Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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V

Inzwischen waren Vater und Sohn in die Stadt gekommen. Mit großen, in den neuen Stiefeln noch unbeholfenen Schritten trabte der Junge auf den Wegen nebenher. Zuerst gingen alle drei zum Getreidehändler und holten das bereitgehaltene Bargeld ab. Der Vater teilte es in drei Teile. Den einen gab er Blank, der ihn auf die Sparkasse als Reserve für alle Fälle tragen sollte, für die beiden anderen kaufte er zwei kleine lederne Beutelchen, an einem festen Band um den Hals zu tragen, und füllte sie mit dem Geld, eines für sich, eines für den Sohn.

»Solange wir zusammen sind, brauchst du es nicht anzurühren,« sagte er zu dem Sohn, »wenn wir durch ein Unglück getrennt werden sollten, oder mir etwas passiert, sollst du dich nur um dich kümmern, darum achte auf das Geld, denn das ist das Nötigste, was man braucht.«

Am Abend, als sie im Zuge saßen, öffneten sie ihre Kleider und halfen sich gegenseitig, das Geld unter dem Hemd auf der Brust zu bergen.

Immer in den Gedanken an Tod verstrickt, sagte der Vater wieder: »Wenn mir etwas zustoßen sollte, nimm meine Papiere aus der Brieftasche, das sind die Polizei-Ausweise, die man braucht, wenn man im fremden Land begraben werden muß. Du kannst mich überall begraben lassen, wo ich auch sterben sollte. Wenn du dann allein sein solltest, wende dich immer an die Polizeibehörde um Schutz für die Heimreise.«

Der junge Sohn nickte und lächelte. Seit sie im Zuge saßen und fuhren, strahlte sein Gesicht vor Freude.

»Wir werden ja die Schwester wiederfinden«, sagte er leise.

»Vielleicht werden wir sie finden«, sagte der Vater.

Sie reisten bis Mitternacht, übernachteten auf einem Bahnhof und fuhren im Morgengrauen nach Osten weiter. Der Zug war stark gefüllt, an den vielen Stationen wechselten unaufhörlich die Fahrgäste, und Karl wurde nicht müde, die vielen fremden Menschen anzusehen und auf ihre Reden zu hören. Der Vater saß starr da, schlug die gesenkten Lider nicht auf, und seine Hände lagen unbeweglich auf seinen Knien. Am Nachmittag wechselten sie die Strecke und stiegen in einen anderen Zug ein. Hier waren sie fast allein im Abteil, aber es wehte fremde Luft, zwei Männer saßen ihnen gegenüber, in langen, schwarzen Röcken, mit schwarzen Haaren und scharfblickenden schwarzen Augen in bleichen Gesichtern. Sie sprachen leise in fremder Sprache miteinander. Der Sohn begann sich vor ihnen zu fürchten und wagte kaum zu essen, als ihm der Vater von ihrem Proviant reichte.

»Warum sprechen die Leute so? Ich kann sie nicht verstehen«, fragte er leise den Vater.

»Wir fahren in ein fremdes Land, da sprechen alle so«, antwortete er.

»Warum sprechen die Menschen nicht überall gleich? Ich kann sie nicht verstehen, und sie werden mich auch nicht verstehen«, klagte der Sohn.

»Für viele Dinge gibt es keine Antwort in der Welt«, sagte der Vater und strich dem Knaben über den dunklen Kopf. Beruhigt durch diese Liebkosung schlief er ein, und der Vater konnte ihn später nur schwer wecken. Sie waren in der großen Stadt, der letzten Station vor der Grenze, angekommen. Der Sohn war ganz betäubt und verwirrt, als sie den großen Bahnhof entlanggingen, in dem die schwarzen, schweren Züge still und ruhig nebeneinander auf den Gleisen standen, wo so viele Menschen liefen, lärmten und schrien, blendende Lichter brannten, alles mitten in tiefster Nacht. Sie trieben mit der Menge der anderen Reisenden dem Ausgang zu. Plötzlich stieß der Knabe einen lauten, freudigen Ruf aus, so daß alle sich nach ihm hinwandten. In der Eingangshalle des Bahnhofes, die sie eben verlassen wollten, hatte er neben einer großen Eisenbahnkarte das Plakat mit dem Bildnis der Schwester entdeckt.

»Da ist die Schwester, das ist sie!« jubelte er und eilte zu dem Bilde hin. »Da ist sie ja, da ist sie,« stammelte er, zitternd vor Aufregung und mit Tränen des Glückes in den Augen. Die Erinnerung an die Schwester, die verknüpft war mit der glücklichen Zeit seiner Jugend, entfachte einen Sturm der Freude in seinem Herzen, den seligen Kinderglauben, daß nun alles wieder gut sei, weil er das Bild der Schwester, der schon vergessenen, hier in diesem großen, unheimlichen, fremden Haus, in der fremden Stadt wiedersah. »Da ist ja unsere Anna!« sagte er noch einmal zu dem Vater, der neben ihn getreten war, und beide versenkten sich in die Züge des Gesichtchens, das ihnen entgegenlächelte. Diesmal betrachtete es der Vater genau, Spur für Spur, ohne Frage, ohne Hoffnung, ohne Trauer, das Herz in Ruhe. Und doch war es ihm, als begönne das Bild zu leben, die Lider senkten sich über die Augen und hoben sich wieder über einem verwandelten, strengen Blick, das Lächeln des kleinen Mundes schien sich in Weinen zu verziehen, mit dem weisend erhobenen Händchen schien es zu drohen. Der Vater wich vor dem Bild zurück. Wenn das Kind doch noch lebte? Wo war sein Herz? Wo die Liebe für sein Kind, wenn er es wiederfand? Er hatte sich in die Einsamkeit des Todes gerettet, aber um ihn verdarben alle die, die sein Herz erwählt, seine Liebe gezeugt hatte. Traurigkeit und Scham überfielen ihn. Er berührte den Sohn sanft an der Schulter. »Komm, nun wollen wir die Schwester finden«, sagte er.

Vater und Sohn gingen in die Stadt, deren hohe Häuser und lange, gepflasterte Straßen, die statt mit weißem, leuchtendem Schnee mit grauem Schmutz bedeckt waren, den Knaben von neuem erschreckten. Sie nahmen Quartier in einem einfachen Gasthaus, und während der Sohn bis tief in den Mittag schlief, wanderte der Vater durch die Straßen, ließ sich auf dem Rathaus, wo man über seine Angelegenheit schon unterrichtet war, in doppelter Sprache gefertigte, ausführliche Ausweise geben, so daß er in den wichtigsten Dingen ohne Dolmetscher auskommen konnte. Da die reguläre Post sofort abging, er aber dem Sohn den nötigen Schlaf nicht verkürzen mochte, bestellte er eine Extrapost für die Nachmittagsstunden, damit sie doch bis Abend die Grenze noch erreichen könnten. Dann kehrte er in das Gasthaus zurück, bestellte für sie beide ein gutes Mahl und weckte den Sohn, als es bereit war. Eine Stunde danach holte ein Wagen sie und das Gepäck ab und fuhr durch das Gewirr der Straßen bis zum Rande der Stadt, wo die Landstraße begann, mit weißem Schnee strahlend bedeckt. Dort stand ein schöner, stattlicher Schlitten für sie bereit, mit zwei Pferden bespannt, deren Zaumzeug mit hellklingenden Glocken besetzt und der mit Decken und Pelzen gegen die Kälte ausgerüstet war. Sie fuhren leicht und schnell erst über Ebene dahin, auf der das Geläut der Schellenglocken zart verhallte, dann aber bogen sie bald in dichten, hohen, verschneiten Wald ein, und die Glocken umklangen sie lauter. Dann kamen sie wieder auf freie Ebene, das Geläute ward leise, aber die starke, kalte Winterluft umbrauste sie.

»Da kommen Wolken«, sagte der Knabe und deutete auf den Horizont.

»Nein, das ist Gebirge«, antwortete der Vater.

Den Knaben überfiel ehrfürchtiges Staunen, denn, aufgewachsen in völliger Ebene, hatte er Berge noch nie gesehen.

»Kommen wir auch dahin, in das Gebirge?« fragte er leise.

»Ja«, sagte der Vater.

»Ist die Schwester dort?«

»Nein, in einer Stadt hinter dem Gebirge.«

Der Knabe dachte, seit er ihr Bild wiedergesehen hatte, immer an die Schwester, und er begriff nicht, wie sie so weit von Hause fort, in eine Stadt hinter dem Gebirge gekommen sein sollte.

Nach sechsstündiger, schneller Fahrt erreichten sie die Grenzstation, wiesen ihre Papiere vor, erhielten Nachtquartier und in gebrochenem Deutsch das Versprechen, in aller Frühe am nächsten Morgen einen Schlitten zu erhalten, der sie bis Mittag zur nächsten Poststation bringen würde, von wo sie wieder Post nehmen könnten. Als aber bis elf Uhr am nächsten Vormittag noch immer kein Gefährt sich zeigte und der Vater aus den verschiedenen Auskünften entnehmen konnte, daß der Weg bis zur Station nur zwei Stunden weit sein könne, beluden sie sich beide mit ihrem Gepäck und beschlossen, zu Fuß hinzukommen. Sie mußten aber nach einer kurzen Strecke Weges wieder umkehren, da alles tief verschneit war und ohne Spur und Richtung. Sie verhandelten nun aufs neue mit ihren Quartiergebern, und endlich fuhr nach Tisch ein kleiner, verwachsener, aber noch junger Bursche, der in einen so weiten und langen Pelz gehüllt war, daß man selbst beim Gehen seine Füße nicht sehen konnte, einen schmalen, mit einem kleinen grauen Pferd bespannten Schlitten vor dem Gasthaus vor. Er trat ein, setzte sich zum Tisch der Reisenden, lachte sie freundlich an und begann ein Glas Schnaps nach dem anderen zu leeren, das die Wirtin ihm still und ohne Aufforderung hinstellte. Nach dem vierten Glas begann er mit der Wirtin zu sprechen, und da beider Augen sich im Gespräch mehr und mehr mit teilnahmsvollen Blicken auf Vater und Sohn richteten, verstanden diese, daß die Wirtin ihm wohl ihre Geschichte erzähle. Dem Burschen stiegen Tränen in die kleinen, grauen Augen, er sprang auf, trat stürmisch auf Christian zu und umarmte ihn, dann den Sohn, wobei er unaufhörlich in warmem, beteuerndem Tone zu ihnen sprach, die seine Worte aber nicht verstehen konnten. Dann schrie er die Wirtin an, die ihm schnell noch ein Glas Schnaps brachte. Er stürzte es hinunter und lief aus der Stube in den Hof zum Schlitten. Als die beiden Reisenden ihm nacheilen wollten, mahnte die Wirtin den Vater noch schnell an das Geld für den Schnaps, und in der einen Hand den empfangenen Betrag haltend, schlug sie mit der anderen über sein Gesicht und seine Brust das Zeichen des Kreuzes.

Als sie draußen in den Schlitten einstiegen, wunderte sich der Sohn sehr, daß dieser keinen Kutschbock hatte und der Kutscher, die Zügel in der Hand, neben dem Pferde stand.

»Läuft er nebenher?« fragte der Sohn.

Doch auch der Vater konnte ihm darauf keine Antwort geben. Als das Gepäck aufgeschnallt war, warf der Bursche die Zügel lang aus, knallte mit der Peitsche, das Pferd zog an, der Schlitten fuhr, der Bursche blieb zurück und schien verschwunden. Doch als Karl sich umwandte, stand er dicht hinter ihm, mitten im Fahren, und lachte über seinen Kopf ihn an. Karl hielt ihn für einen Zauberer. Doch der Vater erklärte ihm: »Er steht auf den Kufen des Schlittens.« Da bewunderte der Knabe den Burschen sehr und nahm sich vor, daheim auch zu probieren, so zu fahren. Aus ruhigem Trab geriet das kleine Pferd mehr und mehr in Galopp, bald flogen sie über die weiße Ebene hin, ohne Weg und Steg, selbst nur eine leichte Spur hinterlassend. Es war bereits vier Uhr geworden, und die Dämmerung begann. Es war eine seltsame Fahrt. Der Bursche hielt lose die Zügel und schien kaum zu lenken, sang unaufhörlich leise vor sich hin. Es wurde dunkel. Sie flogen dahin, sahen nichts, kein Dorf, keinen Baum, keinen Meilenstein, nirgends ein Tier, sie hörten nichts als das Schnaufen des Pferdes, denn sein Hufschlag war unhörbar in dem weichen, dichten Schnee, und den leisen Gesang des Kutschers. Die Kälte stieg, ihre Glieder erstarrten. Der Sohn biß sich auf die Lippen, um seinen Schmerz nicht zu zeigen. Der Vater saß still, längst hatte er aufgehört, auf die Empfindungen seines Körpers zu achten. Sterne waren nicht am Himmel, der von Wolken bedeckt schien. Plötzlich bog der Schlitten scharf um, und in der Dunkelheit schimmerte noch dichtere Schwärze zu ihrer linken Seite. Nach und nach erkannte der Vater, daß sie am Fuße eines Berges hinfuhren. Ächzen von Tannen unter Schnee war zu hören, plötzlich auch ein Vogelschrei, scharf und erschreckend aus der Dunkelheit, dann ertönte leises Rauschen von Wasser unter dünner Eisdecke, dann das Knarren des Holzes einer unter Schnee versteckten Brücke, über die sie hinflogen. Wieder wendete der Schlitten, sank tief ein, und langsam und mühselig zogen sie über eine schmale Spur durch Wald. In der Finsternis streiften sie niedere Äste von unsichtbaren Tannen, die bei der Berührung schwere Lasten von Schnee auf sie niederwarfen. Der Kutscher, im Dunkeln hinter ihnen, sang. Das kleine Pferd keuchte. Plötzlich sauste ein scharfer Peitschenknall des Kutschers über ihre Häupter hin, eine scharfe Wendung in das Dunkel hinein ließ den Schlitten so tief zur Seite sich neigen, daß die Reisenden beinahe herausgeschleudert worden wären, und als sie sich von der Verwirrung wieder erholt hatten, spürten sie nun weiten Raum um sich, der Schlitten glitt wieder schnell dahin, die schwarze Dunkelheit lichtete sich, und ganz plötzlich hielten sie.

Sie befanden sich auf einer freien Anhöhe vor der Stadt. Der Knabe stieß einen lauten Schrei des Entzückens aus, auch der Vater lächelte, ein schweres, ungeschicktes Lächeln, so plötzlich hatte das Gefühl von Freude ihn überrascht. Sie hatten nicht gemerkt, daß sie bergauf gefahren waren, hatten nie auf einer Höhe über umliegendem Land gestanden, und sahen nun, sanft tiefer und tiefer gesenkt, die Anhöhe vor sich abfallen, sich weit in das Tal einschmiegen, das ein großer, breiter Fluß durchzog, dessen Eisdecke matt zu ihnen heraufleuchtete. Und dann erblickten sie, mehr und mehr ihren fassungslos staunenden Augen aufgehend, dunkle Brücken, die den lichten Fluß in weichen Bogen überspannten, die Lichter der Brücken, die Lichtreihen der Straßen, die Lichter in den Häusern, und endlich konnten sie auch mit einem Blick die ganze gewaltige, zu ihren Füßen sich ausbreitende Stadt umfassen. Sie erhellte die Luft über sich mit rötlichem Schein; Vater und Sohn sahen die Erde Licht und Röte hinauf gegen den nachtdunklen Himmel strahlen, wie in der Heimat nur der Himmel Licht und Röte des Morgens oder des Abends zur Erde niederstrahlte. In den erleuchteten Himmel ragten die unzähligen, hohen Türme schwarz hinein, die großen, runden, weitgeschwungenen Kuppeln, jede ein Himmel wieder für sich. Jetzt vernahmen sie auch die Töne der Stadt, ein leises, stetes Murmeln, bis plötzlich das Geläute der Glocken einsetzte, das von den vielen Türmen mehr und mehr erklang und zu einer so großen Fülle und Kraft und Schönheit anschwoll, daß es nicht mehr mit dem Ohr allein, sondern nur mit allem aus der Tiefe des Herzens aufgerufenen Gefühl erfaßt werden konnte. Der Vater fühlte, wie er zitterte. »Ich will alles auf mich nehmen, ich will beten, daß das Kind noch lebt«, dachte er.

Auf das Abendgeläut hatte der junge Kutscher gewartet. Einfach kniete er im Schnee nieder, schlug das Kreuzeszeichen und betete. Gern hätte Karl, der Sohn, auch gebetet. Doch er wagte es nicht, hier im Freien, ohne Pfarrer, ohne Sonntag. So faltete er wenigstens die Hände und blickte auf die Stadt nieder.

Als der Kutscher wieder aufgestanden war, lächelte er ihnen zu und deutete ihnen an, daß sie jetzt aussteigen müßten. Während die beiden nebenher schritten, führte er das Pferd langsam die Anhöhe hinab, auf ein großes Brückentor zu. So zogen sie in die Stadt ein, angestrahlt von ihrem Licht, angehaucht von dem Atem der vielen, fremden, dicht an ihnen vorüberstreifenden Menschen und noch umklungen von dem Geläut der Glocken, die nun, während sie am Fuße der Kirchen die Straßen und Plätze überschritten, hoch oben zu ihren Häupten ihre gewaltigen Töne niederströmten. Wie Träumende folgten beide ihrem Führer mit Schlitten und Pferd in eine kleine Herberge in den Seitenstraßen der Stadt, wo alle drei übernachteten.

Am nächsten Vormittag blieben sie noch zusammen. Freundlich führte sie der junge Bursche, mit schnellen, gewandten Schritten seinen langen Pelz mit sich ziehend, zur Posthalterei, und half dem Vater, zwei Plätze für die Mittagspost zu erwerben. Lachend zog er sie dann in ein kleines Lokal in einer der unzähligen Straßen, wo er heiße Suppe und Schnaps für sie alle bestellte. In behaglicher Heiterkeit aß und trank er reichlich, ließ den Vater bezahlen und begleitete ihn dann noch zum Postwagen. Dort nahm er aber kein Geld für seine Fahrt, machte plötzlich ein trauriges Gesicht, zeigte mit der Hand, sich niederbeugend, die Größe eines kleinen Kindes an, umarmte die beiden Reisenden wieder, sprach dann mit dem Postillon, worauf auch der die Reisenden aufmerksam mit trauriger, teilnahmsvoller Miene betrachtete und mehrmals nickte. Dann lachte der junge Bursche plötzlich wieder, winkte mit der Hand und lief schnell davon.

Sie fuhren nun am hellen Tag den Weg zurück auf das Gebirge und lange Zeit auf seinem Höhenrücken dahin. Gegen Abend wendeten sie wieder in eine Ebene, doch so, daß Gebirge und Stadt ihnen im Rücken lagen. Sie streiften in großen Abständen kleine Dörfer mit niedrigen Hütten, deren Dächer bis zur Erde reichten. Doch überall standen Kirchen, läuteten die Glocken und beteten die Menschen zu jeder Stunde, an jedem Ort, wo die Mahnung der Glocken sie erreichte. Sie reisten durch fremdes Land, dessen Menschen, dessen Sprache sie nicht kannten. Aber ihre Geschichte, das erschütternde Unternehmen des Vaters, der, sein verlorenes Kind zu suchen, aus einem fernen Lande kam, ebnete ihre Wege, sorgte für ihr Wohl. Überall empfingen sie die Menschen mit weichen Blicken und hilfespendenden Händen. In der letzten Station vor ihrem Ziel, einem kleinen Marktflecken, in dem sie übernachten mußten, holten die Wirtsleute einen alten Soldaten, einen Krüppel, herbei, der etwas Deutsch sprechen konnte, und er mußte den im Wirtszimmer Versammelten die Geschichte der kleinen Anna B. übermitteln.

»Ihr sucht Euer Kind?« fing der Alte an.

»Ja«, antwortete der Vater mit weicher Stimme, deren Klang auf dieser Reise sich geändert hatte.

»Wieviel habt Ihr Kinder?«

»Ich habe zwei Söhne und eine Tochter.«

»Hört ihr, es ist das einzige Töchterlein,« erklärte der Alte den Zuhörern. Alle seufzten, die Frauen hatten schnell Tränen in den Augen.

»Man hat es dir geraubt?« fragte der Alte wieder.

»Wir suchen es seit einem halben Jahr.«

»Die Zigeuner haben es geraubt«, sagte Karl plötzlich dazwischen.

Der Alte sah den Knaben an. »Nein, nicht Zigeuner, böse Menschen,« sagte er dann. »Hört ihr,« sagte er wieder zu den anderen, »böse Menschen, Gott verzeihe ihnen, haben sein Töchterlein geraubt, sie suchen es seit einem halben Jahr!«

Die Frauen jammerten auf und rangen die Hände.

»Haben sie es umgebracht?« fragte bleich und zitternd eine junge Frau, hoch in gesegneten Umständen.

»Hörst du nicht, daß sie es suchen?« sagte der Alte streng. »Wie kann ein Mensch so böse sein und ein kleines Kind umbringen? Wo hast du solche böse Gedanken her?«

»Er kann sich vor der Strafe fürchten, der es geraubt hat«, sagte die junge Frau schüchtern.

»Gott wird verzeihen,« sagte der Alte, »Gott wird verzeihen,« wandte er sich wieder zu dem Vater, »Euer Kind wird leben, und Ihr werdet es finden.«

»Ich glaubte, daß es tot sei«, sagte der Vater.

»Nein, nein, wie sollte es tot sein, warum glaubt Ihr das?« schrie der Alte erregt. »Ihr seid gottlos, wenn Ihr so Böses glaubt. Warum soll es tot sein? Warum soll ein Mensch so böse sein und ein Kind umbringen? In der Schlacht, ja, da muß man die Menschen umbringen. Ich habe auch Menschen umgebracht; es war für das Vaterland und für den heiligen Glauben. Darum habe ich auch den Glauben, daß kein Mensch so böse ist und dein kleines unschuldiges Kind umbringt. Ich habe Menschen umgebracht in der Schlacht, weil ich an Gott dachte, aber ich kann nie ein Kind umbringen. Das will Gott nicht. Ihr dürft nicht an das Böse glauben, das ist gottlos. Betet zu Maria, weiht ihr Kerzen, sie liebt die unschuldigen Kinder, sie ist eine mächtige Fürbitterin, aber Ihr dürft nicht an das Böse glauben.«

»Es kann auch schon gestorben sein«, sagte der Vater beschämt.

»Dann ist es bei Gott, es ist ein Engel, denn es war ein unschuldiges Kind. Es ist auferstanden als Engel, denn Christ ist für uns gestorben,« sagte der Alte feierlich und bekreuzigte sich, und alle schlugen das Kreuz. »Aber du suchst ja das Kind,« fuhr er dann wieder fröhlich fort, »es lebt doch. Du hast keinen Glauben. Auch wenn man leidet, muß man glauben, weißt du das nicht? Wo bist du her? Es gibt ja Städte in der Welt, da haben die Menschen keinen Glauben. Aber Gott wird dich erretten, darum mußt du dein Kind suchen, er wird deine Seele erretten.« »Gott wird seine Seele erretten«, sagte er zu den anderen.

»Und das Kind, zu dem er fährt, wird es sein Kind sein?« fragte die junge Frau.

»Es wird sein Kind sein,« antwortete der Alte bestimmt, »Jesus hat sich der Kinder erbarmt!«

Die junge Frau, in Gedanken an ihre erste Geburt, ging in eine Ecke des Zimmers, kniete vor dem Muttergottesbild nieder und betete.

Still saß der Vater da, ein einsames untröstliches Herz inmitten glaubensseliger Herzen. Sein weißes Haupt, sein blickverhangenes Gesicht, die leuchtende, hohe Stirn überweht vom Hauche eines auserwählten, unerbittlichen Schicksals. Die anderen verstummten und sahen ihn an. Er stand auf und reichte einem jeden von ihnen die Hand. Die junge Frau kam zum Tisch zurück, und ihre weichen braunen Augen auf Christian gerichtet, flüsterte sie dem Alten einige Worte ins Ohr.

»Sie hat für dich gebetet,« sagte der Alte zu ihm, »fürs Kind und für die Mutter, sie wird eine Kerze für dich opfern. Ja, ja, auch ich sage dir: Alle Heiligen mit dir und der armen Mutter!« Und die beiden Männer umarmten sich zum Abschied.

Die Reisenden wollten am nächsten Morgen früh aufbrechen, um endlich noch am selben Abend zum Ziele zu kommen. Sie hatten das Lager früh aufgesucht. Doch schlaflos lag der Vater. Im Sturm klopfte sein Herz gegen seine Brust. Die Worte des Alten, die Gebete und Wünsche aller Menschen an diesem Abend, die Hoffnung, die unzerstörbar aus ihren guten Augen geleuchtet hatte, alles das drang jetzt in der Erinnerung mit lebendiger Gewalt gegen seine in der Verzweiflung erstarrte, dem Tode mit Erwartung, ja mit Liebe hingegebene Seele vor. Furcht und Schrecken erregten ihn im Tiefsten seines Innern. Wenn sein Kind noch lebte, konnte er zurück? Zurück zur Freude, zur Arbeit, wieder in Gesundheit und Kraft schaffen für Weib und Kinder, für Knechte und Mägde, säen und ernten, befehlen und belohnen, sorgen und gewinnen, zurück wieder in die wunderbare Ordnung der Jahreszeiten, in die Ordnung von Tag und Nacht, Gebet und Erfüllung, Bitte und Dank, und leben, ahnungslos den Tod im Rücken, der kommen konnte, hart und schnell wie ein Mörder oder wie eine gütige Hand, die mitleidig die müde Kerze des ausgebrannten Leibes verlöschte? Er sollte sein Antlitz zurück vom Tod, dem Leben wieder zuwenden?

Er stand auf und wanderte bei dem Licht der Kerze im Zimmer umher. Er sah auf den schlafenden Sohn, auf sein gesundes, im Schlaf gerötetes Gesicht, auf den halb geöffneten Mund, der mit feuchten, roten Lippen den kräftig strömenden Atem von sich blies. Alles wieder lieben, die Söhne, die Frau und den wiedergeschenkten, holden Zauber des jüngsten Kindes, die Bürde der Freuden und die herrliche Last des Glückes wieder aufnehmen? Er rang die Hände, preßte sie gegen sein Herz. Zeigte sich ihm jetzt Gott, wollte sich ihm zeigen in seiner unendlichen Güte?

Er erwartete wachend, in Ungeduld, den Anbruch des Tages, weckte den Sohn, trieb eilig zum Aufbruch, und sie kamen um fünf Uhr nachmittags, kurz nach Eintritt der Dunkelheit, am Ziele an. Die Stadt war nicht so groß und zauberhaft prächtig wie jene, die sie am Rande des Gebirges gesehen hatten. Aber Lichter leuchteten und Menschen strömten auch hier, Kirchen mit Türmen waren auch hier ohne Zahl, Glocken klangen fast den ganzen Tag, und überall, herrschend auf hohen Säulen über den Plätzen oder angeschmiegt an die Portale großer Häuser und Paläste, aus dem Innern der stets geöffneten Kirchen schimmernd, grüßte sie das Bildnis Gottes, der als Mensch gekreuzigte Sohn, und mit göttlichem Lächeln und segnenden Händen die himmlische Mutter; zu ihren Füßen brannte das kleine rote ewige Licht, dessen sanfter Schein empor zum Antlitz strahlte. Ihre Altäre waren stets geschmückt, unaufhörlich schwebten ihre Namen auf den Lippen der gläubigen Seelen, und mit tiefem Begreifen verstand der Vater, warum die Menschen ihnen ihre Bitten darbrachten, die Fürsprecher anflehten, sie emporzutragen zum ewig verhüllten Angesicht Gottes, denn kein Mensch, lebte, der es sah. Vor der kleinen Kapelle einer Madonna stand er lange, sah auf die Menschen, die kamen, niederknieten und nach dem Gebet sich erhoben, Friede oder doch wenigstens Ruhe auf den Gesichtern. Da er nicht gleich ihnen knien und beten konnte, öffnete er weit die stets verhangenen Augen und nahm mit hingebendem Blick das sanfte Lächeln, die segenspendenden Gebärden der Heiligen in sich auf.

Auf der Polizeibehörde zeigte er Paß und sein Ausweisschreiben vor. Man hieß ihn freundlich warten und schickte einen Boten nach dem Lehrer, bei dem das aufgefundene Kind weilte. Nach einer halben Stunde kam dieser und begrüßte den Vater sofort mit großer Wärme und Herzlichkeit. Er war Professor und seit fünfzehn Jahren Lehrer der deutschen Sprache und Philosophie. Er war ein älterer Mann von kleiner, zarter Gestalt, hatte graumeliertes Haar, und seine gleichzeitig lebhaften und träumerischen blauen Augen konnte man nur schwer fassen hinter der goldenen, ungewöhnlich blank geputzten Brille, die fortwährend aufblitzte, blendete und spiegelte, da der Professor beim Sprechen unaufhörlich den Kopf bewegte. Er zog den Vater mit sich, sah fürs erste den Sohn, der hinter ihnen drein ging, gar nicht an und begann in einem fließenden Bericht dem Vater zu erzählen, wie er das Kind gefunden habe. Er habe es, von Schmutz und Ungeziefer starrend, einem deutschsprechenden Bettelweib abgenommen, ursprünglich nur, um es einen Tag lang zu füttern und zu pflegen, dann habe ihn seine Frau beim Baden auf des Kindes Schönheit aufmerksam gemacht, auf sein lockiges, blondes Haar, auf seine entzückende und wohlerzogene Art beim Essen und Spielen, und wie es stets »bitte« und »danke« sage, und es sei offensichtlich gewesen, wie unter der Pflege und Sauberkeit das Kind sich mehr und mehr wohlgefühlt hätte, es sei so heiter und gesprächig geworden, und ihm sowohl wie der Frau sei der Verdacht aufgestiegen, daß das Kind in einer besseren Umgebung als der von Landstreichern aufgewachsen sein müsse. Dann habe er sich mitten in einem Vortrag über den Kantischen kategorischen Imperativ an den Fall Anna B. erinnert. Er habe noch in der Schulstunde nach Hause um die deutschen Zeitungen geschickt, aus denen ihm der Verlauf dieses Prozesses bekannt gewesen sei, habe dann das Bild und die Beschreibung der kleinen Anna B. mit dem Kind verglichen und sei nun zu der festen Überzeugung gelangt, daß er das verschleppte Kind aufgefunden habe. Er habe daraufhin den Behörden Mitteilung gemacht, die, wie sich ja nun ergäbe, den Vater sofort benachrichtigt hätten und seit der ganzen Zeit die des Kindesraubes verdächtige Vagabundin suchten. Denn das sei der deutlichste Beweis: die angebliche Mutter sei wohl am ersten Abend noch einmal gekommen und habe das Kind holen wollen, habe aber auf verschiedene Fragen nach dem Vater des Kindes, nach dem Ort seiner Geburt, nach dem genauen Alter keine sichere Auskunft geben können, und als man ihr vorgeschlagen habe, das Kind noch einige Tage dazulassen, sei sie schnell damit einverstanden gewesen und habe sich seit dem Tage nicht wieder blicken lassen. Inzwischen sei nun das Kind leider, trotz größter Pflege, erkrankt, der Arzt habe Lungenentzündung festgestellt. Es sei aber von einer wahrhaft rührenden Geduld und Liebenswürdigkeit während seines Leidens. Auf die Frage, wie es heiße, habe es geantwortet »Anna«, auf die Frage nach seinen Eltern habe es zu weinen begonnen.

Sie waren inzwischen zum Hause des Professors gekommen, zwei Treppen emporgestiegen und in einen dunkeln, von einer brennenden Lampe erhellten Korridor eingetreten. Hier senkte der Professor seine Stimme und flüsterte dem Vater zu: »Ich begreife ja, daß Sie Ihr Kind so bald als möglich sehen möchten, aber gerade heute ist das Fieber endlich gesunken, und es schläft schon seit dem Morgen. Könnten Sie das Opfer bringen und bis morgen warten? Oder aber, Sie dürften nur leise an sein Bettchen treten und es nicht wecken.«

»Ich will warten«, sagte der Vater.

»Das ist gut, das ist echte Vaterliebe. Sie wohnen natürlich bei uns, Sie schlafen die Nacht in seiner Nähe, und morgen früh können Sie gleich zu ihm. Meine Frau und ich, wir lieben den kleinen Findling sehr, wir werden sehr traurig sein, wenn er wieder von uns geht. Seien Sie willkommen, Landsmann, in meinem Heim!« schloß er, und schüttelte dem Vater nochmals die Hand und reichte sie jetzt auch dem Sohne. Jetzt kam auch die Frau herbei, klein, grau und verblüht, aber mit warmen, guten Augen. Sie sah den Vater lange an und drückte voll Inbrunst seine Hand. Auch sie erzählte im Flüsterton, daß das Kind fest schlafe, hieß endlich die Reisenden Gepäck und Überkleider ablegen, und auf den Zehenspitzen gingen nun alle in das warme, behaglich eingerichtete Wohnzimmer. Eine alte Magd kam und deckte den Tisch. Alles Gehen, Türenschließen, das Auflegen des Geschirres geschah mit einer zärtlichen Sorgfalt, kein Geräusch zu verursachen, um des schlafenden Kindes willen. Sie setzten sich zu Tisch, aßen in glücklichem Schweigen, nur mit Blicken und Lächeln und gedämpften Worten zueinander sprechend. Dann wurden die Gäste in ein geräumiges, durchheiztes Zimmer geführt. »Da drüben schläft es«, sagte der Professor noch leise und zeigte auf die Wand, an der die beiden Betten standen. Als sie allein waren, zog der Vater den Sohn an die Brust: »Freue dich, morgen werden wir die Schwester wiedersehen«, sagte er, denn jetzt glaubte er es selbst.

»Ich freue mich sehr!« sagte der Knabe mit leuchtenden Augen.

Sie legten sich nieder, und der Vater horchte an der Wand auf ein Geräusch, den leisen Ton einer Stimme von drüben. Aber es blieb alles ruhig, eine friedliche Stille lag über der ganzen Wohnung, und beide, Vater und Sohn, schliefen bald tief und traumlos ein.


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