glänzend geputzt. Fritz war als erster fertig mit seinem Wagen, er lehnte an dem Schimmel, pfiff leise vor sich hin und knallte mit der Peitsche, er freute sich auf das Kutschieren. Der Herr kam und stieg in die Kutsche ein, nahm die Zügel in die Hand. Scheu traten die Söhne näher und drückten sich auf ihre Sitze. Endlich kam die Frau, von Emma geführt. Das Gesicht von einem großen braunen Strohhut umschattet, schritt sie mit weichem, wiegendem Gang näher, ihre Gestalt, in zarter Fülle, war immer noch jugendlich. Der Mann beugte sich ihr entgegen und hob sie auf den Wagen. Sie erbebte, als er sie berührte. Röte übergoß ihr Gesicht, das aber unbeweglich blieb. Wie gehämmert waren die Furchen der Stirn, wie aus Erz gegossen die aufgerissenen, glühenden Augen, die nahe vor seinen Blick gehoben waren.

Als der Wagen fuhr, haschte sie nach seiner Hand, und ohne ihn anzusehen, umkrampfte sie seine Finger auf dem ganzen Wege, bis sie vor der Kirche hielten. Sie wurden sofort von allen Seiten umringt, neugierige und teilnahmsvolle Blicke ließen nicht von ihren Gesichtern, viele kamen und drückten ihnen die Hand, versuchten ein paar Worte, einen guten Wunsch zu sprechen, einen Ratschlag zu erteilen. Als sie die Kirche betraten und an ihre Plätze gingen, wandten sich alle nach ihnen um, »als wäre ich eine Braut«, dachte die Frau.

Die Orgel setzte ein, der Gesang begann, angeführt von dem Chor der Kinder und den jungen, unverheirateten Burschen und Mädchen, oben auf der schmalen Empore. Zarte, helle Stimmen erhoben sich, die erste unter ihnen, die weich und sicher einsetzte, war die von Fritz, dann fiel rauh und kräftig die ganze Gemeinde ein.

Es war der sechste Sonntag nach Trinitatis, die Zeit der Fruchtbarkeit und der Ernten. Es war die Zeit der Lobpreisung Gottes. Der Choral begann: »Wie groß ist des Allmächt'gen Güte...«

Die Kirche war einfach, die Wände weiß getüncht, der Altar aus weißem Stein war flach wie ein Tisch, ohne Zierat, nur das Kreuz stand auf ihm, aus breiten goldenen Balken zusammengesetzt, die mächtig in den kahlen, schmucklosen Raum hineinleuchteten, die aber weder einen Schmuck noch den Leib des Herrn trugen. Denn Jesus und das Wunder seiner Geburt, die Offenbarung seiner Auferstehung standen dem Herzen und dem Glauben dieser Gemeinden ferner als Gott, der Herr, der gewaltige Schöpfer der Welt, der allwissend war, Strafe und Vergeltung verhieß, und den sie fürchteten. Seine Gebote waren nahe ihrem Herzen, sie glichen für sie den mächtigen Gesetzen der Natur, die ihr Leben mit allen seinen Bedürfnissen unmittelbar beherrschten.

Während des Gesanges hatte der Pfarrer die Kanzel betreten. Noch nie hatte ihn jemand auf diesem Gang erblickt, stets war er plötzlich oben erschienen. Es war ein kleiner gedrungener Mann, der aus einer Familie stammte, die schon in der dritten Generation Pfarrer war. Er selbst hatte keine Kinder. Sein Lebenswandel war zurückgezogen. Er kümmerte sich um seine Gemeinde nur, soweit es die Zeremonien seines Berufes verlangten. Seine Predigten hielt er genau nach dem in den kirchlichen Gesetzbüchern angegebenen Pensum. Als jetzt der Gesang beendet war, sprach er:

»Lasset uns beten!« Die Gemeinde erhob sich von den Sitzen und faltete die Hände. Er sprach das Gebet der Bitte um Andacht: »Herr, mein Gott, getreuer, himmlischer Vater! Wenn wir jetzt vor Dich treten, um unsere Herzen zur Andacht, zu Deinem furchtbaren und doch gnädigen Gotteswort zu erheben, so gib uns nun Deinen heiligen Geist, daß er unsere Augen öffne, zu sehen die Wunder an Deinen Gesetzen; daß er durch Dein Wort den Glauben in meinem Herzen wirke und vermehre und meinen Willen kräftiglich lenke, daß ich mich freue über Deine Zeugnisse und von Herzen an Dich glaube und Deine Gebote halte. Lob, Preis, Ehre und Dank Dir, Herr, in Ewigkeit, Amen!«

»Amen!« wiederholte die Gemeinde.

Christian seufzte tief. Seine bedrückte Brust hob sich, die Schultern hielt er gestrafft, die schweren Lider waren aufgeschlagen, der wunde, versunkene Blick seiner Augen hing an den Lippen des Geistlichen. Er fühlte, hier war er nicht mehr Christian B., der Herr, der klug und streng gearbeitet, der vieles erreicht und gewonnen hatte, hier war er kaum mehr Mensch. Denn wie er jetzt in plötzlich ausbrechendem Gefühl seines Kindes gedachte, hob es ihn über sich selbst. Es öffnete sich seine Seele. In unirdischen Kreisen, in die sein Geist sich hob, glaubte er seines entschwundenen Kindes Seele zu begegnen, und er fühlte sich bereit bis zum Letzten.

Der Pfarrer sprach weiter: »Vernehmet nun das Wort der Heiligen Schrift, wie es geschrieben steht im Buche Mosis, zwei, im dreiunddreißigsten und vierunddreißigsten Kapitel.«

Mit ungeheurer Erregung lauschte Christian den Worten des Geistlichen, seine gefalteten Hände mußte er lösen und seine schmerzend sich weitende Brust umklammern, kaum vermochte er zu stehen.

Der Pfarrer las vor: »Moses sprach zum Herrn: So laß mich Deine Herrlichkeit sehen.

Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen und will ausrufen des Herren Namen vor dir.

Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich.

Und sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.

Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.

Wenn dann nun meine Herrlichkeit vorübergehet, will ich dich in der Felskluft lassen stehen, und meine Hand soll ob dir halten, bis ich vorübergehe.

Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen.

Aber mein Angesicht kann man nicht sehen.«

Keuchend war Christian auf die Bank zusammengesunken. Schweiß rann von seiner hohen Stirn, sein Kopf mit den schwer verhangenen Augen sank auf die Brust. Sein Stöhnen klang furchtbar durch die Stille.

Aufgeregtes Flüstern des Bedauerns erhob sich ringsum, während die Gemeinde sich schwerfällig wieder auf die Bänke niederließ. Hier und da seufzte jemand tief.

Es war ein anderes Unglück als das, was sonst von Gott und Natur über sie verhängt wurde, wie Krankheit, Tod, Armut oder gar Krieg. Und sie begriffen, daß der Vater des verlorenen Kindes Trost und Antwort von Gott erwartete. Sie horchten auf und verfolgten Wort für Wort die Auslegungen des Geistlichen.

Auf der Empore drängte sich Fritz durch die Kameraden vor bis zur steinernen Brüstung, um gut und aufmerksam zu hören, er freute sich darauf, der Mutter genau den Text der Predigt wiederzuerzählen, denn er lernte schnell auswendig und merkte sich leicht.

Auf der Bank, neben den Eltern, saßen Karl und Gustav, preßten inbrünstig die gefalteten Hände ineinander, im Sturm erhoben sich ihre kindlichen Bitten. Das Unglück zeigte sich ihnen noch fern und sanft, ihre Jugend schützte sie davor, zu begreifen und zu verzweifeln, und schenkte ihnen unbegrenzte Zuversicht und Hoffnung.

Das Antlitz der Mutter glühte. Ihre Brust hob und senkte sich stürmisch, sie bewegte den Mund, es war, als versuchte sie krampfhaft zu lächeln. Ihr Blick aber, der starre, aufgerissene Blick unter der gefurchten Stirn, war festgebannt auf das hohe Kirchenfenster ihr gegenüber, das in buntem Glas die Darstellung Christi zeigte, wie er die Kinder segnet. Dieses Bild hatte sie gegrüßt, da sie als Braut zum ersten Male hier mit Christian gestanden hatte. Wie jetzt, hatte sie auch damals nichts vernommen von den Worten des Geistlichen. In einer Wolke von Lächeln und Glück hatte sie gestanden, ganz für sich, wie sie jetzt stand, allein, ohne Gedanken, immer nur die Erinnerungen und Bilder von Glück vor sich, nach denen sie zurückverlangte. Ihre Füße bewegten sich, wie in eiligen Schritten jagten und scharrten sie am Platze.

Christian fühlte ihre Erregung, das Zucken ihrer Füße, die laufen wollten und entfliehen. Über sein erhobenes, nur noch Gott bereites Herz legte sich weicher, menschlicher Schmerz. »Wir sind alle verloren!« dachte er. Er sah die Frau vor sich, wie sie gewesen war, als seine lächelnde Braut, als gehorsame Frau, als hingebendes Weib. Alles Glück hatte sie aus seinen Händen empfangen. Nun, im Unglück, war sie allein, mußte er sie verlassen. Denn vom Leben, das er in seiner ganzen beglückenden Fülle gekannt und genossen hatte, das für ihn aber nun von göttlichem Sinn und von göttlicher Ordnung verlassen war, trieb es ihn zum Tod.

»Gottes Angesicht darfst du nicht sehen, kein Mensch lebt, der es sieht.« Dieses Wort erfüllte ihn langsam mit einem gewaltigen, eisigen Glück.

Von diesem Augenblick an lebte er nur noch für den Tod. Er würde sterben, und in der Nacht des Todes, die schwärzer war als alle Nächte, deren Finsternis er immer gefühlt hatte, würde Gott ihm antworten, ihm Rechenschaft geben über seines Kindes entschwundene Seele. Da würde er Gottes Angesicht wiedererkennen im Glanze seines auferstandenen Glaubens. Der schmale Raum der Felskluft der Bibel, den Gott trennend, nach den Worten der Schrift, zwischen sich und ihm aufriß, es waren die Tage seines Lebens, von denen weg er sich dem Tode zusehnte, Gott entgegen, den er nicht lassen wollte.

Müde, aber in Frieden erhob er sein Antlitz wieder von der Brust Der Pfarrer segnete die Gemeinde, nach dem Amen setzten die Orgel wieder ein und der Gesang des Chores, angeführt von der hellen, schönen Stimme Fritz', des Mörders. Dann leerte sich die Kirche schnell.

Es war heißer Mittag. Über den weißen, staubbedeckten Wegen, auf den Ebenen der gelben, still reifenden Felder zitterte die Luft in Glut Die kleinen Bäche zwischen den Wiesen waren versiegt, die zarten Blumen an ihren Rändern verdorrt. Kein Vogel rief, keine Wolke war am heißen, hellen Himmel. Nichts schien sich zu rühren, nur die Wagen von Treuen rollten dahin, trugen die schweigenden Menschen, die Pferde liefen mit gesenkten Köpfen, lässig hielt Fritz die Zügel über seinem Schimmelpaar. So kehrten sie heim.

An diesem Sonntag war also eine Woche und ein Tag vergangen seit dem Unglück, seit dem Geburtstag des Kindes, das fröhlich noch unter ihnen allen gelebt hatte, sie durch sein Dasein in Entzücken und Freude versetzt hatte, gerade an diesem Tage in besonderem Maße. Und während draußen in der Welt, in den fremden Städten und Ländern, vor tausend und aber tausend fremden Blicken sein Bild erschien, sein Name ertönte, sein Geschick die Herzen ergriff und um Hilfe aufrief, war es hier, wo es gelebt hatte und am nahesten geliebt worden war, mehr als tot. Denn an keinen Grabhügel konnten die Menschen treten und sein Gedächtnis ehren. Ins Leere gerichtet waren aller Liebe und Tränen. Es war ihnen allen entschwunden, so jäh entschwebt, daß es selbst schon vergessen schien, und nur der Schmerz um die zertrümmerte kleine Welt des Glückes blieb.


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