Rahel Sanzara
Das verlorene Kind
Rahel Sanzara

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VIII

Als Fritz in seiner Zelle angelangt war, überfiel ihn plötzlich tiefe Müdigkeit. Er vermochte nicht mehr seine Kleider auszuziehen, ehe er sich auf das harte Lager niederließ. Aber schlafen konnte er nicht. Er dachte daran, daß seine Mutter heute nicht gekommen war, und er dachte an die Strafe. Totgeschlagen wurde er nicht, obwohl es die Mutter so gewollt hatte, aber man würde ihn sicher ins Zuchthaus bringen. Da würde man ihn wohl mit Ketten umschnüren, er würde nicht mehr gehen können, nicht sich bewegen können, nicht sich in einem Winkel verstecken können, wenn er sich danach sehnte, man würde ihn wohl mitten an eine Wand anschließen. Das schlimmste aber würde wohl sein, daß jeder an ihn herantreten, ihn berühren konnte; er dachte sich aus, daß er, mit den Händen in einem eisernen Ring festgeschlossen, sich wohl von dem Wärter an- und auskleiden lassen müsse, da er doch, ewig gefesselt, keine Handreichung, auch nicht die letzte um der Notdurft willen, mehr tun konnte. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit Entsetzen, mit einer grauenhaften Furcht vor der Strafe. Er sprang vom Lager auf und eilte zur Tür. Sein Trieb, zu entfliehen, war so stark, daß er an der Türe rüttelte, daß er nicht begriff, daß sie sich nicht öffnete. Er tastete an den Wänden der Zelle umher nach einem Ausgang, stumm, klopfenden Herzens, Schweiß rann in der Kälte an seinem Körper herab. Plötzlich aber stand er vor dem Fenster still, vor dessen Gitter weiß und voll die Scheibe des Mondes schwamm, ein unbewegliches Gesicht, von Gebirgen wie von Narben zerfetzt, ein stilles, kaltes, ausgebranntes Gestirn. In seinen Anblick verlor er sich ganz, von dem bleichen Schein, der auf seiner kindlichen, heißen Stirne ruhte, floß ein Strom von Kälte wie der Hauch tödlichen Eises in sein Herz, dessen Schläge sich zu entfernen schienen, wie leise davonschleichende Schritte verklangen, die Kraft verließ seinen Körper, er sank zusammen.

Am Morgen fand ihn der Wärter am Boden liegend in tiefem Schlaf, die Glieder steif von Kälte. Er begann, um ihn gleichzeitig zu erwärmen und zu erwecken, seinen Körper mit den Händen zu reiben, doch kaum erwacht, stieß ihn Fritz mit Entsetzen und Gewalt von sich und richtete sich auf, so schnell es seine von Kälte und von dem harten Lager auf dem Steinboden gelähmten Glieder erlaubten. Der Wärter, halb abgewandt, beobachtete ihn von der Seite, sagte nichts und verließ die Zelle. Verstört setzte sich Fritz auf den Rand seines Bettes nieder. Beim Erwachen hatte er die Schwere seiner Glieder wie Ketten gefühlt, die ihn umschnürten, das Tasten des Wärters an seinem Körper hatte ihn entsetzt, er glaubte die Strafe schon erfüllt. Langsam aß er die heiße Morgensuppe, die ihn erwärmte und seine Erstarrung löste. Doch wich die Bedrücktheit und Sorge nicht von ihm. Der Morgen war ein Sonntag. Den Gefangenen in Untersuchungshaft war es erlaubt, während der Reinigung der Zellen auf dem langen Gang sich etwas zu ergehen. Es ergab sich dabei oft, daß die Gefangenen einige Worte miteinander austauschen konnten, nur mußte laut und dem Wärter hörbar gesprochen werden. Fritz hatte bisher von dieser Erlaubnis nie Gebrauch gemacht. Er hatte kein Bedürfnis nach Freiheit, nach Bewegung und am wenigsten nach Menschen gehabt. Heute jedoch, im Innersten verwirrt durch Furcht, schlich er sich an die geöffnete Zellentür und spähte vorsichtig auf den langen, dämmerig erleuchteten Gang. Er ließ die wandelnden Gestalten der Gefangenen, die, als ob sie jeden einzelnen freien Schritt bis zum äußersten auskosten wollten, in langsamen, sorgsam ausgetretenen Schritten gingen, an sich vorüberziehen, bis er mit einem plötzlichen Entschluß einen jungen Mann förmlich ansprang und mit seinen Füßen sich in dessen müden, aber doch leichten und federnden Schritt einschmiegte. Dieser junge Mann glich dem Herrensohn auf Treuen, Gustav, hatte dunkles Haar, ein blasses, schmales Gesicht, das von Verzweiflung und bitterer Melancholie verwüstet war. Er warf unter seiner gefalteten Stirn einen kurzen Blick aus den dunklen Augen auf Fritz, als der mit einem Satz sich zu ihm gesellte, doch sagte er nichts. Sie gingen nebeneinander her. Fritz fühlte erst mit Staunen, dann aber mehr und mehr mit Qual, wie er im Takt der Schritte innig verbunden mit einem anderen Menschen ging; er wollte sich davon losmachen, wollte entrinnen, versuchte seine Schritte zu verdoppeln, doch der Abstand zwischen den Gefangenen war zu kurz, er stieß sofort an den Vordermann an, er mußte zurückbleiben und war wieder eingezwungen in den Schritt des anderen. Zornige Erregung und hilflose Angst ergriffen ihn. Schweiß perlte von seiner Stirn. Er dachte, es wäre vielleicht doch besser gewesen, ihn zu erschlagen, wie die Mutter es wollte. Endlich, nachdem er lange an seinem Trotz und seiner Angst gewürgt hatte, begann er heiser und mit unendlicher Mühe zu sprechen: »Gestern haben sie mich verurteilt.«

Der andere ließ seinen dunklen, traurigen Blick über ihn gleiten, sagte aber nichts.

»Zuchthaus ist eine sehr böse Sache, was?«

Der andere zuckte die Achseln. »Die Menschen verdienen es«, sagte er mit einer dunklen, klangvollen Stimme.

»Aber sie müssen einem doch abends die Ketten abnehmen, wenn man sich auf die Pritsche legt und sich ausziehen muß! Das muß man doch alles selber machen können, bei großen Leuten macht das doch niemand mehr gern, die Mutter macht es auch nicht gern, wenn man schon groß ist, das weiß ich jetzt.«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen,« sagte der andere lächelnd, »doch wenn Sie meinen, daß Sie im Zuchthaus hilflos mit Ketten angeschmiedet werden, so sind Sie im Irrtum. Das geschieht nur in ganz seltenen Fällen, zum Beispiel, wenn Sie sich gewalttätig benehmen. Im allgemeinen aber bewegen Sie sich dort so frei, wie es eben in einem Zuchthaus möglich ist.« Bei dieser Rede lächelte der Gefangene vor sich hin und warf einen liebenswürdigen Blick auf den Wärter, der sich sofort nach Beginn des Gespräches ihnen genähert hatte.

»Sie wissen das? Sie wissen das?« fragte Fritz gierig.

»Gewiß, es ist so«, war die Antwort

Ohne noch etwas zu erwidern, löste sich Fritz mit einem Satz wieder aus der Reihe, aus dem Gleichklang der Schritte, und stürzte in seine Zelle zurück. Hochatmend stand er da still, legte sich selbst beruhigend die Hand auf sein klopfendes Herz. Der Wärter trat in die Zelle ein.

»Was hast du denn?« fragte er. »Du brauchst dich nicht aufzuregen, du kommst ja gar nicht ins Zuchthaus, hast doch nur Gefängnis gekriegt. Das ist nicht anders wie hier bei uns, und hier hast du es doch gut, wie?«

Fritz sah den Wärter mit einem kindlichen, vor Freude geweiteten Blick an. »Ich habe kein Zuchthaus gekriegt?« fragte er leise.

Der Wärter schüttelte den Kopf.

Fritz senkte den Blick zu Boden. Leise erzitterte sein Körper, sein Gesicht überzog sich mit zarter, heller Röte, und Tränen rannen still und schnell unter den gesenkten Lidern hervor. Der Wärter wandte sich ab und ging langsam zur Tür. Dort blieb er stehen. Nach einer Weile fragte Fritz wieder leise: »Kann ich die Strafe gleich kriegen?«

»Jawohl, das kannst du. Du mußt dich vorführen lassen und deine Erklärung abgeben, daß du mit dem Urteil einverstanden bist.«

»Ach ja.«

»Soll ich also melden, daß du morgen vorgeführt werden willst?«

»Ja.«

»Das ist gut. Die Strafe ist ja auch milde.«

»Ja, die Strafe ist milde«, wiederholte Fritz.

»Das ist schön, daß du das einsiehst. Ich werde es also melden«, sagte der Wärter, dann ging er und verschloß die Tür.

Fritz wanderte mit leichten, glücklichen Schritten in der Zelle umher, atmete tief durch die von den aufsteigenden Tränen zusammengepreßte Kehle, mit dem Handrücken wischte er sich die feuchte Spur der Tränen von dem Gesicht. Er war zum erstenmal erschüttert, er weinte zum erstenmal. Böses hatte sich ihm in Gutes verwandelt. Furcht in Freude. Die milden Worte des Wärters hatte er noch im Ohr und hielt sie gegen die bösen Drohungen der Mutter. Zum erstenmal fand er auch als Mensch zum Menschen. Zum erstenmal auch fühlte er die Menschen nicht nur als Feinde, die ihm nachspürten, ihn aufscheuchten aus den schützenden Winkeln seines Schlafes und seiner Arbeit, sondern er fühlte sie jetzt auch als Freunde, die ihm gute Botschaft gaben, als er das Schlimmste fürchtete. Er war ergriffen, er fühlte Dankbarkeit. Er hörte auf, mit müßigen Schritten in der Zelle umherzugehen, stürzte sich über seine Korbflechterei her, die man ihm als Arbeit gegeben hatte, und vertiefte sich mit fieberhaftem Fleiß darein, als könnte er so für alles danken. Müde von Arbeit und erschöpft von den Erregungen schlief er gut die Nacht. Am nächsten Morgen wurde er in die Gerichtskanzlei geführt und hörte mit glücklichem Lächeln den Sekretär an, der ihm bedeutete, daß er das Recht noch habe, seine Angelegenheit durch zwei höhere Instanzen zu verfolgen.

»Ich will die Strafe kriegen«, sagte er als Antwort.

»Mit anderen Worten: Sie wollen also jetzt ein Geständnis ablegen?« fragte der Sekretär.

»Nein, ich komme nur wegen der Strafe.«

»Wie wollen Sie sich also erklären?«

»Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.«

Der Sekretär beriet nun mit ihm, wie die Erklärung aufgesetzt werden sollte. Der Wortlaut, zusammengesetzt aus den formellen Bezeichnungen des Sekretärs und den persönlichen Ausdrücken des Gefangenen, war folgender: »Ich beruhige mich bei dem gegen mich unter dem 6. Dezember dieses Jahres ergangenen Strafurteil und bitte, die mir zuerkannte fünfzehnjährige Gefängnisstrafe sofort antreten zu dürfen. Ich sehe, ich komme von der Strafe nicht ab, und will sie deshalb gleich auf mich nehmen.« Fritz unterschrieb mit seinem Namen in großen, schön ausgeschriebenen Buchstaben. Auf diese Erklärung hin wurde auch seine bisherige Untersuchungshaft sofort in Strafhaft verwandelt.

Die nächste Woche verging gut. Der Gefangene war ruhig, heiter, er arbeitete und sang, seine Zelle hielt er sauber, und mit einer Art naiven Entzückens hatte er sogar die Gefängniskleider angelegt, die ihn wie eine sonderbare Verkleidung anmuteten. Am dritten Tage nach der Erklärung besuchte ihn zum erstenmal der Anstaltsgeistliche. Fritz bezeigte bei seinem Eintritt in die Zelle eine strahlende Freude. Er errötete über und über und folgte mit glänzenden Augen den Worten des Pfarrers. Er empfand es mit ungeheurem Stolz, daß ein Pfarrer, den er bisher stets nur von weitem gesehen hatte und immer nur in Gemeinschaft mit anderen Menschen, der in der feierlichen Kirche immer erhoben über den anderen auf der Kanzel oder den Stufen des Altars gestanden hatte, nun hier zu ihm allein in seine Zelle kam, auf gleichem Boden sich mit ihm befand, auf seinem Schemel saß, während er vor ihm stand.

Der Pfarrer war überzeugt von der Schuld des Gefangenen. Es machte ihn tief erstaunen, bei dem Mörder eines unschuldigen Kindes eine solche Hingabe für Gebet und Predigt zu finden. Er hoffte fest, den Sünder zur Reue, den Mörder zum Geständnis zu führen. Am ersten Tage prüfte er ihn und hörte ihm das Vaterunser, das Glaubensbekenntnis und die zehn Gebote ab. Er sah, wie ruhig und andächtig die Lippen des Mörders über das Gebot glitten: »Du sollst nicht töten.« Doch der Pfarrer verzagte nicht, ›ich muß sein Gewissen erst erwecken‹, dachte er.

»Denkst du oft an Gott?« fragte er Fritz.

»Ich bin schon lange nicht in die Kirche gegangen«, antwortete Fritz beschämt.

»Gott ist überall, er ist allwissend und allsehend. Er sieht alle deine Taten, er weiß alle deine Gedanken. Fürchte dich vor ihm!«

»Ja«, sagte Fritz.

»Und wenn du Gott erzürnt hast, wenn du seine Gebote oder nur eines seiner Gebote übertreten hast, dann zittere vor seiner Strafe, denn sie ist furchtbarer als die Strafe der Menschen.«

»Ja.«

»Denke also an Gott! Denke an ihn, bevor du einschläfst! Denke an deine furchtbare Sünde! Denke an Gottes Strafe, die über dich kommen wird, dann bete!«

»Ja.«

»So wollen wir heute noch gemeinsam in Ehrfurcht vor Gottes großer Allmacht das Lied singen ›Erzittere meine Seele vor Gottes mächt'gem Zorn‹.« Der Pfarrer stimmte an, und Fritz fiel mit seiner hellen, schönen Stimme ein, übertönte freudig den rauhen Gesang des Pfarrers. Er sang auch noch lange weiter, als er wieder allein war, er erinnerte sich aller Lieder, die er gemeinsam mit der Mutter im Sommer in der Laube gesungen hatte, als alles noch gut gewesen war. Die Dämmerung kam früh, doch Schnee, der in dichten Flocken fiel, erhellte die Zelle. Er legte sich nieder, in der Kälte faltete er die Hände unter der Decke, dachte an den Geistlichen und betete. Er dachte an die Worte des Pfarrers »Gott sieht alles!« und ein Schauer überrieselte ihn. Doch auch die Mutter hatte alles gesehen, in seinem Schlaf hatte sie erblickt, was man vor sich selber doch verbergen mußte. Er wollte zu Gott beten und wollte zur Mutter beten. Doch in der tiefen Erwärmung seines Blutes schlief er ein, die Hände über dem Schoß gefaltet. Im Traum aber versank er bis zu den Hüften in warm dampfende, schwimmende Nebel, die seinen Leib mit unfaßbar weichen Wellenschlägen umkosten, während sein Haupt mit eisern hartem Druck von obenher niedergepreßt wurde gegen sein eigenes Herz, wo es plötzlich ruhte, abgetrennt vom Nacken, doch lebendig, mit Ohren, die seine eigenen Herzschläge hörten, mit Augen, die niederblickten zum eigenen Leib, der aber unsichtbar war, aufgelöst in weich schleichende, farblos wogende Wolken. Doch der Nebel ward weißer und dichter, er ballte sich zusammen, das weiße, volle, sanfte Gesicht seiner Mutter schwebte auf zwischen seinen Schenkeln, schlafend und friedlich, doch plötzlich sprang das rote Gestrüpp ihrer Narben auf, glühte und leuchtete böse, ihr Mund weitete sich, sie schlug die Augen auf, ihr Blick, von seinem Schoße aufwärts gerichtet, senkte sich in den Blick seines Hauptes, das auf dem eigenen Herzen ruhte. Seine Hände aber schoben sich zwischen den Blick der Mutter und seines eigenen Hauptes Blick, glitten den Leib hinab, dort sprangen seine Finger auseinander, um einzuschlagen in das Netz der Wundnarben, die für sich zu leben begannen, auf und nieder zuckten wie feurige Schlangen, während das Antlitz der Mutter versank. Da schnellte sein Kopf zurück, sein Herz schlug frei auf, er öffnete die Augen, und nach langer Zeit merkte er, daß er erwacht war.

Weiß erhellt war die Zelle von dem silbernen Licht des Mondes, das wiederum durchwirkt war von dem lebendigen Widerschein der fallenden Flocken. Es war still und feierlich um ihn. ›Gott sieht alles‹, dachte er noch einmal und zog die Hände unter der Decke hervor, sorgfältig deckte er sich ringsum zu und ließ die Hände auf der Decke. In seinem Nacken fühlte er noch den furchtbaren Schmerz des Traumes. ›Ich will die Strafe haben‹, dachte er. Er schlief wieder ein. Er erinnerte sich am nächsten Tag des Traumes nicht mehr genau, doch fühlte er sich zerschlagen, seine Glieder waren schwer und schmerzten. Überall drohte das Antlitz der Mutter aufzutauchen, er wagte nicht, an sie zu denken. Er war still, sang nicht und arbeitete fleißig. Am Sonntag morgen kam der Geistliche zu ihm, sie beteten und sangen zusammen.

»Hast du an Gott gedacht?« fragte der Pfarrer.

»Ich habe jeden Abend gebetet.«

»Hast du erkannt, wie groß deine Sünde vor ihm ist?«

»Ja.«

»Hast du auch erkannt, in welchem Gebot du dich gegen Gott versündigt hast?«

Fritz schwieg.

»Sage mir die zehn Gebote Gottes.«

Fritz zählte sie auf.

»Denke nun daran, Abend für Abend, und prüfe dich in Furcht und Demut, welches seiner Gebote du übertreten hast. Du mußt erkennen, bekennen und bereuen. Verstehst du das?«

»Ich muß erkennen und bereuen.«

»Willst du das befolgen?«

»Ja.«

»Denke daran, daß Gott alle, die seine Gebote übertreten, mit schwerer Strafe straft. Wenn du aber erkennst und bereust, kannst du durch die Gnade Christi gerettet werden. Erkenne und bereue.«

»Ja.«

»Fürchte Gottes Strafe!«

»Die Strafe ist milde.«

»Des Menschen Strafe, mein Sohn, du meinst des Menschen Strafe. Des Menschen Strafe ist leicht, denn sie trifft nur den Leib. Aber Gottes Strafe ist furchtbar, denn sie trifft die Seele. Deine Seele, das ist das Unvergängliche in dir, das unvergänglich Gute und das unvergänglich Böse. Du mußt das Gute in dir retten. Du bist aber zum Bösen verdammt, wenn du nicht Gott erkennst in seinen Geboten, und wenn du nicht deine Sünden erkennst gegen seine Gebote. Ich will dich zu Gott führen, zu seiner Strafe und zu seinem Erbarmen.«

»Ja«, sagte Fritz leise, während seine Augen glänzten. Der Geistliche verließ ihn gerührt und in der festen Hoffnung, daß er ihm bald seine Tat gestehen würde.

Doch am Nachmittag dieses Sonntags trat der Wärter ein und sagte Fritz, sein Vater sei da und wolle ihn besuchen. Völlig verständnislos folgte er dem Wärter in die Besuchszelle. Er hatte nie an seinen Vater gedacht, er wußte nichts von ihm, denn er wußte auch nichts mehr von jener Begegnung in seiner Kinderzeit, wo er feindselig in des Vaters dargereichte Hand gebissen hatte. Jetzt erblickte er durch die Stäbe des trennenden Gitters die hünenhafte Gestalt eines Mannes, ein fahles, riesiges Gesicht, umgeben von schmutzig-rotem Bart, kleine, schwimmende Augen.

Der Vater brach beim Anblick des Sohnes in ein lautes, dröhnendes Gelächter aus. Er riß seinen breiten, wie ein Maul zwischen den Kiefern eingeschnittenen, farblosen Mund auf und stieß mit jedem frischen Atemzug sein lachendes Gebrüll von neuem aus, bis endlich der Sohn, der ohne Empfindung und Gedanken dastand, mit seinem hellen, leisen Lachen einstimmte. Endlich beruhigte sich der Alte, und seinen Atem sammelnd, stieß er die Worte aus: »Na, du Aas. Da ist mein Sohn, das Aas! Kennst du mich? Willst du mich noch einmal beißen?« Er hielt seine rechte Hand hoch, an der am Ballen des Daumens drei weiße, perlengroße Narben zu sehen waren.

»Warum beißt du jetzt nicht, du? Warum hast du dich denn einsperren lassen? Schämst du dich nicht?«

»Die Strafe ist milde«, sagte der Sohn.

»Das sagt wohl deine Mutter?«

Darauf schwieg Fritz.

»Du dummes Aas, deine Mutter, das ist so eine, die versteht von den Männern nichts. Sie will nichts von den Männern wissen, verstehst du, da laß dir lieber von mir sagen. Ich bin dein Vater, ich habe dich nicht vergessen. Ich freue mich, daß es so mit dir gekommen ist Jetzt will ich dir etwas sagen: du hast doch nichts gestanden? Du brauchst dich nicht bei dem Urteil zu beruhigen. Du mußt appellieren, verstehst du? Appellieren, so sagt auch der Verteidiger, ich habe mit ihm gesprochen, und er meint das, und ich meine das auch. Verstehst du? Und morgen ist die Zeit um. Ich bin dein Vater, und ich sage dir, du mußt Appellation einreichen.«

»Wenn die Strafe zu viel ist«, sagte Fritz, den Blick verfangen in des Mannes kleine, wasserfarbene Augen, aus denen er aber eine ihm verwandte, böse Kraft ihm entgegenströmen fühlte, die ihn bezwang. »Wenn die Strafe zu viel ist, dann will ich das tun, dann will ich die Appellation einreichen. Du bist ja mein Vater.«

»Jawohl. Nun mache die Sache so. Ich sage es dem Verteidiger.« Er sah den Sohn von oben bis unten an, während seine endlos breiten, geöffneten Lippen erzitterten, und seine Stimme, die sonst bei jedem Wort gewaltig gedröhnt hatte, flüsterte, als er sagte: »Wie die Mutter siehst du aus, du bist ja schön. Schön bist du ja wie die Mutter, aber innen, da ist der Vater, was?«

Fritz schwieg und blickte ihn ernst an.

»Na, adjüs, du Aas«, sagte der Vater plötzlich, wieder laut und dröhnend, drehte sich um und ging mit schweren, stampfenden Schritten hinaus.

Mit heißem, dunkel gerötetem Gesicht kam Fritz in die Zelle zurück. Er durchwanderte sie mit stürmenden Schritten, er pfiff so laut, daß der Wärter es ihm verbieten mußte. Er schleuderte seine Arbeit in die Ecke. Spät am Abend schlief er erst ein und drängte am Morgen in aller Frühe, daß er vorgeführt sein wolle. Gegen Mittag kam er wieder in die Gerichtskanzlei und gab eine zweite Erklärung ab: »Ich habe mich anders bedacht, nehme meine Erklärung, mich bei dem gegen mich ergangenen Straferkenntnis zu beruhigen, hiermit zurück und appelliere gegen das Urteil vom 6. Dezember dieses Jahres.« Diese Erklärung wurde durch den Verteidiger gerechtfertigt und Mitte März des folgenden Jahres verhandelt.

In der Zwischenzeit war der Gefangene sichtlich verändert. Sofort nach dem Besuch des Vaters fiel dem Wärter sein trotziges Wesen auf. Zwar arbeitete er fleißiger noch als früher, säuberte seine Zelle sorgfältig, wie immer, doch sprach und grüßte er überhaupt nicht mehr, und wiederholt mußte ihm der Wärter sein herausforderndes Singen und Pfeifen verbieten. Am tiefsten war der Pfarrer durch ihn enttäuscht, als er, statt des reuigen Geständnisses, die Kunde von der Appellation vernahm. Auch wies jetzt der Gefangene seine Worte und Ermahnungen zurück, sobald sie auf seine Tat und deren Geständnis und Reue hinzielten. Doch hörte er weiterhin die Predigten, und besonders in der inzwischen genahten Weihnachtszeit das Evangelium von Christi Geburt, mit sichtbarer Andacht und Freude an. Der Geistliche sah, wie dem Mörder, dem verlorenen Sünder in seinen Augen, Gott unerschütterlich nur Sonntag, Ruhe, Feier und Freude bedeutete. Er dachte lange darüber nach, und traurig erkannte er, daß es ihm nie gelingen würde, diesen Menschen zu Gott zu führen, wie er es verstand, Gott ihn begreifen zu lassen in seinen Geboten, seiner Strafe und erlösenden Gnade. Des Sünders Seele war nicht gottergeben. Aber Gott mußte ihr ergeben sein. Über dem verlorenen Samenkorn aus dem Gleichnis des Heilandes schien schützend der Schatten von Gottes Hand zu schweben, daß es nicht verdorre. Denn wie war es sonst möglich, daß der Mörder beten konnte, ja mit Freude und Glauben beten konnte, Gottes Namen anrufen, ohne auch vor Gottes Strafe zu erzittern, ohne in Reue sich zu zermartern, ohne von den Qualen des Gewissens zerrissen zu werden? Der Geistliche ließ ab, von der Tat des Mörders zu sprechen. Wenn er weiterhin mit dem Gefangenen betete, unterwarf er sich ihm, ließ von ihm die Bibelstellen bestimmen und die Gebete und Gesänge auswählen.

Reue und Gewissensqualen erschütterten die Seele des Mörders nicht. Durch des Vaters Anblick, durch seine Worte, sein Lachen, das der Sohn tief in sich widerklingen fühlte, war er von neuem in Trotz, in stumpfe Ruhe, in kalte Heiterkeit versetzt. Die schreckensvolle Erinnerung an die Mutter war für lange vertrieben. Aber sie kehrte zurück. Hatte der Vater einst den Sohn in trübem, unmenschlichem Verlangen gezeugt, die Kraft der Mutter, deren gutes, reines Blut das Kind genährt, deren Schoß es geboren hatte, stieß ihn jetzt zum zweiten Male aus dem brütenden Schlaf der bewußtlosen Seele in schmerzendes Erwachen, aus dunkler Verborgenheit gebar sie ihn zum zweiten Male zu Tag und Leben.

In Dunkelheit, in Einsamkeit bis in den Schlaf hinein hatte der Mörder sich bis jetzt gehalten, er vergaß sich noch in Arbeit, Singen, in dem Auf- und Abwandern in der Zelle, in Lachen und trotzigen Gedanken, in schönen Gebeten, in Schlaf und Traum. Kam aber nebelhaft fern die Erinnerung an den Traum, in dem der Mutter entsetzlich zerschnittenes Gesicht aufgetaucht war, nicht aus dem Herzen, nicht aus den Gedanken, sondern unter den immer verhüllten Orten seines Körpers hervor, überfiel ihn Furcht, Furcht vor sich selbst. Er ward sich selbst zum Schrecken. Krampfhaft hielt er sich bedeckt vor sich selbst, wandte stets sein Haupt zur Seite, schloß die Augen, wenn er seinen Körper entblößen mußte. Er hatte sich hartnäckig geweigert, an den Sonnabenden in das allgemeine Bad zu gehen. Trotzdem diese Weigerung auffallend war, da die meisten Gefangenen gern diese Badegelegenheit benutzten, um sich eine Stunde in Freiheit zu fühlen, nackt und fröhlich miteinander umherzulaufen, sich gegenseitig zu necken oder zu quälen, kam man dieser Weigerung des Gefangenen ohne Widerspruch nach, da man eine Isolierung in Anbetracht seines besonderen Falles für gut hielt. Er bekam an den Badetagen eine hölzerne Wanne mit lauwarmem Wasser in die Zelle geschoben. Er entkleidete sich mit geschlossenen Augen, mit fest zusammengepreßten Lippen und angehaltenem Atem, damit er nichts sähe, nichts fühle von sich selbst. Er wickelte das Tuch, mit dem er sich wusch, wie einen Handschuh um seine Hand, damit er sich nicht selbst berühre. Beim An- und Auskleiden des Abends und des Morgens beeilte er sich, aus den Kleidern sofort unter die Decke zu kommen, und beim Erwachen griff er wieder unter der Decke hervor nach den Kleidern. Beim Einschlafen legte er die gefalteten Hände auf die Decke und hielt sie da, trotzdem sie in der Kälte der Zelle bald erstarrten. In der Nacht, erweckt vom Schmerz des Frostes, zog er sie wohl in die Wärme unter die Decke, aber er barg sie in die Wölbung zwischen seinem Rücken und der harten Matratze des Lagers. So, von sich selbst gefesselt, auf doppelt hartem Lager liegend, hatte er nicht mehr den alten tiefen, traumversunkenen Schlaf der Bewußtlosigkeit, sondern nur einen leichten, dünnen Schlaf, den Schlaf der Erweckung. Es kamen nicht mehr die dumpfen Mahnungen der Träume, es kam nach und nach der klare Brand der Gedanken. Er dachte zuerst an seine Arbeit, er dachte sich ein neues Muster aus, in dem er die dünnen Rohrfäden der Stühle flechten wollte, einen neuen Stern, von einem Kreise umlaufen. Dann dachte er plötzlich an den Vater, er hörte den wilden, bösen Ton, mit dem jener auch über die Mutter gesprochen hatte, er dachte an Vater und Mutter zugleich und begriff, daß er ihrer beider Kind sei, daß der Vater ihn gezeugt, die Mutter ihn geboren hatte. Nun dachte er an die Geburten der Tiere in Treuen, und in nebelhafter Vorstellung erblickte er die Eltern in ihrer Umarmung, er sah den Vater mit mächtigen Knien lastend auf der Mutter, deren Antlitz er sich fest an die Erde gepreßt vorstellte. Aber des Vaters riesiges, fahles Gesicht sah er triumphierend erhoben, ausgeweitet vom Lachen. Dann aber ging die Mutter wieder in ihrer ruhig wandelnden Gestalt, mit ihrem weißen, sanften Gesicht über den Hof in Treuen. Kindheit und Heimat tauchten auf, das Haus in Treuen, die Söhne, die Frau, der Herr. Der Gedanke an den Herrn hielt ihn fest. Der Herr war sein Vater gewesen, die ganzen Jahre, die er bis jetzt gelebt hatte. Er dachte an den Herrn Christian B. und die Frau, er wollte sich vorstellen, wie sie sich umarmt hatten, doch nie hatte er von dem Herrn jenes Lachen gehört, nie ihn sich so niederkrümmen sehen, wie er den Vater vor sich sah, der ihn gezeugt hatte. Der Gedanke an den Herrn, die Erinnerung an seine hohe Gestalt, menschlich und edel gestrafft, an sein keusches, verhangenes Gesicht, beugte ihn. Er glaubte, ihm zu gehorchen, als er die kommenden Tage ruhiger, fleißiger und stiller sich verhielt. Er fragte nie nach seiner Berufung, er dachte längst nicht mehr daran, daß er sich gegen seine Strafe aufgelehnt hatte.

Am Weihnachtsfest erhielt er ein Paket mit Kuchen, von dem er aber nicht wußte, daß sein Herr Christian B. es ihm hatte senden lassen. Am zweiten Feiertag wurde er wieder in die Besuchszelle geführt. Er fürchtete, seinen Vater wiederzusehen. Aber nicht dessen ungeheure Hünengestalt wandte sich ihm entgegen, sondern schmal zwischen die Stäbe des Gitters gezwängt, so daß nur die dürftigen, abfallenden Schultern verdeckt waren, sonst aber der ganze magere Körper, mit dem Höcker im Nacken, mit dem kleinen listigen Gesicht sichtbar war im Zwischenraum der Gitterstäbe, stand sein zweiter Dienstherr, der Schultheiß Mandelkow, vor ihm. Auch er lachte ihm entgegen, doch es war ein leises Kichern. Er sprach gedämpft, flüsternd, in grober Erregung. »Na, hast du ein schönes Christfest gehabt, Junge du?«

Fritz schwieg.

»Du redest nicht? Nicht einmal mit mir?« Er sah Fritz lange an, Qual und Bosheit zeigten sich zugleich auf seinem Gesicht. »Ich habe dir Geld gebracht,« begann er dann wieder, »im Stall haben wir gemistet, da habe ich deinen Schatz gefunden.« Er zog, ohne seinen Blick von Fritz zu wenden, die mit weißem Papier umwickelten Talerstücke aus seiner Tasche.

»Ich brauche hier kein Geld«, sagte Fritz.

»Du darfst es ja gar nicht haben, du dummer Junge,« kicherte sein Herr, »ich weiß wohl, was sich gehört hier an diesem Ort, ich weiß ganz genau, wie es in einem Gefängnis sein muß, wenn ich auch nicht drinnen bin. Du darfst jetzt das Geld nur sehen, dann gebe ich es ab, unten, bei der Direktion, da wird es gut verwahrt, bis du es mal wieder selbst vergraben kannst. Du Armer, immer hast du vergraben, und die anderen graben es wieder auf, was?« Er lächelte, schob seinen Kopf mit emporgerecktem Kinn durch die Stäbe hindurch, während seine stechenden Blicke zwischen halbgeschlossenen Lidern dünn wie der Glanz von Nadeln hervorschossen. Fritz wich, obgleich durch doppelte Gitter von ihm getrennt, einen Schritt zurück, doch warf er seinen Kopf trotzig hoch und zuckte geringschätzend die Achseln. In das Gesicht des Schultheißen schoß eine helle Röte der Wut, hastig begann er zu sprechen: »Na, ja, du bist stolz, du hast Berufung eingelegt. Warum denn? Du bist zu dumm! Köpfen wollen sie dich doch nicht. Warum hast du nicht gestanden, wie alles fertig war? Da hättest du doch reden sollen. Du bist zu dumm. Ich hätte ihnen alles gesagt, wie gern hätte ich alles erzählt, ganz genau erzählt, wie alles gewesen ist, sollen nur die anderen es wissen, was für einer man ist. Du bist immer still und redest nicht, rede doch, dann ist alles so leicht, dann ist gar nichts mehr schlimm. Du vergräbst das wohl auch? Wohin vergräbst du denn das in dir, he?« Er schwieg, schöpfte keuchend den Atem aus seiner engen Brust, seine Augen waren jetzt geöffnet und glitzerten wie in Hitze oder Feuchtigkeit Fritz konnte ihm nichts antworten. Nach und nach beruhigte sich der Schultheiß, zog seinen Kopf zwischen den Stäben zurück und fragte nach einer Weile weiter: »Nun, erzähle doch, wie geht es dir hier?«

»Die Strafe ist milde«, sagte Fritz.

»Die Strafe ist gut, ja, Strafe ist gut«, sagte der Schultheiß. Seine Stimme, sein Gesicht waren plötzlich wie erloschen, sein Blick war weit geöffnet, weich wandte er sich seitwärts, mit sehnsüchtigem Ausdruck wie in weite Ferne versinkend; er stand ganz still, nur seine Brust flog, die Erregung ausatmend, in Stößen auf und nieder. Große Ruhe herrschte plötzlich im Raum. Nach einer langen Weile, in der nichts geschah, kein Wort fiel, kein Blick gewendet wurde, kein Glied gerührt, erhob sich endlich der Wärter von seinem Platz und trat mahnend auf den Schultheißen zu. Der erwachte aus seiner Versunkenheit, sah nicht mehr nach Fritz hin, sagte mit müder Stimme zum Wärter: »Ich habe ihm gut zugeredet, aber er ist verstockt. Er wird aber noch reden, er wird bestimmt noch einmal reden«, und dann ging er hinaus.

Fritz wurde in die Zelle zurückgeführt. Er dachte nicht weiter über die Worte des Schultheißen nach, denn nicht zu reden drängte ihn seine Tat. Den Schultheiß aber fand sein Gesinde am Morgen des Neujahrstages mitten im Moor mit zerschmettertem Schädel liegen; den rechten Fuß hielt er noch mit einer Schlinge an den Hahn der Flinte geknüpft, mit deren Lauf er den Schuß in seinen Mund gelenkt hatte. Seine Tat, mit Vernunft, mit Überlegung, mit dem seelischen Werkzeug des Menschen getan, hatte ihn so unwiderstehlich zum Wort, zum Bekenntnis gedrängt und gehetzt, bis er sich selbst Stillschweigen mit furchtbarer Macht hatte gebieten müssen.

Der Winter verging schnell, Ende Februar war schon der Himmel wie verklärt, in den Stunden des Mittags war die Luft zart durchleuchtet und durchwärmt von Sonne. In diesen Stunden drängte sich in mächtigen süßen Schwaden der Frühlingsduft der Erde durch das geöffnete Zellenfenster. Die ergebene, fast friedliche Stimmung, die Fritz in den letzten Wochen erfüllt hatte, steigerte sich mit dem Erwärmen, Erwachen, Schwellen und Wachsen alles Lebendigen in der Natur in ihm zu erregter Fröhlichkeit, zu einer aus ihm selbst hervorsteigenden Freude, zu einem glücklichen Lebensgefühl. In dem Mittagsstrahl der einfallenden Sonne stehend, die Augen geschlossen, mit zurückgeneigtem Kopf, die Hände, nach der zuchtvollen Gewohnheit im Schlafe, auf dem Rücken gefaltet, sang er vor sich hin, mit hoher, sanfter, schöner Stimme, wie einst in der Heimat, und es klang so rührend und schön, daß der Wärter sich nur schwer entschloß, es ihm zu verbieten, wenn es zu lange dauerte oder zu laut wurde, übrigens brauchte der Wärter kein Wort zu sagen, sein Eintritt in die Zelle genügte, um den Gefangenen sofort zum Schweigen zu bringen. Denn Fritz war menschenscheuer als je zuvor. Ihm waren die gemeinsamen Spaziergänge mit den anderen Gefangenen eine Qual. Er sprach mit keinem. Mit gesenktem Blick, festverschlossenem Munde, die Hände krampfhaft in den Falten seines Kittels verborgen, ging er mit unsicheren, verlegenen Schritten im Kreis der anderen mit, und als erster schlüpfte er schnell und nun plötzlich wieder sehr gewandt in seine Zelle zurück. Auch vor sich selber verbarg er sich weiter mit angstvoller Sorgfalt, mit der größten Schnelligkeit wechselte er seine Kleider, nachts barg er immer die gefalteten Hände in den Rücken und schlief den traumlosen, durch den Schmerz der zusammengepreßten Hände aufgestachelten Schlaf, aus dem er jederzeit schnell erwachen konnte.

In einer Nacht aber, die eiseskühl auf den sonnedurchwärmten Frühlingstag folgte, erwachte er, von brennendem Durst gequält. Erstaunt hörte er sein Herz pochen in weiten, ausholenden Schlägen, sein Mund glühte, fühllos stieß die schwere, trockene Zunge in seiner Höhle umher. Er richtete sich auf, nahm die gelähmten Hände hinter dem Rücken hervor, löste sie, dann stand er auf, tappte nach seinem Krug mit Wasser und trank. Doch er kam nicht dazu, das Wasser in schnellen, durstigen Zügen zu trinken. Der erste Schluck, der kühl und wohlig seine glühende Mundhöhle durchwogte, überströmte ihn mit einem Gefühl der Wollust: seine ausgetrocknete Zunge, nun wieder zu Gefühl erweckt, umschmeichelte die sich lau erwärmende Flüssigkeit, bis er endlich den Schluck mit sanftem Druck gegen die Kehle rinnen ließ. Danach lachte er, sein altes, furchtbares, lautloses, ihn völlig erschütterndes Lachen.

In der Zelle war es dunkel, kein Mond schien, nah und schwer lag der Himmel vor dem kleinen Fenster, besteckt mit einem Stern, winzig und weiß, ohne Licht und Schein. Luft und Stille waren unbewegt, kalt. Nicht Sterben, nicht Leben schien in dieser Stunde zu sein, die zwischen Nacht und Morgen schwebte. Das Lachen des Gefangenen verging, vom Boden stieg Kälte auf, schnitt ihm wie unsichtbare Schläge von Ruten in Beine und Rücken, und in diesem Schmerz verging noch einmal das lockende Pochen seines Herzens. Leer, ertötet fiel sein Körper nieder, es war nicht Schlaf, nicht Wachen, was ihn umfing. Das Wasser des Kruges, der umgestürzt war, lief mit noch tieferer Kälte als der des Bodens in kleinen Rinnsalen ihm um Schultern, Nacken und Rücken, und er sagte plötzlich leise: »Ich habe schwer getragen, Herr.«

Als er wieder erwachte, war es frühe Morgendämmerung. Der Himmel war dem kleinen Fenster wieder entrückt, Luft und Wolken in mattem Weiß schwebten hoch, leises Rauschen klang durch die Stille wie zarter Wind oder weicher Regen, ganz fern erklangen auch menschliche Laute, Schritte auf Erde. Mühsam richtete Fritz seinen erstarrten Körper vom steinernen Boden der Zelle auf. Sein Hemd war im Rücken naß, um ihn standen still und dunkelglänzend die Lachen des vergossenen Wassers. Er fühlte Erinnerungen kommen an den Teich der Heimat; hatte er nicht jetzt eben auch Ruten getragen, die peitschten gegen Beine, Rücken, Schultern und Nacken? Nein, denn er hatte auf kaltem Boden gelegen, aber damals war er aufrecht im heißen Sommer gegangen. Schnell ergriff er sein Handtuch und trocknete das Wasser vom Boden auf, bis nur noch eine geringe Spur von Feuchtigkeit zurückblieb. Dann schloß er die Augen, zog schnell das Hemd aus, breitete es, mit dem durchnäßten Rücken nach oben, im Bett aus, legte sich selbst darauf, während er das nasse Handtuch über seinem Leib ausbreitete. So wollte er alles trocknen und in Ordnung bringen. Gebettet in naßkaltes Gewebe, schlief er in trauriger Besänftigung nochmals ein, bis ihn der Wärter weckte.

Ein herrlicher Frühlingstag stieg herauf. Früh schon war die Sonne da, durch eine klare, von Winterkälte noch gläsern reine Luft funkelten ihre warmen, alles gierig liebkosenden, lockenden Strahlen. Der Duft der Erde, erweckt durch die Wärme, stieg süß und schwer auf zur Luft, als wäre er der zurückgeatmete Kuß der sich umarmenden Elemente. Nicht sahen die Gefangenen die Gräser sprießen, Blumen und Blätter der Bäume wachsen, Menschen und Tiere freier sich bewegen, nur im Atem der wild berauschten Luft, der durch die Fenster des Gefängnisses drang, sogen sie den Frühling in sich ein.

Fritz saß, Haupt und Rücken umwogt von der gierigen Wärme, gebeugt über seiner Arbeit, durchzog den Holzrahmen eines Stuhlsitzes mit einem Geflecht aus feinen gelblichen Rohrfäden, die, regelmäßig in einer Länge von einem Meter geschnitten, in dicken Bündeln an der Wand lehnten. Er bekam von der Verwaltung des Gefängnisses nur diese Arbeit zugewiesen, da er sie mit besonderem Fleiß und mit einem gewissen Geschmack ausführte. Seine Hände flogen, schnell und fehlerlos bildete sich unter ihnen das Muster der Sterne mit dem Kreis, von ihm selbst erfunden. Doch seine Knie zitterten, seine Augen waren blind, sein Ohr war umtobt von dem Rauschen seines Blutes, das aufgestachelt war von der Wärme der Sonne. Ein Tropfen Schweiß rann von seiner Stirn und hielt zwischen den Wimpern seines rechten Auges, stand da still wie eine Träne, und vor seinem geblendeten Blick dehnte er sich im Silberglanz zu einer weiten Fläche. Wasser, unbewegt, flirrend wie glühendes Metall, war um ihn. Sein blondes Haupt, stetig umspielt vom Glanz der Sonnenstrahlen, sank tief zurück in den Nacken, seine Augen schlossen sich, das glitzernde Wasser verrann, doch weit öffnete sich sein Mund, zwischen den schlotternden Kiefern entglitt Lachen ohne Laut und Ton. Die Arbeit fiel aus seinen Händen mit hartem Schlag auf den Steinboden nieder. Fritz sprang auf, glitt mit weichen, tief in die Kniee einbeugenden Schritten in der Zelle umher, das Lachen noch immer um den aufgerissenen, vollen Mund, die Hände warf er empor, streckte sie aus, öffnete und ballte sie in leeren Griffen, bis er plötzlich ein Bündel des Rohres packte, es hoch schwang, es weit über den Kopf emporwarf und es sich dann, wie schwere Last, auf den gebeugten Rücken lud.

Er wanderte weiter in der Zelle umher, doch die Last war nicht schwer, schlug nicht scharf und peitschend gegen ihn, leise knisternd tanzte sie mit seinen Schritten auf und ab, glatt und zart streichelte sie mit dem einen Ende der Spitzen seinen Nacken, mit dem anderen seine Beine. Da packte er sie fester, preßte sie zwischen seine Hände, duckte sich tief, hob sie über dem Nacken empor und schlug sie in sausendem Schwung nieder gegen seinen Rücken; wieder und wieder schlug er sich selbst, aber er konnte nicht die Schmerzen wie einst empfinden, die ihn bis zu besinnungsloser Wut berauscht hatten, weich und federnd schnellten die zarten Fäden des Rohres zurück, ermüdet ließ er sie zu Boden fallen.

Er stand still, keuchte, finster war sein Gesicht von Röte, zuckend öffneten und schlossen sich seine Hände. Gier, Wut und Kälte zugleich erfüllten ihn. Seine Augen, aufgerissen, verdunkelt, hart glänzend wie Lack, starrten empor zu dem kleinen, von goldenem Licht erfüllten Fenster, gegen das plötzlich, in einem scharfen Bogen heranfliegend, mit schrillen, langtrillernden Lauten und bebenden Schwingen ein Vogel stieß, eine Sekunde lang sich niedersenkte im Flug und dann zurücktauchte in den Äther.

In diesem Augenblick und in dieser Erscheinung traf Fritz zum erstenmal klar und deutlich die Erinnerung an die kleine Anna. In dem zitternd bewegten, goldenen Glanz des Lichtes, das den Raum des Fensters erfüllte, in dem jubelnden Schwung des Vogelfluges, im trillernden Ruf des Vogels begegnete ihm ihre zarte Gestalt im tanzenden Gang, ihre wie Federn schwebenden Locken des Haares, ihr Lachen aus geöffnetem, rosig schimmerndem Mund. Nicht als Opfer des Mörders, bleich, tot, anklagend und rächend, sondern als lockendes Bild, als einzige Erfüllung des Verlangens erschien sie ihm. Er streckte die Arme aus, er beugte sich der Erscheinung entgegen, er umfaßte die leere Luft, er stürzte zu Boden. Er wälzte sich mit dem Leib auf dem aufgelösten Bündel des Rohres umher, er verstrickte seine gierig sich auf- und zukrampfenden Hände in die feinen, glatten, doch scharf schneidenden Fäden, er umknotete beide Hände mit ihnen, zog die Schlinge mit den Zähnen fest, bis aus tiefen Schnitten Blut von den Händen rann. Es sickerte langsam, dicht vor seinem über die Hände gelagerten Blick als gewaltige, rotglänzende, wandelnde Berge vorüber, deren Zug er enden sah auf dem Geäst der Arbeit, die neben ihm lag.

Das erschreckte und erweckte ihn. Mit noch eisenhart gespannten Gliedern erhob er sich und blickte verstört auf die wilde Unordnung in der strengen, kleinen Zelle umher, auf die zerstreut liegenden Rohrfäden, auf den umgestürzten Rahmen der Arbeit, auf den verschobenen Schemel. Ratlos betrachtete er das langsam hervorquellende Blut an seinen Händen. Er fürchtete, daß es niedertropfen und das Rohr und die Zelle beschmutzen könnte, er fürchtete sich aber auch davor, die Hände an seinem Kittel abzuwischen oder das Waschwasser rot mit ihnen zu färben, denn überall sollte Ordnung sein. So wendete er die Hände hin und her, erhob und senkte sie, und die Blutbahnen, immer wieder zurückgeleitet von den Bändern der Hände, bedeckten sie nach und nach wie ein Netz. Er sah darauf nieder, und das Angesicht der Mutter stieg auf, weiß und durchzogen von dem roten Netze der Wundnarben. Er rieb die Hände ineinander, so daß sie sich schnell mit gleichmäßigem Rot um und um bedeckten, mit der Zunge wusch er sich die Fingerspitzen sauber, wobei er mit Zorn und Traurigkeit sein eigenes Blut schmeckte. Er löste mit großer Vorsicht seine Kleider ab, er wollte an dem äußersten Rand des Hemdes die blutigen Spuren verbergen, das Netz der Wundnarben, das Angesicht der Mutter auslöschen, als er plötzlich, im letzten Augenblick noch zögernd, das Hemd zu beschmutzen, auch dieses vorsichtig mit den Fingerspitzen forthob und die Hände an seinem nackten Leib abwischte. Er hielt wieder die Augen geschlossen, den Kopf von sich selbst abgewandt, doch fühlen mußte er die Berührung mit sich selbst, die wie ein gewaltiger Hieb, wie ein bis zum Innersten durchstechender Schlag ihn traf. Ausgewichen war er immer dem Anblick seines Leibes, verborgen gehalten hatte er sorgfältig vor Blick und Gedanken, was die Mutter entblößt und erkannt hatte. Jetzt aber, mit der von dem aufdonnernden Herzen eisern beengten Brust, warf er sich in der Mutter Umarmung, die ihn hatte töten wollen, jetzt, wo er seinen Leib mit den blutenden, geballten Fäusten schlug, wo er seine ausgespreizten Finger in die harten und doch in der Härte furchtbar erzitternden Stränge seines Fleisches bohrte, wollte er sich selbst zerfetzen, wollte sich totschlagen, wie sie ihn beschworen hatte.

Feuchtigkeit von Schweiß, Blut und Lust benetzten seinen Körper, Tränen aber in Strömen sein Gesicht.

Lange stand er noch in dem hellen Sonnenbrand des Märztages, ermattet von Schlägen, von tödlichen Griffen gegen sich selbst, bis zum Herzen erschüttert von Schmerz. Er hob das tränenüberströmte Gesicht dem kleinen, lichterfüllten Fenster entgegen, in dem zwitschernd der Vogel, lockend die Luftgestalt der kleinen Anna ihm erschienen war. Er dachte an sie, und leises Schluchzen erschütterte seinen Körper. Er wußte, daß er einst das Furchtbare mit ihr getan hatte, was er jetzt gerne sich selbst getan hätte. Er wußte, daß er sich nach Mord sehnte, und daß er verloren war.

Eine vom Frühlingswind getragene weiße Wolke verdeckte im weich treibenden Flug die Sonne, im Schatten war das lichterfüllte Fenster. Den Leib noch entblößt, mit müden, langsamen Bewegungen sammelte Fritz das Rohr vom Boden auf, bündelte es wieder und stellte es in die Ecke. Er hob den Rahmen mit der Arbeit auf und rückte den Schemel wieder an seinen Platz. Dann besah er seine Hände, sie waren von nun schon verhärtetem Blut und Schmutz bedeckt. Scham und Keuschheit hatte ihn verlassen, er sah ruhig nieder auf sich selbst, während er über dem bestimmten Gefäß seine Notdurft verrichtete, in deren Strahl er Blut und Schmutz der Hände abwusch, um ja nichts in der Zelle zu besudeln. Denn ein Rest jener alten, erschütternden Sehnsucht »es muß Ordnung sein« regte sich auch jetzt in ihm. An seinem Hemd trocknet er sich ab und ordnete seine Kleider. Er nahm seine Arbeit auf, hielt sie aber untätig in den Händen, in deren zerschnittenen Anblick er sich versenkte.

Er fiel von diesem Tage an in tiefe Traurigkeit Er arbeitete wenig, nie sang er mehr. In jeder Nacht träumte er von Mord. Zwar war sein entsetzensvolles Wissen um sich, um das Furchtbare in ihm, so tief in seine Seele eingeschlagen, daß er selbst in diesen Träumen Gestalten nicht zu sehen wagte. Aber er fühlte sich morden: er fühlte sein lustvoll erregtes Blut, seine Glieder leicht, getragen von fremder Kraft, und in seinen Händen hielt er gefangen weiche, schmeichelnde Leiber, zart und warm anklopfend an das Innere seiner Hände, sein Herz auflockend zu wildestem Sturm, und er drückte zu, tötete unsichtbares Leben, erstickte klopfend gefühlte Herzen, tot war die ganze Welt, nichts rührte sich mehr, er aber ward nun schwer, zur furchtbaren Last sich selbst, die Erde trug ihn nicht mehr, sie tat sich auf, Schlamm gluckste träge unter seinen Füßen, er sank ein, löste sich auf, ward eines mit den schweren, schwarzen Wellen des Morastes.

Schwer erwachte er des Morgens, bleich und mager wurde sein weiches Gesicht, trübe blickten seine lichten Augen. Der Wärter bemerkte seine Traurigkeit, er teilte es dem Geistlichen mit, der zu hoffen begann, daß des Mörders Gewissen doch erwacht sei, daß er bereuen und gestehen wolle. Aber er fand ihn in sonderbarer Weise verstockt und seinen Worten ganz unzugänglich. Nicht nur, daß er jede Ermahnung, die seine Tat betraf, mit teilnahmslosem Stillschweigen überging, jetzt sang und betete er auch nicht mehr wie früher mit dem Pfarrer mit. Er öffnete wohl den Mund, denn nicht aus Trotz kam sein Widerstand, sondern daher, daß sein Wesen im Innersten gebrochen war, doch er brachte keinen Ton, kein Wort hervor. Seine Blicke irrten schräg gesenkt am Boden entlang, Hände und Füße waren unaufhörlich in unruhvoller Bewegung.

»Warum faltest du die Hände nicht?« fragte der Pfarrer sanft, das Gebet nach der ersten Bitte des Vaterunsers abbrechend. Fritz sah auf seine Hände, die hin- und herzuckten, und schwieg.

»Willst du nicht mehr zu Gott beten?«

Fritz nickte mit dem Kopf. Auf seiner Stirn flammte plötzlich glühende Röte auf.

»Kannst du nicht beten?« fragte der Pfarrer wieder.

Fritz zuckte die Achseln.

»So will ich für dich beten, höre nur zu«, sagte der Pfarrer, schlug sein Andachtsbuch auf und las leise, wie für sich sprechend, ein einfaches Gebet um Andacht des schwachen Herzens und um Erlösung für reuige Sünder, und als er das Buch zuklappte, fügte er aus eigenem Antrieb noch die Bitte hinzu: »Herr, mein Gott, erbarme Dich seiner Missetat, erbarme Dich, erbarme Dich seiner verlorenen Seele. Amen.« Als er den andächtig gesenkten Blick erhob, da sah er, wie unter der gleichfalls geneigten, von Röte durchwölkten Stirn des Gefangenen still und lautlos Tränen zu Boden fielen. Die Hände waren nicht gefaltet, aber beruhigt war ihr Zucken, und das Scharren der Füße hatte aufgehört. Der Pfarrer trat auf ihn zu, legte seine Hand auf das lichte Haupt des Mörders und sagte: »Gott ist mit dir, er ist dir gnädig, ich weiß es.« Und selbst erschüttert, verließ er die Zelle.

Tags darauf wurde Fritz angekündigt, daß am nächsten Morgen seine Verhandlung vor dem Appellationsgericht begänne und er in der Frühe schon abtransportiert werden würde. Er erschrak sichtlich, wurde weiß bis in die Lippen. »Na, laß gut sein,« sagte der Wärter, »du hast es ja so gewollt, das geht auch vorbei.« Fritz sagte darauf nichts und nahm seine Arbeit zur Hand. Doch am Mittag fand ihn der Wärter untätig sitzend, die Hände fest in die scharfen Rohrfäden verstrickt, die an den Ballen und den fleischigen Außenrändern Schnitte wie von scharfen Messern eingruben.

»Was machst du nur? Jetzt hast du dich schon wieder geschnitten, du möchtest wohl gern ins Spital kommen? Aber wegen so ein paar Wunden geht das nicht, und dort ist es auch nicht schöner als hier. Seit wann bist du nur so ungeschickt?« So schalt ihn freundlich der Wärter und brachte ihm Wasser zum Waschen der Wunden. Am Abend war trotz der zerschnittenen Hände die Arbeit fertig und der Rahmen in sauberem Muster ausgeflochten. Das Rohr schien aufgebraucht. In der Nacht fiel Regen, in lauen, weichen Schwaden niedersinkend. Am Morgen fand der Wärter den Gefangenen vor seinem Lager in tiefer Ohnmacht liegend, seine Hände zwischen den übereinandergeschlagenen Schenkeln verborgen, wo sie ein furchtbares Knäuel von Fleisch, Haut und geronnenem Blut, durchschnitten und umstrickt von feinen, scharfen Rohrfäden, umschlossen. Man brachte ihn in das Spital des Gefängnisses, wo man den Ohnmächtigen nach einer schnellen Untersuchung tiefer noch einschläferte und seinen von ihm selbst zerfetzten und verwundeten Leib behandelte und verband.

Zu gleicher Stunde tagte das Appellationsgericht, verwarf die Berufung und erkannte die erste richterliche Entscheidung zu Recht an. Im Gerichtssaal, in unmittelbarer Nähe des Verteidigers, saß der Vater des Angeklagten, der sich bei dem Spruch des Gerichtes erhob und unter einem furchtbaren Gelächter den Saal verließ. Am nächsten Tage erschien er im Gefängnis und verlangte seinen Sohn zu sprechen. Man führte ihn in den Krankensaal. Er fragte den Aufseher nach der Krankheit seines Sohnes. »Er hat sich da selbst etwas getan,« sagte der ruhig, »das kommt oft hier vor.« Der Vater schob sich mit seinen schweren Schritten zum Bett des Sohnes.

Fritz saß aufrecht, hatte auf den Knien ein Brett liegen, auf dem er in Vierecke geschnittenes Papier zu Tüten faltete. Er hatte bald nach dem Erwachen aus der Bewußtlosigkeit um Arbeit gebeten. Er sah nicht zu dem Vater auf und arbeitete still weiter. Auch der Vater schwieg lange. Dann sagte er mit seiner dröhnenden Stimme: »Sie haben dich verdonnert. Hast du gestanden?« Fritz schwieg. »Hast du Dummheiten gemacht?« fragte der Vater drohend. »Ich kann nichts dafür, ich wollte es wohl totschlagen«, sagte Fritz leise und sanft. Jetzt erst schien der Vater zu verstehen, er brach in ein furchtbares, weithin dröhnendes, höhnisches Gelächter aus, sein roter Bart sträubte sich auf in dem großen, fahlen Gesicht, seine kleinen Augen versanken, die Adern an seinem halb entblößten, fetten, faltigen Hals sprangen dick auf, aus seinem weit geöffneten Rachen brüllte er: »Du Ochse! Kein Stier! Du bist ein Ochse!« Unter Lachen hob er seine schwere Rechte hoch, ballte sie zur Faust, plötzlich zischte er nur noch und hieb nieder in das Gesicht des Jungen, der wimmernd aufschrie. Der Aufseher riß den Vater mit großer Gewalt zurück, ehe der zum zweiten Schlag ausholte, doch gelang es dem Vater noch, in weitem Bogen auf das blutüberströmte Gesicht des Sohnes zurückzuspeien. Dann schob er sich mit seinen schweren, jetzt aber zitternden Schritten, mit keuchendem Atem langsam zum Saale hinaus. Vater und Sohn sahen sich nie wieder.

Nach zehn Tagen wurde Fritz wieder in seine Zelle gebracht, wo er endgültig seine fünfzehnjährige Freiheitsstrafe antrat. Nie erhielt er Besuche oder Briefe, nur zu den Festen des Jahres kamen regelmäßig Pakete mit Geschenken von seinem Herrn Christian B., wie sie für das Gefängnis erlaubt waren. Aber es fand sich weder ein Wort noch ein Gruß dabei.

Vier Wochen nach seiner Krankheit hatte sein Körper begonnen sich umzubilden zu jener Art, die lange jung und unveränderlich blieb, da Leidenschaft sie nicht zerrüttete. Seine hellen Augen schwammen nun in feuchtem Glanz, ein etwas trauriger Friede sprach aus ihnen, seine Wangen und sein Kinn füllten sich rund, rosig, wie mattes Porzellan färbte sich seine Haut, sein weißer Hals ward voll wie der eines Mädchens, auch seine Hände polsterten sich mit Fleisch, das die tiefen Schnittwunden ausglättete. Er war ein stiller, sanfter Gefangener, arbeitete und hielt Ordnung an sich und der Zelle, er sang oft, schöner, sanfter als je, nie mehr zu laut, er pfiff nie mehr, und der Wärter brauchte ihm nichts mehr zu verbieten. Während des Sommers genoß er auch mit mehr und mehr sichtbarem Vergnügen die Spaziergänge im Hofe, begann auch mit den Gefangenen zu sprechen, und als der Winter kam, richtete er mit Hilfe des Wärters und des Aufsehers an die Direktion die Bitte, ihn aus der Einzelhaft zu entlassen, was ihm ein Jahr später auch als Belohnung für sein gutes Verhalten gewährt wurde. Er lebte nun unter anderen Menschen, schlief mit ihnen gemeinsam seinen bis in den Traum beruhigten Schlaf. Sehr selten, nur in den Jahreszeiten, wenn der Frühling aus dem Winter hervorbrach oder der Sommer in den Herbst versank, mußte der Gefangenenaufseher ihn nachts wecken, da er mit zusammengekrampften Kiefern die ineinandergeschlagenen Zähne laut knirschend bewegte. Wurde er so erweckt, war er zornig, stieß mit den Füßen nach dem Wärter und dann noch lange gegen die Eisenwand des Bettes. Am Tage darauf war er dann traurig, arbeitete nicht und aß nicht. Dann ging das alles auf lange Zeit wieder vorüber. Mit den anderen Gefangenen sprach er wohl und wich ihnen auch nicht mehr aus, doch schien er gleichermaßen unempfindlich gegen ihre Tücken und Roheiten wie gegen ihre Freundlichkeiten zu sein. Durch seine ununterbrochen gute Führung kam er in den Arbeitssaal für Bevorzugte. Er ging regelmäßig in die allgemeine Andacht, doch allein betete er nie mehr. Die Wärter, Aufseher und auch der Direktor sprachen alle gern mit ihm. Auf vielerlei Weise versuchte man immer noch, ihn zum Geständnis zu bringen. Zwar wiederholte er nie mehr seine früheren, schnell und bestimmt geäußerten Beteuerungen: »Ich habe nichts getan,« doch er schwieg, sah wie träumend an allen vorbei ins Leere, und fassungslose Traurigkeit lag auf seinem schönen, engelhaft geglätteten Gesicht. Und so mußten alle, die wohl nach bestem Wissen seine Tat erforscht und verurteilt hatten, die Hoffnung auf die letzte Befriedigung ihres Gewissens aufgeben, die Welt mußte es aufgeben, das Geheimnis, das über dem Verschwinden des kleinen, schönen Kindes Anna B. und dem Auffinden der Leiche lag, je wirklich zu erfahren.


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