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Tanzen

⟨1912⟩

Er saß in der Halle, die wie das ganze Haus strahlend erleuchtet war. Wißt ihr, es ist das schöne weiße Haus im Grunewald, und es ist die Halle, in der die Treppe so leicht und fein ansteigt, daß man meint, den Aufschwung der Fröhlichkeit zu sehen, wenn man sie anschaut. Den Aufschwung einer zierlichen und doch etwas feierlichen Fröhlichkeit.

Na also.

Die Menschen, die das Haus bewohnen, gaben heute ihren Freunden ein Fest. Weil ich aber zu den Freunden dieses Hauses gehöre, weil ich gern ein bißchen reise und auch sonst ein wenig leichtsinnig bin, habe ich mir gedacht: Was kann das schlechte Leben nützen? und bin eigens zu diesem Fest nach Berlin gefahren. Da war ich nun in der strahlend erleuchteten Halle, war vom Tanzen ganz erhitzt, und es schien mir gerade der rechte Moment zu sein, um eine Zigarette zu rauchen. Und da war auch der alte Herr in der Halle, jener alte Herr, den ich nicht kannte. Das schadete natürlich nichts, denn er gefiel mir auch so. Er hatte einen dichten, schneeweißen Schopf, hatte ein gütiges Lächeln, das wie ein heller Schein sein hübsches Gesicht überbreitete, und er hatte solch junge, frohe Augen. Er saß da und rauchte eine Zigarette, so nett und anmutig behaglich, daß einem das Zigarettenrauchen sofort als die nobelste Sache der Welt erschien. Er schaute durch die breitgeöffnete Tür in den Tanzsaal hinein, wo sich viele Paare im Walzer drehten.

Plötzlich sagte er vergnügt: »Kinder, was leben wir doch in einer schönen Zeit!«

Er sagte es zu mir, wenn ihr wollt, denn es war gerade sonst niemand in seiner Nähe. Aber es war doch auch so, als ob er es weiter zu niemandem, sondern nur ganz für sich gesagt hätte.

Darauf sprach ich: »Wieso denn in einer schönen Zeit ,...? Getanzt haben die Leute doch immer schon!«

Aber er mußte das nicht als Antwort nehmen, wenn er nicht wollte, und wenn es ihm lieber war, Monologe zu halten. Ich sprach gleichfalls so, als hätte ich es nur für mich gesagt.

Er schwieg. Die Musik klang weiter. Aus dem Tanzsaal hörte man das Schleifen der Schritte, Lachen von Frauen und jungen Mädchen, und man sah lichte und farbige Kleider wie wehende Fahnen vorbeiflattern. Da fing, nach einer Weile erst, der alte Herr wieder zu reden an. Genau wie vorhin, ohne sich geradezu an mich zu wenden. Das war sehr bequem für mich. Denn wenn ich Lust dazu hatte, durfte ich zuhören, und wenn ich mir's anders überlegte, konnte ich meine Zigarette auslöschen und weggehen.

Ich hörte zu.

»Getanzt? Natürlich haben die Menschen immer schon getanzt,« sagte er, »aber wie haben sie getanzt? Die einen haben wienerisch getanzt und die anderen pariserisch, was freilich in guter Gesellschaft nicht gern gesehen wurde; und wieder andere haben berlinerisch getanzt, Gott sei's geklagt. Und kleinbürgerlich haben sie getanzt, oder vornehm, und in einer recht verlogenen Sittsamkeit haben sie getanzt wie gebändigte und dressierte Tiere, in denen die schöne Wildheit gebrochen wurde. Dann war es auch immer derselbe Walzer. Ein paar Nationaltänze gab es, aber wer kannte sie? Polnische Mazurka und ungarischer Csárdás. Man riß die Augen auf, wenn einer das imstande war. Außerdem glich das dann mehr einer Produktion als einem allgemeinen Vergnügen. Im Walzer aber lag so viel Enge. Lieber Gott, ja ,... gemütvoll war der Walzer, sentimentalisch-graziös, altväterisch-rührend, was man nur verlangt. Nur: eng, kleinbürgerlich, ohne Würze und -- wie soll ich sagen? -- ohne Horizont. Aber heute tanzen sie England und Amerika, heute tanzen sie Japan und Indien, und die wilde Verrücktheit der Urvölker mit dazu. Heute ist in so einem Tanz die ganze Welt, alle Fernen schwingen mit und klingen an, und alle Farben des Lebens glühen auf, und es ist Weite da und frische Luft und große Horizonte ,...«

»Na, na ,...,« meinte ich; aber ganz leise. Er hat es sicher nicht gehört.

»Überhaupt ,...,« sprach er weiter, »überhaupt ,... wenn ich zu Hause an meinem Fenster sitze, da fährt mir über den Viadukt die Eisenbahn dicht an der Nase vorbei. Wie das Donnerwetter Gottes kommt sie daher, bricht aus den Häusern gegenüber hervor, als hätte sie sie entzweigespalten. Da rollen in eisernem Klingen die Waggons über den Viadukt, verschwinden hinter meiner Zimmerwand, denn die ist ganz an den Bahnkörper gebaut, und es ist wie auf der Bühne. Auf durch die rechte Kulisse, durch die linke ab! An den Fenstern der Waggons aber stehen Menschen, ich sehe nur den Schein ihrer Gesichter. Diese Menschen kommen von weit her. Vom Balkan, von Rußland, von Asien, und sie eilen irgendwohin, an die Küste, nach England, nach Frankreich, nach Amerika vielleicht. Sie gleiten blitzschnell dahin, tragen ihre Geschäfte, ihre Schicksale, ihre Leidenschaften mit sich durch alle Lande, streuen ihre Fremdheit aus und den Duft ihrer Heimat und empfangen aus fremden Erden den Duft und Eindruck unbekannter Scholle. Wie viele solcher Gesichter hatte ich hingleiten sehen, als habe sie der Sturm, der durch das heutige Leben braust, an mir vorbeigerissen. Es ist eine Szene, die ihre Wirkung auf mich nie verfehlt. In früheren Zeiten, in meiner Jugend, da ist die Welt wie zugemauert gewesen. Kaum daß man übern Zaun gucken und seinen Nachbar wahrnehmen konnte. Wer gar hinauskroch, der leistete sich ein Wagnis und konnte nach ein paar Tagreisen schon den Entdecker spielen. Ich hab's so sachte mit erlebt, wie die Mauern umgebrochen und eingeschlagen wurden, wie der Ausblick allmählich freier, das Stück Himmel über uns langsam größer wurde und die Fernen näher zu uns herrückten. Früher war man in einer großen Stadt hübsch eingesponnen, es gab nur eine oder zwei schmale Türen ins weite Land; und man konnte das weite Land, konnte die Welt vergessen. Jetzt aber sitze ich in meinem Zimmer, an meinem Fenster wie am Rande einer großen Straße. Alle Türen der Welt stehen offen, ich hab' nicht mehr das Gefühlchen, bloß in einer einzelnen Stadt zu wohnen, ich höre die Meere rauschen und ferne Reiche klingen, und ich weiß immerzu, daß ich auf dieser sonderbaren, in vieler Beziehung reizvollen Erdkugel lebe, die uns nächstens einmal noch zu klein wird.«

Er machte eine Pause, und ich schwieg, weil ich mir dachte: Was hat dies alles mit dem Tanzen zu schaffen?

»Ist dieses Mädchen nicht charmant?« fuhr er fort. »So schlank und gelenkig und so unbefangen leidenschaftlich. Wo hat sie diese beredsamen Bewegungen her? Das ist wie Einfälle, wie plötzliche Gedanken ihres jungen Körpers. Sie hat die Ruth Saint-Denis gesehen und hat von ihr gelernt, welch eine graziöse Sprache schlanke Frauenarme haben können; sie hat die Zeichnungen von Rezni&#269;ek gesehen und hat in einer Geste all die Gebärden der Freude erkannt, die der Künstler gesammelt und in eine einzige Rückenbiegung konzentriert hat; sie hat den Tanz der Salome gesehen ,... was weiß ich, noch ,...! Was für ein vielfacher Klang ist in dem Tanz dieses Mädchens, was für ein Akkord von Farben, was für eine Buntheit von Charakteristik, und wie gibt sich dies alles mit dem besonderen Wesen dieses Mädchens. Man vermag zu sehen, daß sie nicht nachahmt, sondern daß sie von dieser ganzen vielstimmigen Gegenwart erzogen wurde ,...«

»Ach!« rief er aus, »jetzt tanzen sie Cake Walk. Ich muß lachen, wenn ich daran denke, wie mich der Cake Walk empört hat, als ich ihn zum erstenmal tanzen sah. Damals bin ich freilich noch konservativ und viel zu oft entrüstet gewesen und hab' vom modernen Treiben oft genug gesagt: Das geht zu weit. Aber dann hab' ich diesen Tanz begriffen, den die amerikanischen Nigger erfunden haben. Es ist ein Racheakt, dieser Tanz. Die armen, verachteten Nigger nehmen ihre Revanche an unserer weißen Gesellschaft und geben eine entsetzliche Karikatur unserer Höflichkeit, unserer Umgangsformen, unserer Galanterie und unserer Flirts. Wir können mit unserem Getue gar nicht grausamer verspottet werden als durch dieses Zappeln in gebrochenen, unrhythmischen Verrenkungen, in denen man uns zu verstehen gibt, daß wir Affen sind. Aber wir können auch nichts Gescheiteres tun, als daß wir selber Cake Walk tanzen. Das nimmt der Sache die Schärfe. Und dieser Tanz hält uns außerdem vom Pathetischen ab, jedenfalls befreit er uns von Sentimentalität, und der Sinnlichkeit nimmt er den Ernst. Außerdem hat er uns einen Blick gegeben für die Möglichkeit des Grotesken im Leben.«

Die Musik ging vom Cake Walk mit breiten, komischen Baßsprüngen zur Matchiche über.

»So muß es sein!« sagte der alte Herr glücklich; »eben noch die amerikanischen Niggerboys und gleich darauf die baskischen Bauern der Pyrenäen. Was für eine erotische Gewalt tobt in dieser Melodie! Welche Aufrichtigkeit in der Bewegung dieses Tanzes, und wie sehr hilft die Aufrichtigkeit gegen das Anstößige. Warum bin ich nicht mehr jung? Diese jungen Leute da, was die für geschmeidige Körper, was die für stählerne Anmut in den Gliedern haben, und was für einen frohen Mut, dieses Leben anzupacken, als sei es nichts. Diese jungen Männer ,... freilich, die saufen heute nicht mehr so und hocken nicht mehr in dumpfen Stuben. Das steht im Sommer auf den Tennisplätzen, steigt auf Gletscher, tanzt heute im Grunewald und saust übermorgen auf Skiern über die Schneefelder von Sankt Moritz. Das prescht mit dem Automobil im Hundert-Kilometer-Tempo über weite Landstraßen, steigt im Aeroplan zu den Wolken auf und hält die Wangen dem Sturm entgegen. Das hat die ganze Welt und alle ihre Möglichkeiten in sich ,... das muß natürlich anders tanzen, als wir früher einmal getanzt haben, in einer ärmeren und primitiveren Zeit. Schauen Sie diese blaue Dame an ,...« -- er wandte sich jetzt an mich -- »ist sie nicht zuversichtlich und fröhlich wie die Gegenwart ,...?«

Ja, das stimmte. Ich löschte meine Zigarette aus und ging in den Tanzsaal, zu der blauen Dame.

Der alte Herr nahm es mir nicht übel. Er redete weiter.

*


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