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Meine Bekannten im Theater

Ich liebe die Dame, die im Theater hinter mir sitzt und Zuckerln ißt. Seit vielen Jahren sitzt sie hinter mir und entblättert Kugler-Bonbons und schält Mailänder Schiffchen aus dem Stanniolpapier und lutscht Pralinés. Bald ist sie dick, bald wieder mager; einmal ist sie alt, das andere Mal wieder jung, manchmal häßlich, manchmal hübsch. Aber Zuckerln ißt sie immer. Wenn ich in all der langen Zeit, in der ich das mit anhöre und mit ansehe, meine Freude am Theater noch nicht eingebüßt, mein bißchen Lebenslust noch nicht verloren habe, so liegt das nur an meiner zähen Natur. Die Dame selbst ist daran ganz unschuldig. Sie sitzt da und lutscht und kümmert sich nicht um mich. Ihre Zuckerln hat sie in einem Papiersackerl, und das Papiersackerl hat sie in ihrem Ridikül, und der Ridikül hängt an einem klirrenden Ketterl, und dieses wieder am Handgelenk der Dame, wo sich andere Armbänder, die ebenfalls klirren, befinden. Ich bitte nun, zu beachten, wie sinnreich das eingerichtet ist. Etwa fünf Minuten, nachdem das Stück angefangen hat, beginnt die Dame ihren Schmaus, der nur mit den Aktschlüssen endigt. Ich höre, wie sie den Ridikül vom Handgelenk nimmt; da läuten ihre Armbänder, und das ist das erste Klingelzeichen. Dann bettet sie den Ridikül in ihren Schoß, was ein kleines Rauschen von Seide verursacht. Dann wird wieder ein Klirren vernehmlich, dessen Ursache mir lange rätselhaft geblieben, von dem ich aber jetzt weiß, woher es kommt. Das ist nämlich die Kette des Lorgnons, die sich mit der Kette des Ridiküls in eine Unterhaltung einläßt. Dann wühlt die Dame, um ihr Papiersackerl zu erwischen, im Ridikül. Wenn sie es aber erwischt hat, o, wie raschelt das Papiersackerl; dieses Rascheln und Knattern gleicht einer ununterbrochenen Folge von kleinen Aufschreien, als ob sich das Papier kreischend gegen die gierigen Griffe wehren wollte. Es wehrt sich vergebens. Die Dame läßt nicht locker, bis sie ein Zuckerl herausgefischt hat. Und jetzt wird erst noch das arme Zuckerl entkleidet. Das knistert und raschelt und kracht von den ungeduldigen Rissen ins Papier. Endlich höre ich den leisen, schmatzenden Kuß, mit dem die Dame ihre Beute an die Lippen drückt. Und dann ist für eine Weile Ruhe.

Aber nur für eine kurze Weile; worauf das Spiel wieder von vorn anfängt. Ich vermag das so genau abzuschätzen, wie lange die Dame braucht, bis sie mit ihrem Bonbon fertig ist. In vieljähriger Praxis habe ich mir's erworben, daß ich schon eine Sekunde vorher weiß, wann die Finger wieder ihren Ringkampf mit dem sich sträubenden Papiersack beginnen werden. Während ich mit der ganzen Aufmerksamkeit, die mir unter solchen Umständen übrigbleibt, die Vorgänge auf der Bühne verfolge, lauere und lausche ich nach diesen Geräuschen. Meine Genickhaare lauschen, mein ganzer Rücken lauscht, und es ist mir, als sei ich einer unbarmherzigen Quälerei ohne Rettung preisgegeben. Meine Aufmerksamkeit wird mitten entzweigefetzt, und jeder, der gern einmal aufmerksam ist, weiß, wie weh das tut. Die Dame aber hinter mir fährt fort, Pralinés nackend auszuziehen, in den Mund zu stecken und daran zu lutschen. Ich liebe sie.

Gewiß denkt sie zu Hause zwischen sieben und zehn Uhr abends niemals daran, ein Zuckerl zu essen. Gewiß sagt sie, wenn ihr um diese Zeit ein Bonbon angeboten wird: »Jetzt? Vor dem Nachtmahl ,...?« Und wenn sie sich schon entschließt, so nimmt sie gewiß nur eins, höchstens zwei. Hier aber fängt sie etwa fünf Minuten nach Sieben an, Süßigkeiten zu verzehren. Kaum ist der Vorhang hochgegangen, versenkt sie ihre Hand in die Tiefe des Ridiküls, ißt und ißt und hört nicht auf. Fünfzehn, zwanzig, dreißig Zuckerln. Was ist der Mensch? Er verträgt keine Dichtung allein, er verträgt die Schauspielkunst nicht allein. Er muß sich Schiller und Blumenthal, Kainz und Treßler erst mit Eibischzelteln, mit Schokolade und Weinscharln mischen. Dann geht's. Lutschend fühlt er sich erhoben. Erhoben, fühlt er das Bedürfnis zu lutschen.

Ich kenne außerdem noch einen jungen Mann. Seit zwanzig Jahren kenne ich ihn. Er ist immer noch ein junger Mann, und es ist ihm immer noch nicht geglückt, einen Ecksitz zu erlangen. Wie innig wünsche ich, daß er endlich einmal einen Ecksitz bekäme. Aber ich habe kein Glück. Er hat seinen Platz beständig mitten in der Reihe. Er kommt immer, wenn der Vorhang schon aufgezogen ist, sagt »Pardon«, und dann muß ich mich von meinem Platz erheben und muß eine Sekunde lang seine Umarmung dulden. Es ist mir in diesem Augenblick sehr darum zu tun, den einleitenden Dialog des Stückes zu hören, von der Exposition kein Wort zu versäumen, und es ist mir ganz und gar nicht darum zu tun, daß ein junger Mensch seine Brust an der meinigen reibt. Aber mit dem einen Wort »Pardon« zwingt er mich, mein Amüsement, mein Interesse, meine eben rege gewordene Spannung zu unterbrechen, zwingt mich aufzustehen und zu dulden, daß er seinen Körper wie eine schwarze spanische Wand zwischen mich und das Bühnenbild einschiebt. Dabei legt er mir die Hände auf die Schulter, durch welche Berührung er mir einerseits andeuten will, daß er mich mit seiner Berührung nicht zu belästigen wünscht, und durch die er mich anderseits ermahnen möchte, vorsichtig zu sein, die Sache geräuschlos abzuwickeln, damit wir beide das Publikum nicht stören. Wir beide! Wenn der Vorhang heruntergelassen wird, erhebt sich der junge Mann von seinem Platz. Im selben Moment. Er ist mit Vergnügen bereit, viele Minuten von jedem Akt zu verlieren; aber er ist keineswegs gesonnen, von den Zwischenakten auch nur eine einzige Sekunde einzubüßen. Er gewährt mir nicht drei Momente Frist, nach dem Aktschluß sitzenzubleiben und einen Eindruck, eine Stimmung in mir ausklingen zu lassen. Er steht schon wieder da und sagt »Pardon«; und wenn das Spiel wieder im Gange, wenn der Saal wieder verdunkelt ist, wenn ich mich gerade recht hübsch behaglich zurechtgesetzt habe, dann wird er wieder dastehen, wird wieder »Pardon« sagen, wird sich wieder an mir vorbeitasten und -drucksen und wird mich wieder zum Mitschuldigen seiner Störung machen. Ich weiß nicht, was es eigentlich für ihn bedeutet, ins Theater zu gehen. Anfangs glaubte ich, er habe die Gewohnheit, hier seine Geschäfte zu erledigen. Aber er hat gar keine Geschäfte. Er sucht mit wahnsinniger Unruhe nach Bekannten, er späht beständig und in lebhafter Aufregung nach Leuten, die er grüßen kann. Hat er sie erblickt, dann bricht er aus der Parkettreihe so ungestüm hervor wie Nikolaus Zriny aus dem belagerten Szigeth; stürzt auf seine Bekannten los, um ihnen nichts anderes zu sagen als: »Guten Abend« oder »Habe die Ehre ,...« Nichts weiter. Aber er sagt das mit Enthusiasmus, er sagt es mit einem entzückten Lächeln, wie jemand, der eine wichtige Neuigkeit verkündet, oder wie einer, der einen famosen Witz macht. Es scheint ihm offenbar etwas besonders Lebensfrohes und Freudiges zu sein, wenn man Bekannte gerade im Theater trifft. Es scheint ihm ein Boden, der die Intimität und die allgemeine Liebe ungemein fördert, denn er wirft sich den Leuten förmlich an den Hals. Und das Stück, das gespielt wird, ist ihm nur ein Hindernis für die Geselligkeit, die einzelnen Akte sind Unannehmlichkeiten, die überwunden werden müssen, um zu den Zwischenakten zu gelangen.

Ich frage mich nur, ob die mit ihren Zuckerln raschelnde Dame, ob dieser Pardon-Jüngling wirklich ein unbestreitbares Recht haben, mir das Leben zu verbittern, mir künstlerische Genüsse zu zertrampeln und kostbare Stimmungen in Fetzen zu reißen; ob sie ein Recht haben, auf meinen Nerven herumzukratzen und mich halbkrank zu machen. Ich frage mich, ob es vielleicht öffentliche Entrüstung hervorrufen würde, wenn ich einmal der Zuckerldame ihr Ridikül mit Gewalt fortnehmen wollte, oder ob es peinliches Aufsehen erregen könnte, wenn ich mich einmal von dem Jüngling befreite, indem ich ihn gerade in dem Moment, in welchem er »Pardon« sagt, niederschießen würde. Leider steht zu befürchten, daß die öffentliche Sympathie, ungerecht, wie sie nun einmal ist, nicht auf meiner Seite stünde.

Aber sind denn diese beiden die einzigen, die ich liebe? Da gibt es noch andere Bekannte, denen ich viele Würze des Daseins verdanke. Blasses Entsetzen packt mich an, wenn hinter mir das Ehepaar sich eingenistet hat, jenes fürchterliche Paar, das seine Angelegenheiten so eingeteilt hat, daß »sie« alle Schauspieler kennt und »er« gar keine Schauspieler kennt. Wallenstein tritt auf, und ich höre »sie« flüstern: »Das ist der Sonnenthal!« Die Gräfin Terzky kommt, und hinter mir lispelt's: »Das ist die Bleibtreu.« Thekla erscheint, und ohne Gnade tönt es hinter mir: »Das ist die Medelsky.« Max schreitet herein, und die Stimme jener Gattin souffliert: »Der Reimers ,...« Es gibt kein Entrinnen. Ich bin selig, wenn ich vergessen kann, wie diese Menschen dort oben in der schnöden Wirklichkeit heißen, selig, wenn ich ganz in die herrliche Illusion versinke: Das dort ist Wallenstein, der fürstliche Condottiere, das die kluge Base Terzky, das dort Max Piccolomini. Aber es gibt kein Entrinnen. Dieses unglückselige Weib vergiftet mich mit ihrer scheußlichen Personalkenntnis, reißt mich aus der Illusion, läßt mich zu keiner Ruhe gelangen. Was ist ihr das Wallenstein-Drama? Sie sieht nur den Sonnenthal, den Reimers, die Bleibtreu, die Medelsky. Sie sagt: »Schön ist der Reimers ,...« Sie sagt: »Der Sonnenthal ist doch immer sehr brav ,...« Und es kommt auch der furchtbare Augenblick, in dem sie den Illo oder den Questenberg erblickt und indigniert ausruft: »Wer ist denn das? Den kenn' ich ja gar nicht!« Dann aber ist sie nicht zu beschwichtigen, bis sie den Illo oder den Questenberg kennt. Und dann schämt sie sich wieder, weil sie ihn nicht gleich erkannt hat. Und dann kommen ihre Beteuerungen, sie habe sich's ja ohnehin gedacht ,... und so weiter.

Da gibt es die Bekannten, die im Theater die Zeit benützen, um alles, was ihnen vom Speisen her zwischen den Zähnen haftengeblieben, herauszukriegen. Das geht »pfh! pfh!« Und jedes »pfh« geht dir wie ein spitzes Messer durchs Gehirn. Bis zur großen Pause sind sie mit dieser Tätigkeit so ziemlich fertig, aber in der großen Pause essen sie eine Schinkensemmel. Das klemmt ihnen neuen Vorrat in die Zähne, und nun geht es bis ans Ende des Stückes flott weiter: »pfh, pfh ,... pfh ,...«

Dann sind die Bekannten da, die urteilen. Sie urteilen sehr scharf und sehr laut, und sie sind so blitzschnell damit fertig. Man ist mit seinem Eindruck, mit seinen Gedanken noch tief beschäftigt, man fühlt sich erschüttert, gerührt, beglückt ,... patz! da fliegt einem so ein Urteil ins Ohr. Und immer eines, das man wie eine Keckheit, wie eine Anmaßung, wie eine Zudringlichkeit -- um es offen zu sagen: wie eine Verunreinigung des Lokales empfindet. Diese Bekannten trifft man überall. Ich habe vorige Woche in Dresden die Aïno Akté als Salome gesehen. Keine tanzt und singt und spielt die Salome so herrlich, so tief aus Wilde, Beardsley und Strauß. Keine hat diese Dämonie und diese Anmut, diese Wildheit und diese Kultur wie die schöne, schlanke, biegsame Aïno Akté. Ich war ganz erfüllt noch von dieser Erscheinung, als der Vorhang sich senkte. Und das erste Wort, das ich hören mußte, sprach eine fremde Dame mit schäbiger Energie aus: »Ein grauslich's Frau'nzimmer ,...« Es ist doch an allen möglichen Orten jede Verunreinigung untersagt, warum wird an einem so wichtigen Ort, wie es ein Theatersaal ist, die Verunreinigung der geistigen Atmosphäre nicht verboten? Es ist doch das freie Ausspucken nicht erlaubt, warum verbietet man nicht das freie Ausspucken von Urteilen und Meinungen? Das eine ist wirklich gradeso ekelhaft und gradeso sanitätswidrig wie das andere.

Meine Bekanntschaften reichen bis in die höchsten Kreise der Gesellschaft, jawohl. Und im Theater liebe ich die Aristokraten noch viel mehr als sonst im Leben. Es ist direkt eine Wonne, unterhalb einer Parterreloge im Parkett zu sitzen. Wie da die Herrschaften so unbefangen und so laut reden, als seien sie allein auf der Welt, und als seien die fünfzehnhundert Menschen, die sich ebenfalls im Saale befinden, für nichts zu achten. Ich wünsche mir manchmal im Theater allein auf der Welt zu sein -- es wäre angenehm, gäbe ein Gefühl von Sicherheit. Aber diese Leute wünschen sich's gar nicht -- sie sind allein. Auf der Bühne werden die Verse gesprochen: »O, sähst du, voller Mondenschein, zum letztenmal auf meine Pein ,...« Und über mir fragt gleichzeitig eine feiste Baronin mit belegter, aber ungedämpfter Stimme: »Ist die Kielmansegg noch nicht da?« Wie harmonisch das zusammenklingt! Von der Bühne herab tönt es: »Werd' ich zum Augenblicke sagen, verweile doch -- du bist so schön ,...« Und die Stimme der Baronin dröhnt dazu: »Ist die Kielmansegg noch nicht da?« Es kam so weit, daß ich mich selber überall nach der Frau Gräfin umsah, die ich gar nicht kannte, und die mich gar nichts anging, und daß ich den ganzen Abend mit der Frage beschäftigt war: Ist die Kielmansegg nicht da?

Dennoch war ich nicht so sehr wegen der Kielmansegg, sondern eher wegen des »Faust« ins Theater gegangen; wie man mir glauben wird.

Mein Bekanntenkreis ist sehr groß, und ich kann sie alle nicht auf einmal vorführen. Aber ich lege mir ein Panoptikum an, ich werde sie alle in Wachs nachbilden, ich werde die Sammlung so vollständig machen, daß kein einziges Exemplar fehlen soll; und ich werde sie dann alle gegen Entree sehen lassen. Das wird sehr überraschend sein, hoffentlich auch sehr erziehlich; und es wird einen wertvollen Beitrag abgeben für die Verbreitung und Verfeinerung der modernen Kultur.

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