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In Schönbrunn

Vor wenigen Jahren gab es fünf oder sechs junge Bären in Schönbrunn. Herzige kleine Dinger, die in ihrem frischen Wollpelz aussahen, als trügen sie weite Hosen. Alle schienen sie mit ihren fröhlichen Ohren, mit den weichen, hilflosen und doch so geschickten Bewegungen und mit den listig schmunzelnden Schnauzen wie geborene Komiker.

Man hatte die ganze Gesellschaft in einen Zwinger gesteckt; da spielten sie, rauften miteinander, kugelten und balgten sich. Es war die richtige Kinderstube.

Wie dann die Leute anfingen, sie zu füttern, wurden die kleinen Bären gewerbsmäßige Bettler, saßen beständig nebeneinander am Gitter, jammerten und stöhnten, als müßten sie Hungers sterben, wenn sich von den Vorübergehenden niemand erbarmte. Und je mehr Zulauf sie hatten, desto herzbrechender wurden die Klagen, die sie anhoben. Noch mit dem Bissen im Maul fuhren sie fort zu wimmern, daß die Mildtätigkeit nur ja nicht erlahme und keiner denke, so vieler Kummer sei mit geringem Almosen gestillt.

Durch ihren Erfolg verlockt, begannen die japanischen Bären gegenüber ein Konkurrenzgeschäft und stimmten ein originelles Flennen an, das geradezu Aufsehen erregte. Es war ein ganz dünnes, zimperliches Weinen, tremolierend atemlos und boshaft, wie von jemandem, der friert und sich ärgert.

Aber dieses Ehepaar hatte auf die Dauer kein Glück, denn es war ein düsteres Familiengemälde, das sich hier bot. Der Mann, ein ausgemachter Heuchler, schlug seine Frau in aller Wehmut, so oft sie einen Brocken erhaschte. Wimmernd und wehklagend mißhandelte er seine Gefährtin und nahm gerührt alles für sich allein.

Dann kam ein Wolf in die Menagerie. Der saß eines Tages hinter Schloß und Riegel und festen Eisenstäben und war sehr unglücklich. Denn er war ein Wolf, der einst bessere Tage gesehen hatte. In seiner Jugend war er irgendwo bei einer guten Frau wie der Hund im Hause behandelt worden. Das ist enorm viel für einen Wolf, und er konnte der glücklichen Zeit nicht vergessen.

Die Behörde war eingeschritten, und in ihrer unerschöpflichen Weisheit hatte sie entdeckt, ein Wolf sei ein reißendes Tier. Also: vertilgen oder ihn vorschriftsmäßig unterbringen.

All seine Sanftheit half nichts; es half nichts, daß er gehorsam auf jeden Ruf herbeigelaufen kam, nicht, daß er mit bestrickender Liebenswürdigkeit wedelte, nicht, daß er -- an gekochtes Futter gewöhnt -- das blutige Fleisch verschmähte, es half nichts, daß er sich streicheln ließ und zärtlich die Hand zu lecken verstand: er wurde als reißendes Tier eingesperrt.

Es war einfach ein Justizmord. Dazu gab man ihm einen ungezähmten Gefährten. Offenbar um einen ordentlichen Wolf aus ihm zu machen. Er blieb sanft. Er duldete die Bisse und Schläge seines Zellengenossen und konnte nur weinen. Der Kaiser hat ihn einmal auf einem Morgenspaziergang jammern gehört, fand ihn blutig und hilflos und befahl, daß der gute Wolf vom bösen befreit werde.

Dann gab es einen weißen großen Kakadu in Schönbrunn, der ein Simulant war. Hatte er Zuschauer, so begann er sofort mit seiner Komödie. Er besaß eine kunstvolle Art, langsam und mit vielen Umständen seine Kette um Hals und Kopf zu winden und sie außerdem an der Kletterstange zu verwickeln, so daß es den Anschein hatte, als habe er sich unversehens stranguliert. Hing er endlich in der selbstgedrehten Schlinge, dann hob er mit einmal ein gottsjämmerliches Schreien und Kreischen an, schlug mit den Flügeln, als stünde sein qualvolles Ende bevor. Immer saß irgendwer diesen gellenden Hilferufen auf und lief nach dem Wärter. Die Zurückgebliebenen bedachten indessen erregt, ob der arme Vogel wohl so lange noch leben könne. Wenn er aber merkte, daß nun die Spannung ihren Gipfel erreicht habe, oder wenn ihm jemand beistehen wollte, zog er plötzlich den Kopf aus der verschlungenen Kette, schwang sich auf seine Sprosse und schaute ganz still und ruhig umher, als sei nichts geschehen.

Dann gab es einen Löwen, der sich gemütlich ans Gitter preßte und sich die Mähne krauen ließ. Nach einer Weile aber fuhr er mit erschrecklichem Fauchen herum, schlug mit den Tatzen nach dem freundlichen Wärter und benahm sich so recht als ein großer Herr, der treue Dienste mit grausamer Undankbarkeit lohnt.

Früher bin ich alle Tage in den Schönbrunner Garten gegangen und am liebsten bei den Tieren gewesen. Die vielen großen und kleinen Tragödien, die sich hier abspielen, all die lustigen Zwischenfälle, die drolligen Episoden, die verschiedenartigen Äußerungen und Anzeichen einer zwar deutlich wahrnehmbaren, für uns aber unverständlichen und geheimnisvollen Vernunft können mich stundenlang aufregen oder erheitern.

Jetzt sind die Bären erwachsen; und nur ein einziger kleiner Kerl wohnt in der Kinderstube von damals.

Die japanische Konkurrenz hat sich beruhigt und führt ein ziemlich friedliches Dasein.

Der arme Wolf wird immer noch nicht müde, seine Unschuld zu beteuern; begrüßt jeden mit demütiger Gebärde und sitzt den ganzen Tag mit sehnsüchtigen Augen da.

Soll man ihm sagen: La vérité est en marche? Er verstünde es nicht, und es würde ihm nur wenig nützen. Denn heute wissen ja alle, daß er zahm, lieb und ungefährlich ist. Trotzdem muß er hinter Gitterstäben bleiben; nur weil er ein Wolf ist. Aus keiner anderen Ursache. Und so mancher bissige Hund läuft frei umher, wird geachtet und geehrt. Aber wer kann eingewurzelte Vorurteile besiegen? Da gibt es einen Wolf, der mit den anderen Wölfen nicht heulen will. Und natürlich hat er davon nichts als Unglück.

Der Kakadu ist noch derselbe Schwindler und foppt die Leute, so oft es ihm gefällt.

Dem Löwen aber hat man, wie es scheint, seine Herrenlaunen abgewöhnt.

Geduckt sind alle diese Tiere durch ihre lange Gefangenschaft. Ihnen allen ist die Menschenfurcht von den Mienen zu lesen. Aber verändert sind sie in ihrem Wesen nicht. Manchmal revoltieren sie, und solche Augenblicke, in denen ihre wirkliche Natur hervorbricht, sind von einer wunderbaren Gewalt.

An sommerstillen Abenden, wenn die Löwen unruhig in ihrem Käfig umherlaufen oder stehenbleiben, das Haupt tief herabgesenkt, aufmerksam witternd; wenn der Königstiger sich erhebt und die ungenützte Kraft in seinen Flanken zittert; und wenn die Raubtiere dann ihr Gebrüll beginnen, das wie ein schmerzliches Stöhnen und Blasen sich anhört, dann fallen die anderen Tiere ein, und dann ist es ein mächtiger Chor der Gefangenen. Und es ist von einem sonderbaren Reiz, die Stimmen aller Länder und Zonen hier auf einem einzigen Platz zu vernehmen. Die Löwen der afrikanischen Wüste, die Tiger aus den Dschungeln Indiens, den Schrei der Pardelkatzen aus Brasilien, das Brummen der nordamerikanischen Bären, die wilden Trompetenstöße der Elefanten, tropisches und arktisches Getier, als ob sie aus allen Weltteilen ihre erbitterten Klagen erheben wollten gegen eine drückende, ungerechte und quälende Herrschaft.

Versöhnlicher hört sich das in der großen Volière an, in diesem hellen, belebten Saal, in dem die Vogelstimmen aus allen Wäldern der Erde ineinander klingen. Von einer beständigen, fröhlichen Musik ist das freundliche Gelaß erfüllt. Tausendfache Melodien, tausendfach ineinander verschlungene Töne von einer märchenhaften Reinheit, ein Gesang von so schallendem Jubel, daß man sich von linder, tröstlicher Heiterkeit unwiderstehlich ergriffen fühlt.

Staunend betrachtet man hier die wundersamsten Launen der schaffenden Natur. Winzige Vögel, die in der Farbenglut ihres Gefieders aussehen wie lebendiges Geschmeide. Prunkvolle, majestätische Tiere wieder, mit richtigen Kronen auf dem stolzen Haupt; Tiere von heraldischer Würde, und dann wieder tolle, groteske Einfälle, Karikaturen, beschämte Existenzen, äußerste Plumpheit und himmlische Anmut, märchenhafte holde Gebilde und höhnische Verzerrungen, und beinahe mit frommen Gedanken findet man sich einer Kraft gegenüber, die mit sorglosem Gleichmut solch höchste Vollendung der Schönheit und so erbärmlich mißlungene Versuche nebeneinander bietet.

Merkwürdige Vögel lernt man hier kennen, mit lyrisch-zärtlichen Namen wie die Diamant-Amandine, mit Namen aus Tausendundeiner Nacht wie den Vogel Bülbül, von dem manche Leute glauben, daß er gar nicht existiert. Hier hüpft er gar zierlich in seinem Bauer umher und ist der Nachbar des echten Pirol.

Gegenüber jedoch wohnt einer, der wie eine winzige gelbe Krähe aussieht. Gelb mit schwarzen Kopfflecken, schwarzen Schwingfedern. Er hat ein scheues, schweigsames Wesen und heißt: der schwefelgelbe Tyrann.

In der Volière wird der Zwang, den die gefangenen Tiere erleiden, am wenigsten kenntlich. Aber draußen die Adler und Geier, die in ihren Käfigen sitzen und mit kummervollen Augen ins Weite schauen, die ihre Schwingen breiten und sie wieder langsam, gleich als ob sie seufzen würden, zusammenfalten, die sehen wirklich aus wie gefesselte Helden, und sie können einen manchmal arg verstimmen.

Ein Kind sagte neulich: »Ich weiß jetzt, Vater, wie die Adler aussehen, und du kannst sie schon wieder fliegen lassen!«

Wir wissen auch, wie Löwen und Tiger aussehen, und lassen sie doch nicht laufen. Aber das ist, abgesehen vom Schaden, den sie stiften würden, eher zu begreifen. Denn die Menschen empfinden es als einen Reiz, gebändigte Wildheit zu beschauen, gefesselte Riesen anzugaffen und an wehrlos gemachter Kraft sich zu weiden. Jeder hat schon bei sich, vor dem Zwinger, erwogen, »was der Löwe tun würde«, wenn man ihn plötzlich freiließe. Ich hab' mich niemals dazu vermocht, ihm was Schlimmes zuzutrauen, ob ich gleich all die blutigen Dinge, die ihm nachgesagt werden, nicht im mindesten bezweifle. So oft ich ihn aber sehe, erscheint er mir sanft, anmutig, harmlos und bester als sein Ruf. Selbst wenn er brüllt, steht er nicht wild aus, sondern eher, als sei ihm bedenklich übel. Und im übrigen ist der Löwe in unserem Bewußtsein schon mehr ein Klischee geworden als ein lebendiges Wesen, eine Art dekoratives Gebilde, das ein jeder von allen möglichen Wappen her kennt, von Brücken und Denkmälern, so daß man glauben möchte, er werde in den Menagerien nur gehalten, damit er seine Existenz beweise. Sicherlich denken die Leute in Afrika anders darüber ,...

Nur im Königstiger läßt sich der Feind erkennen. Doch wenn er in seiner engen Zelle die prachtvollen Glieder zum Sprung reckt, wenn er die verlangenden Körperkräfte an den Eisenwänden verrast, dann fühlt man Mitleid mit ihm und wünschte, diese Tiere, in denen der Trieb nach Freiheit nimmer schläft, möchten wenigstens in ein größeres Gehege gebracht werden.

Es ist eine alte und, wie ich glaube, falsche Menagerietradition, die Raubtiere so eng wie möglich zu halten und den Rindern, den Schafen und anderem gutmütigen, an den Stall gewöhnten Zeug weiten Spielraum zu lassen. Würde man Löwen, Tiger, Leoparden, Bären und Füchse in große Gehäuse bringen, wir könnten ihren Anblick zehnfach genießen, und ein Schauspiel der herrlichsten Bewegungen würde sich entfalten.

Der gleiche Brauch bewährt sich ja im Affenhaus, vor dem die großen und die kleinen Kinder sich amüsieren. Im Grunde ist es aber doch ein recht melancholischer Spaß, den man mit diesen kränklichen, boshaften und lächerlich menschengleichen Geschöpfen hat. Wie gehässige, misanthropisch ausgesonnene Karikaturen, wie gespenstische Zerrbilder und böse Träume wirken sie auf die Dauer. Es ist, wenn man einen Affen betrachtet, als habe ein Mensch durch Krankheit oder durch verruchten Zauber den Gebrauch seiner Gaben verloren, als falle er in den tierischen Urstand zurück. Und während alle Schamlosigkeiten des Körpers die Übermacht gewinnen, quält er sich ab, diesem Jammer zu entwischen, bleibt mit menschlichen Mienen und tierischen Gebärden an der fürchterlichen Grenze zwischen Mensch und Vieh. Diese Versuche, die ihn uns wieder nähern sollen, wirken wie fast alle Vergeblichkeiten aufs erste freilich komisch. Die Leute möchten vor Lachen rasend werden, wenn so ein kleiner Mandrill einen Spiegel in die Hand kriegt und sich über das Wunder nicht zu fassen weiß. Und das Amüsement kennt keine Schranken, wenn ein Affe all das nachzuahmen sucht, was ihm einer aus dem Publikum vorzeigt. Da wirkt der tiefe Ernst solcher Bemühungen und ihre Fruchtlosigkeit lächerlich. Aber wer einmal nur einen kranken Affen gesehen, wer diesen flehenden, kummervollen Menschenblick geschaut hat, diese dunklen, klugen Augen, die in Tränen schwimmen, diese vergrämten, greisenhaften und so verzweifelt kinderähnlichen Züge, der wird ein atavistisches Grauen bei ihnen nicht mehr los. In Wirklichkeit possierlich sind nur jene Tiere, die man ohne Befangenheit betrachten kann. Tiere, von denen uns weite Distanzen und Zwischenstufen trennen. Ein Drahtgitter aber ist noch keine ausreichende Scheidewand. Und es dient beim Affenhaus nur dazu, gelegentliche Verwechslungen und Irrtümer hintanzuhalten.

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