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Verwickelte Geschichte

»Der Religionslehrer ist da!« riefen die Kinder, als sie die Glocke der Gartentür hörten. Sie standen auf und wollten das Zimmer verlassen.

»So, so?« meinte der Vater, »da werdet ihr beide wieder einmal schön in die Patsche geraten. Was? Ich wette, ihr habt nichts gelernt.«

Die Kinder schauten einander blinzelnd an. Dann brachen sie in lautes Lachen aus

»Wir wissen alles!« sagte das Mädel ein wenig prahlerisch.

Der Junge war minder siegesgewiß und korrigierte: »Das meiste wissen wir.«

»Was wird's denn heute geben?« forschte der Vater weiter.

»Ach, das ist diese schreckliche Geschichte mit dem Esau ,...,« sagte das Mädchen leichthin.

»Wieso denn schrecklich ,...?«

Die Kinder dachten eine Weile nach. Dann sagte der Junge: »Nun, er ist doch fürchterlich erhitzt von der Jagd gekommen.«

Das Mädchen fügte hinzu: »... und dann hat er sich doch um seine Geburt gebracht.«

»Um was?«

Die Kinder dachten nach, dann steuerten sie, was sie wußten, zusammen. Jedes gab, was es vermochte:

»Na ,... die Erstgeburt ,... natürlich ,... nein ,... das Recht der Erstgeburt ,... ah so ,... richtig ,... ja freilich ,... er hat ja die Linsen essen wollen ,...«

Der Vater stand auf und sagte: »Ich muß mir das einmal mit anhören. Wenn ihr erlaubt, gehe ich heute mit euch zur Religionsstunde in euer Zimmer.«

Die Kinder lachten wieder laut heraus, weil der Vater gesagt hatte: Wenn ihr erlaubt. Und sie zogen ihn mit sich fort.

Der Religionslehrer war mürrisch und nervös. Er machte ein Gesicht, als habe ihn jemand beleidigt. Aber der Vater kannte diese Eigenschaften und dies beleidigte Gesicht schon seit längerer Zeit, nahm es weiter nicht tragisch, sondern wußte, daß der Lehrer ein gutmütiger, im Grunde sanfter Mann sei. Nur eben ein vielgeplagter und deshalb auch ein ungeduldiger Mensch. Und vielleicht auch ein wenig pedantisch.

Der Unterricht nahm seinen Anfang. Die Kinder wurden geprüft. Sie hatten das letztemal gehört, wie Esau seine Erstgeburt um ein Linsengericht an Jakob verkauft. Dabei waren sie stehengeblieben und sollten nun wiederholen. Es ergab sich, daß sie zwar nicht alles wußten, wie das Mädel sich vorhin unterfing, aber immerhin hatte der Knabe recht behalten: sie wußten das meiste. Jetzt erzählte der Lehrer die Geschichte zu Ende. Ganz einfach, fast mit den Worten der Schrift erzählte er, wie Isaak seinem Sohn auftrug, in den Wald zu gehen und ein Wildbret zu erlegen; wie er es dann essen und Esau segnen wollte. Denn er fühlte, daß sein Tod nahe sei.

Hier trat nun die erste Stockung ein. Der Knabe unterbrach den Lehrer und fragte ganz bescheiden: »... Wenn er aber gefühlt hat, daß er bald sterben muß ,...?«

Der Lehrer blickte gottergeben vom Buch auf und erwiderte: »Was willst du denn?«

Man konnte sehen, daß der Junge mit seiner Verlegenheit zu kämpfen hatte. Aber die Neugierde in ihm war doch stärker. Er stotterte:

»... Ja, wenn er sterben muß ,... wieso hat er dann solchen Hunger ,...?«

»Er hat eben trotzdem Hunger gehabt,« murrte der Lehrer beleidigt und setzte dann entschieden hinzu: »Wenn es hier steht, wird es doch wohl auch wahr sein.«

»Natürlich,« bekräftigte der Junge. Er war eingeschüchtert, aber nicht befriedigt.

»Nicht wahr, Herr Lehrer?« redete nun der Vater dazwischen, »der alte Isaak ist ja nicht im Sterben gelegen, als er seinen Sohn in den Wald schickte?«

Der Lehrer blickte erstaunt den Vater an. Der aber sprach nun sachlich und ruhig zu dem fragenden Jungen weiter:

»Der alte Isaak war nicht krank, verstehst du? Nur sehr alt. Und deshalb wußte er, daß er bald sterben werde. Begreifst du das? Na also. Und deshalb wollte er seinen Sohn segnen, solange er noch Zeit dazu besaß und solange ihm noch Kraft blieb, die rechten Segensworte zu finden. Das leuchtet dir doch ein?«

Der Junge gab zu verstehen, daß ihm die Sache jetzt fabelhaft begreiflich erscheine, und der Vater fügte hinzu:

»Das Segnen sollte ein rechtes Familienfest werden, so etwa wie ein Geburtstag, weißt du? Darum verlangte Isaak, daß ein guter Braten gerichtet werde.«

Die Angelegenheit schien geordnet. Da warf das Mädchen dazwischen:

»Du, Herr Lehrer.«

Der Lehrer sah sie streng an. Er hatte es nicht gern, daß die Kinder »du« zu ihm sagten, hatte sich in diesem Punkt nur widerstrebend dem Wunsch des Vaters gefügt, der ihm begreiflich gemacht hatte, daß die Kinder alle Leute duzen, und daß es einstweilen dabei bleiben solle. Aber so oft solch eine Anrede kam, war der Lehrer doch wieder gekränkt.

Das Mädchen sagte: »Du, Herr Lehrer, was für ein Wildbret hat da der Esau geholt?«

Resigniert hob der Lehrer die Augen zum Himmel. »Was weiß denn ich?« rief er ungeduldig. Die Kinder sahen ihn ganz verblüfft an, weil er das nicht wußte.

»Man soll nicht so viel fragen!« schnitt der Lehrer weitere Einreden ab.

»Nun, vielleicht ist es ein Reh gewesen,« meinte der Vater.

»Hm!« rief das Mädchen einverstanden.

Der Lehrer konnte weiter erzählen. Er berichtete von Jakob, der die Zicklein briet, der sich mit Ziegenfellen Gesicht und Hände bedeckte, um den Vater glauben zu machen, es sei Esau, dem er nun den Segen gab. Er erzählte die ganze Geschichte zu Ende und wollte nun zu Jakobs Flucht übergehen, da trat die große Schwierigkeit ein.

»Du, Herr Lehrer,« sagte der Junge.

»Nun?«

»Weißt du, der Jakob ist doch ein schrecklicher Betrüger gewesen, nicht wahr?«

Das war nun freilich ein peinlicher Zwischenfall.

Der Lehrer fuhr zornig auf und wandte sich zum Vater, als erwarte er von ihm, er werde dieses ungeratene Kind auf der Stelle verstoßen. Aber das fiel dem Vater nicht ein. Er saß ganz ruhig da und schmunzelte sogar. Denn er erinnerte sich: So was Ähnliches habe ich als kleiner Junge auch gedacht. Ich habe mich nur nicht getraut, es auszusprechen.

»Du, Herr Lehrer ,...« meldete sich jetzt auch das Mädchen.

Der Lehrer drehte sich mit einem Ruck zu der kleinen Fragerin. Sie merkte wohl, daß jetzt ein Gewitter im Anzug sei, aber sie konnte nun nicht mehr zurück. Sie war auch zu neugierig.

»Schmeckt denn Ziegenfleisch so wie Reh?«

»Um Gottes willen ,...,« murmelte der Lehrer.

»Na ja,« sagte das Mädel, »sonst hätte der blinde Isaak doch gleich beim Essen spüren können, daß er kein Wildbret bekommen hat.«

Der Lehrer schlug die Hände zusammen: »Unsinn! Unsinn! Das ist doch ganz egal, wie Ziegenfleisch schmeckt ,...!«

»Ich meine nur,« sagte das Mädchen und wollte sich rechtfertigen, »weißt du, ich meine nur ,... weil dann der Isaak gleich gewußt hätte, daß der Jakob ihn anschwindelt.«

»Anschwindelt ,...?« jammerte der Lehrer und blickte ein Kind nach dem anderen mit schmerzerfüllten Augen an. »Anschwindelt? Jakob, der Erzvater? Ein Betrüger, sagst du?«

Er wandte sich zu dem Jungen. Und beide kopfschüttelnd betrachtend, rief er:

»Was seid ihr für schlimme Kinder!«

Aber die Kinder beharrten auf ihrer Meinung. Sie waren erschrocken, sie hatten Angst, und sie waren bereit, in Tränen auszubrechen, doch sie blieben bei ihrer Auffassung.

»Er hat doch den Isaak um den Segen betrogen,« druckste der Junge hervor. Und das Mädchen erklärte einfach: »Die Handschuhe aus Ziegenfell, das war doch ein Schwindel!«

Jetzt versuchte es der Lehrer mit der Rührung.

»Kinder,« begann er weich, »bedenkt doch, Jakob! Versteht ihr mich denn nicht? Der Liebling Gottes! Der Patriarch! Aber, Kinder ,... der gute, sanfte, fromme Jakob ,... darf man denn so was von Jakob sagen? Solche häßliche Worte?«

Das Mädchen brach ohne weiteres in Tränen aus. Doch unter Schluchzen rief sie:

»Warum hat er denn gelogen?«

Und der Junge heulte, als tue ihm der arme Jakob so schrecklich leid: »Ich weiß nicht, warum er zum Esau so schlecht gewesen ist!«

»Ruhe!« donnerte der Lehrer. »Ihr habt nichts zu sagen und nichts zu fragen! Ah, da schau' her! Was versteht denn ihr davon?!«

»Nein, Kinder,« sagte nun der Vater langsam, »ihr versteht das wirklich nicht.«

Die Kinder merkten, daß der Vater nicht böse sei, waren augenblicklich beruhigt und schauten ihn gespannt an. Und von ihren zutraulichen, erwartungsvollen Gesichtern genötigt, sprach er weiter:

»Nun denkt euch einmal, Kinder, der Isaak war doch blind, was?«

Die Kinder nickten eifrig.

»Also, wenn der liebe Gott nicht gewollt hätte, daß der Isaak getäuscht wird, hätte er ihn doch nicht blind werden lassen. Nicht wahr?«

Die Kinder nickten eifrig, und in ihren Augen hieß es: Weiter!

Der Vater merkte, wie der Religionslehrer sich unmutig die Lippen biß. Er vermied es, ihn anzusehen, und fuhr fort:

»Nun seht einmal, Kinder, der Esau war ein tapferer Kerl, ohne Rast und Ruh, immer auf der Jagd, immer mit Pfeil und Bogen und Spieß. Und der Jakob war brav, war immer bei der Mutter zu Haus. Vielleicht war er sogar ein Topfgucker.«

Die Kinder johlten. Der Lehrer trommelte auf den Tisch.

Der Vater fragte: »Nun, wer ist euch lieber? Der Esau oder der Jakob?«

»Der Esau! Der Esau!« riefen der Bub und das Mädel. Der Vater dachte bei sich: O Gott, in was für eine Geschichte habe ich mich da eingelassen? Aber das half ihm nichts. Er mußte jetzt reden: »Nun, seht ihr, mir wäre der Esau auch lieber gewesen! Aber er war doch ein leichtsinniger Patron. Und er hat sich nicht beherrschen können. Kommt da von der Jagd nach Hause, erhitzt und hungrig, und weil er sofort essen will, weil er keine Geduld hat, ein bißchen zu warten, weil ihm beim Anblick der Schüssel Linsen das Wasser im Mund zusammenläuft, gibt er gleich sein Recht der Erstgeburt dafür her, den Segen des Vaters. Darf man den Segen des Vaters für ein bißchen Gemüse verkaufen? Nur weil man gerade hungrig ist?«

Die Kinder erklärten einstimmig: »Nein!«

»War das schön von Esau?«

Die Kinder, einstimmig: »Nein, das war nicht schön von ihm.«

Der Vater atmete auf:

»Nun seht ihr. Und wie dann der Isaak von ihm verlangt hat, er soll ein Wildbret holen und sich segnen lassen, ist der Esau gleich wieder in den Wald hinaus. Aber daran, daß ihm der Segen gar nicht einmal mehr gehört, daran hat er nicht mehr gedacht. Er hat also ganz vergessen, daß ein Mann sein Wort halten muß. Nun ,... ist das ein Mensch, auf den man sich verlassen kann? Nicht wahr, nein? Ja, aber, Kinder, der liebe Gott hat doch einen Menschen gebraucht, auf den er sich verlassen kann. Was meint ihr? Und was hat denn der Jakob getan? Gar nichts hat er getan. Nur, was seine Mutter ihm befohlen hat. Also erstens, die Zicklein zu schlachten. Ja? Sie hat ihm befohlen, sich die Hände und den Hals mit Fell zu bedecken. Ja? Na, seht ihr! Der fromme Jakob hätte sich geduldig um den Segen bringen lassen, der doch ihm gehörte. Aber seine Mutter hat gewußt, daß der Segen und das Recht der Erstgeburt jetzt dem Jakob gehören. Und da hat sie nicht wollen, daß er darum betrogen wird. Hat sie da nicht recht gehabt?«

Die Kinder lachten zufrieden.

»Nun sagt mir, hat der Jakob geschwindelt, und glaubt ihr jetzt noch, daß er ein Betrüger gewesen ist?«

»Aber nein!« rief das Mädel, und der Junge sagte: »Nein, gewiß nicht,« so überzeugt, wie jemand etwa sagen würde: Die Sache ist in ritterlicher Weise erledigt.

Wie erlöst lächelte der Vater. »Merkt euch das noch,« schloß er, »der liebe Gott hat das alles so gewollt, wie es geschehen ist. Darum mußte der alte Isaak blind sein, und Jakob mußte den Segen haben. Denn der liebe Gott hatte Jakob auserwählt.«

»Ja ,... dann,« sagte das Mädchen obenhin, »dann ist das Ganze eine sehr lustige Geschichte.«

*


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