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Mein Falke

Da stand er nun im engen Käfig auf unserer Terrasse und schlug mit den Flügeln. Trat jemand zu ihm hinaus, dann wendete er den Kopf und schaute mit einer menschenähnlichen Gebärde über seine Schulter hinter sich, um zu sehen, wer gekommen sei. Oft bin ich neben ihm gestanden, und wir blickten alle beide auf das Meer, das stahlblau in der Sonne leuchtete und mit feinen, weiß schäumenden Wellen in die Ferne schwoll. Draußen glitten Dampfer und Segelboote dahin, die er freilich nicht beachtete. Strich aber von ungefähr eine Möwe vorbei, dann folgte er ihrem Flug, aufmerksam und gesammelt, mit einem gleichsam reservierten Interesse, und irgendwie anerkennend, wie vornehme Leute aus einer Loge auf die Bühne schauen. Wenn er mit den Flügeln schlug, klang es, als ob die Fahnen, die wir vor dem Haus gehißt hatten, im heftigen Seewind flatterten.

Dieser Falke schien mir sehr unglücklich in all seiner Jugend und in seiner aufwachenden Kraft. Die Sache war die, daß ich ihn, von einem Ausflug heimkehrend, unterwegs, in Aquileja, gekauft hatte. Um dreißig Heller. Ich weiß nicht, ob das teuer oder billig ist, denn mein Bedarf an Turmfalken ist bisher nur sehr gering gewesen, und ich kenne die üblichen Preise nicht. Aber ich weiß, daß ich ihn zunächst nur kaufte, weil es notwendig war, ihn zu retten. Er befand sich in der Gewalt von einem halben Dutzend italienischer Straßenjungen. Die hatten ihn oben auf dem Campanile ihrer Kirche aus dem Neste geholt. Jetzt war er ihnen ein Gegenstand der Spekulation; falls diese aber mißglücken sollte, blieb er das Spiel ihrer Launen. Man brauchte nur die Gesichter dieser kleinen Buben anzusehen, in ihrer ahnungslosen, fröhlich entschlossenen Grausamkeit, brauchte sich nur flüchtig zu erinnern, wie unbarmherzig die Tiere in allen italienischen Gegenden gequält werden, um zu wissen, was diesem jungen Falken bevorstand.

Als wir dann heimwärts fuhren, lag er ganz still in meiner Hand. Vom Bord des Schiffes schauten wir über die Lagune bis Aquileja zurück. Langsam verschwand es am Horizont; nur der Kirchturm hob sich noch spähend empor. Wir überlegten, daß der junge Falke dort oben gewohnt hatte, hoch über allen Menschen, bei den Glocken, deren Erzstimme seine Wiege umdröhnte, und bei den frischen Winden, die von den Bergen herabgeweht kommen und die ihn dort oben umbrausten. Wir hatten Mitleid mit ihm; es erschien uns sinnlos, daß er nun gefangen war, und wir empfanden es peinlich, in diesen törichten Raub irgendwie mitverwickelt und an ihm beteiligt zu sein. Meine Hand war von dem heißen Leben des jungen Tieres ganz lind durchwärmt. In meiner Handfläche fühlte ich seinen schnellen, leisen Herzschlag, der mich rührte und mir zugleich wie ein Beweis von Zutraulichkeit erschien. Ich betrachtete den Falken genauer. Das ernste Braun seines Gefieders fühlte sich an wie Seide. Oben auf seinem Kopf stak noch der weiße Flaum aus seinen Federn, wollig und zart, und schon in jedem Windhauch sich lösend, abgestreift, wie früheste Kindheit. Die Ränder des Schnabels -- beinahe hätte ich gesagt: die Mundwinkel -- waren noch gelb. Die schönen, großen, tiefdunklen Falkenaugen aber waren blicklos. Man konnte den Finger dicht davor hinhalten, konnte sie mit irgendeiner sanften oder jähen Bewegung reizen, sie blinzelten nicht einmal, schienen nichts zu sehen. Vielleicht, dachte ich, haben ihm diese Buben schon irgendeine Verletzung zugefügt, irgendeine Marter, und er wird über Nacht verenden. Vielleicht auch ist er nur vollständig erschöpft von der vielen Angst, die er ausgestanden hat. Wer weiß auch, wie lange sie ihn so herumgeschleppt haben in der Hand.

Er war nur müde. So müde, daß er am Boden des Korbes, in den er einstweilen getan wurde, sitzen blieb, still und ohne Regung, wie in meiner Hand. Ich ließ ihn allein, damit er vorerst einmal keinen Menschen sehen müsse, damit er Gelegenheit habe, sich von seiner Angst zu erholen und sich ein wenig zu sammeln. Nach einer Stunde kam ich wieder, um ihn zu füttern. Er mußte Hunger haben. Da stand er denn auch schon aufrecht in seinem Korb, und als ich mich zu ihm niederbeugte, hob er den Kopf und sah mit seinen großen, dunklen Augen zu mir herauf. Ich legte ein Stückchen Fleisch vor ihn nieder. Er folgte meiner Bewegung mit den Blicken, ließ aber das Fleisch liegen. Nun besann ich mich, daß er wahrscheinlich noch gewöhnt sei, von seinen Eltern geatzt zu werden; nahm das Fleisch und hielt es ihm an den Schnabel. Er wich zurück, ich bedrängte ihn, und er bog drei-, viermal unwillig aus, wie ein Kind, das sich gegen den Medizinlöffel sträubt. Bis es mir gelang, daß er den Schnabel öffnen mußte und ein bißchen von dem rohen Fleisch zu spüren bekam. Jetzt begriff er, was man von ihm verlangte, und jetzt wurde er auf einmal so eifrig, als hätte er das Fressen in diesem Augenblick erst erfunden. Er war eifrig, aber ohne Gier. Ich konnte fühlen, wie scharf und spitzig sein Schnabel war, aber er nahm, was ich ihm bot, so zart und so behutsam, daß es mir war, als ob meine Fingerspitzen von einer feinen Pinzette etwa vorsichtig gestreift würden. Er fraß auch keineswegs über seinen Hunger, wie andere, gemeinere Tiere pflegen, denen es angeboren ist, daß sie ihre Nahrung nicht selbst erjagen, sondern sie als Lohn und Gunst und Näscherei aus Menschenhand empfangen. Er nahm noch den letzten Bissen mit derselben Lust, mit der er den ersten genommen, aber plötzlich war er fertig und ließ sich nicht mehr verlocken. So oft ich ihn auch gefüttert habe, und so ausgehungert er manchmal war, immer zeigte er diese vornehme Genügsamkeit. Die erste Nacht schlief er noch in dem Korb, den ich offen ließ. Ein Käfig sollte erst am nächsten Tage beschafft werden.

Als ich den anderen Morgen das Speisezimmer betrat, um nach dem Falken zu sehen, rauschte er vom Tische auf, flatterte und saß dann auf der Lehne eines Stuhles. Ich verhielt mich ruhig, um abzuwarten, was er noch unternehmen werde. Bald schwang er sich mit einem kurzen Flügelschlag zum Büfett hinüber und spazierte dort auf und ab, mit dem ruckweisen, schwerfälligen Gang der Raubvögel, der dem Humpeln hüftenlahmer, alter Leute gleicht. Sei es nun, daß ihm die Marmorplatte des Büfetts zu kalt und zu glatt war, oder daß er die Sache überhaupt einmal erproben wollte, er ging auf eine weiße, tiefe Schüssel los, die dort stand, und sprang hinein. Diese Schüssel war voll Kirschenkompott, und es spritzte nur so, als er hineinsprang. Hundertmal hab' ich gesagt, man solle die Kompottschüssel nicht offen stehenlassen. Vergebens. Jetzt mochte man aber sehen, daß ich keineswegs aus übertriebener Vorsicht oder aus Pedanterie gesprochen hatte. Eine Kompottschüssel darf eben nicht so unbedeckt stehenbleiben -- wie leicht kann da ein Falke hineinspringen. Er blieb allerdings nur wenige Minuten drin und sah dabei sehr nachdenklich aus. Dann fand er offenbar, dieser Aufenthalt sei zu feucht, hüpfte heraus und flog unbeholfen auf den Fußboden. Von dort hob ich ihn auf. Er machte keinen Versuch, mir zu entschlüpfen. Vielleicht, weil ihm das Fliegen noch nicht ganz vertraut war; vielleicht aber auch, weil er sich nachgerade daran gewöhnte, gefangen zu werden.

Die ersten Tage im Käfig war er still und geduldig. Es war angenehm, ihn zu betrachten, wie er dastand und auf das Meer hinausblickte. Sein schlanker brauner Körper hatte so viel Schwung und Anmut in seinen einfachen Linien, so viel geschlossene Kraft und eine solch vollendete Haltung, daß man unwillkürlich Achtung vor ihm empfinden mußte. Dieses kleine Geschöpf hatte solch eine aufrechte Ganzheit, wie nur sehr wenige, sehr auserlesene Menschen in sich und an sich tragen. Nur das fortwährende Niederstoßen des Kopfes zeigte sein Temperament an, dieses Nicken und Emporschnellen des Kopfes, das auch den Adlern eigentümlich ist. Es sieht ungefähr so aus, als ob sie irgend jemandem, der zögernd herangeschritten kommt, ungeduldig und kurz winken wollten, er möge sich beeilen, oder als ob sie irgendeinem Gedanken in sich Zustimmung und Entschlossenheit nicken würden. Wir überlegten, ob wir ihn freilassen sollten. Aber das war einstweilen noch nicht gut möglich. Auf der Insel, auf der wir wohnten, gibt es nur ein paar Häuser, keine Felder, keine Wiesen. Er müßte über die Lagunen zu anderen Inseln fliegen, oder aufs Festland, um irgendein ergiebiges Jagdgebiet für sich zu finden, und dazu war er jetzt doch noch zu jung.

Er war sanft und gelassen. Nur einmal sah ich ihn erschrecken. Die Kinder kamen auf die Terrasse und brachten ihre große Schildkröte mit. Keinesfalls, um den Falken zu necken. Sie dachten gar nicht daran, wollten nur, daß ich das Tier untersuche, weil ihnen irgendwas nicht in Ordnung schien. Es war aber alles in Ordnung, und wir ließen die Schildkröte ein wenig auf dem Tisch spazieren, auf dem der Käfig des Falken stand. Der hatte sie kaum bemerkt, als er vollständig die Fassung verlor. Er wich bis ans letzte Gitter zurück, riß entsetzt den Schnabel auf und erhob wie zur Abwehr eine Kralle. Ganz hoch hob er sie empor und glich in dieser Stellung einem dekorativen, heraldischen Vogel, der ein Wappen hält. Niemals erschrak er sonst, wenn ich den Käfig auch öffnete, wenn meine Hand, die ihm doch riesenhaft erscheinen mußte, in den Käfig eindrang; auch nicht, wenn ich ihn angriff, hatte er Angst. Jetzt aber war er von starrem Entsetzen gepackt, als hätte er in seinem Herzen das Groteske, Vorweltliche der Schildkröte verstanden und als erfüllte ihn der Anblick dieses gepanzerten Tieres mit Grauen. Er hat sich nur langsam wieder beruhigt.

Manchmal versuchte ich es, ihn zu streicheln, und hatte dabei den törichten Gedanken, er könne für derlei Freundlichkeiten zugänglich werden. Verdutzt und gewissermaßen reserviert ließ er sich's gefallen. Wenn ich ihn an der Brust streichelte, stieg er immer höher und höher auf seinen Beinen empor, machte sich immer länger und länger, dann aber drehte er mir kurzweg den Rücken, als ob er sagen wollte: Nun ist es genug! Bei alledem, wenn man bedenkt, daß er ein Raubvogel ist, muß man zugeben, er war sanft. Eine junge Möwe, die man mir vor wenigen Tagen ins Zimmer brachte, biß wütend mit ihrem langen Schnabel nach mir, als ich nur die Hand hob, um sie anzurühren. Und sie konnte noch nicht einmal stehen, hatte noch den dunkelgrauen Flaum.

Dann begab es sich, daß mir einmal, als ich meinem Falken das Futter reichte, ein Stückchen Fleisch entfiel. Das war auch früher oft geschehen, aber er hatte es nie beachtet. Jetzt bückte er sich und fraß das Stückchen Fleisch vom Boden auf. Da war also ein Fortschritt. Ich legte ihm nun alles hin, und er nahm es ohne meine Hilfe. Er hatte gelernt, allein zu essen. An diesem Tage hörte ich ihn zum ersten Male wild mit den Flügeln schlagen. Zuerst meinte ich, es sei das Flattern unserer Fahne, und ging hinaus auf die Terrasse, um nach dem Winde zu sehen. Aber es war der Falke. Er warf sich mit der Brust gegen das Gitter, kletterte daran empor, breitere wieder die Schwingen aus und schlug damit, daß es rauschte. Ich trat ganz nahe zu ihm heran. Er wurde still und schaute mir mit seinen großen, dunklen, adeligen Augen entgegen. Plötzlich drehte er den Kopf ganz zur Seite, legte ihn einfach um, wie es die Papageien machen, wenn sie lauschen, und in dieser Bewegung lag beredsam, überraschend und zwingend eine Frage. Mindestens erschien es mir so in diesem Moment. Ich beugte mich über sein Gefängnis und sagte: »Bald!«

Nun aber gab es keine Ruhe mehr. Ich hörte ihn den ganzen Tag gegen das Gitter springen; und nachts, wenn ich im Bette lag, hörte ich ihn draußen vor meinem Fenster, auf der Terrasse, wie er sich gegen die Stäbe warf und nach der Freiheit verlangte. Er schlug jetzt nicht mehr mit den Flügeln; aber ich fand ihn mitten in seinem Käfig stehen, den schönen, stolzen Kopf ein wenig geduckt und die Fittiche hoch ausgebreitet. So stand er da und erinnerte mich an die steinernen und bronzenen Adler, die in Berlin auf allen Brücken und Denkmälern stehen, aufgeregt, mit gespreizten Schwingen. Allein ich sah, daß er zitterte. Sein ganzer Körper, sein ganzes Gefieder bebte in Erregung und Sehnsucht. Jetzt war seine Jugend und seine Kraft erwacht. Wie er so geduckt dastand und die Schwingen hoch über sich emporhielt, war es, als lausche er in seine Fittiche hinein, bezwungen von einer ungeheuren Ahnung, die jetzt diese Flügel durchströmte. Ein wundervolles Sichauflehnen sprach aus diesem flugbereiten Dastehen.

Es war ein quälender Anblick, dieses Tier, das vor Jugendlust glühte, dieser herrliche Schwung ausgebreiteter Fittiche ,... umsperrt von den Stäben eines Käfigs. Es war quälend, wie der Anblick einer vollkommenen Sinnlosigkeit. Wenn man jetzt zauderte, dann konnte etwas in seinem Wesen zerbrechen, was nie wieder ganz wird. So sind wir denn mit ihm auf eine der unbewohnten, lieblich grünenden Inseln gefahren und haben den Käfig mit geöffneter Tür in den Rasen gestellt. »Menschen können dich jetzt nicht mehr fangen,« sagte ich zu ihm, als er sein kleines Gefängnis verließ, »und wenn du sonst einem Geschöpf oder der Not des Daseins erliegst, dann hast du wenigstens dein eigenes Schicksal gehabt, wie ich meines habe, wie alle Kreaturen das ihre haben. Wer kann den anderen behüten?«

Ich hatte es mir sehr schön vorgestellt, wenn er sich gleich hoch in die Lüfte schwingen werde, kreisend und schwimmend, immer höher und höher. Das wäre sehr feierlich gewesen. Er war aber wie betäubt. Er flog erst nur schüchtern, als sei er darauf gefaßt, irgendwo wieder auf Gitterstäbe zu stoßen. Er setzte sich auf einen jungen Maulbeerbaum, nicht weit von uns. »Und doch, mein Freund,« sagte ich zu ihm, »wie fern sind wir einander jetzt schon wie fürs ganze Leben fern, schon in dieser Minute.« Da wagte er sich wieder ein bißchen weiter. Aber das nahe Gebüsch entzog ihn schon unseren Blicken. Und als dann später aus dem Dickicht ein Vogel jählings zum Himmel aufflog, fragten wir einander: »War das unser Falke?«

Aber niemand von uns wußte es.

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Ullstein & Co Berlin

 


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