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Ball

Oft schon habe ich die Probe auf dieses alte, ein wenig feindselige Wort gemacht: Wenn man den Tanzenden zuschaut, ohne dabei die Musik zu hören, die sie beschwingt, dann glaubt man ein Gewühl von idiotisch umherhüpfenden Narren zu erblicken. Indem dieses Wort den melodischen Rhythmus, der das Tanzen einhüllt, wie einen Mantel abstreift, scheint es die Unvernunft solchen Gehabens in seiner ganzen Nacktheit zu entblößen. Oft habe ich die Probe darauf gemacht. Vor Wirtshausfenstern, die den Klang eines asthmatischen Hackbretts nicht durchließen, oder in Ballsälen, wo ich mir beide Ohren fest zuhielt. Aber es stimmt nicht. Man erblickt keine Narren und keine Idioten. Das alte Wort lügt, oder vielmehr es täuscht, es ist von einer falschen Klugheit. Denn alle Erscheinungen könnte man derart zu sinnlosem, blödem Geschehen wandeln, wäre die Gesetzmäßigkeit, die jeglichem Vorgang innewohnt, so einfach auszuschalten. Diese Gesetzmäßigkeit denkt unser Bewußtsein nicht einmal, es fühlt sie, man könnte sagen, unser Bewußtsein hört sie überall heraus, als die innere Musik, den Takt, den Rhythmus, den jedes Tun in sich birgt. So fühlt unser Bewußtsein beim Anblick von Tanzenden stets die Musik, auch wenn der Schall das leibliche Ohr nicht erreicht, diese Musik, die nicht im Orchester tönt, sondern in den Tanzenden selbst erschaffen wird. Nur mürrischer Spott kann es versuchen, durch Geräuschunterbrechung den rhythmischen Taumel der Fröhlichkeit in öde Narretei zu verkehren.

Tanzende Menschen sind wie Entrückte ,... sind in einem Zustand, der sie von innen her erhellt, daß alle ihre Wesenheit durchleuchtend und sichtbar wird. Der Tanz gibt den Menschen etwas von der unwillkürlichen, ungewollten Aufrichtigkeit der Ekstasen. Jede Gebärde wird zum Bekenntnis. Die tiefste Art eines Menschen enthüllt sich in den großen Momenten seiner Leidenschaft. Aber er hat da meistens nur einen Zeugen. Und dieser ist selten genug ein Beobachter. Der Tanz trägt einen Hauch jener Leidenschaft an sich, und er übt von ihren enthüllenden Gewalten einen Teil. Man sagt oft, man könne ein Mädchen auf einem Ball nicht kennenlernen, man vermöge es da nicht, sie zu beurteilen. Das ist falsch. Ganz falsch. Ein Mädchen, ein Mann -- im ruhigen, gewöhnlichen Leben hält jeder die Zügel seines Temperaments, seines Charakters fest in Händen -- kann sich zur zierlichsten, artigsten Gangart zwingen. Schau' einem Menschen tanzen zu, und du kennst ihn ganz und gar, kennst ihn so gründlich, als hättest du seine letzten Geständnisse empfangen. Und du empfängst sie auch. Denn ohne daß er es weiß noch will, gesteht er dir alles, wenn er tanzt, vermag dir nichts zu verhehlen. Nirgends scheidet sich Falsches vom Echten, Gutes vom Bösen, Begabung von Unfähigkeit, Unschuld von Laster so rasch, so leicht und so deutlich wie bei tanzenden Menschen. Da tritt einer in die Reihe mit einem verlogen-spöttischen Lächeln, blickt umher, als staune er selbst darüber, daß er, der Gescheite, der Besonnene, solch kindliche Dummheit mitmacht. Möchte von der Lust des Augenblicks profitieren und doch dabei der Lust wie dem Augenblick überlegen bleiben; möchte, daß sämtliche Anwesenden davon Notiz nehmen, wie er seinen »Standpunkt« wahrt. Du kennst den ganzen Kerl, kennst seine Unmöglichkeit, sich aufzuschwingen, seine lügenhafte, heuchlerische Lüsternheit. Er wird -- wenn er sein Mädchen aus den Armen gelassen -- sofort einen schnurrigen Witz machen und wieder der gescheite Mann sein. Oder jener andere, der mit so viel vergeblichem Eifer tanzt, stocksteif, bei jedem Schritt stolpernd, aussichtslos, aber fleißig. Er sieht nichts, hört nichts, spürt nichts, möchte nur tanzen. Daß er sich blamiert, empfindet er nicht, merkt nicht, daß er seine Dame martert, macht ein ernsthaftes, ehrliches, strebsames, sehnsüchtiges Gesicht, ist aber mit den Beinen von Herzen lustig. Vielleicht ist er ein gelehrter, vielleicht in seinem Berufe ein tüchtiger Mann, vielleicht auch von hoher Intelligenz. Sicher aber ist er ein naives, kindliches, ein gütiges Gemüt, einer, zu dem man Vertrauen haben kann. Oder jener andere, der ein Virtuos des Walzers ist, der die Gelenkigkeit seines Leibes beim Tanze genießt, die Kunst seiner Schritte, das Wiegen seiner Hüften, die Kraft seiner Muskeln, der sich selbst spielt, wie man ein kostbares Instrument spielt, der allein mit sich ist, wie fest er sein Mädchen auch umschlungen hält, der wie ein edles Rassetier vor Stolz in allen Gelenken federt ,... Oder jener andere, der mit seiner Dame nicht zu tanzen, der sie einfach zu besitzen scheint, sie in Zärtlichkeiten, in Liebkosungen hüllt, sie mit einer Wolke von Leidenschaft umgibt. Oder ein anderer, der wieder voll Ehrfurcht ist, völlig in Andacht aufgelöst, als tanze er mit dem Erzengel Gabriel, oder ein anderer, den die Lustigkeit zu allerlei Verrenkungen reißt, der sich selbst, seine Partnerin, alles zur Komödie, zum feschen Spaß macht, der immerfort haben möchte, es sollen sich alle über ihn amüsieren. Oder ein anderer, dessen Antlitz, dessen Armhaltung, dessen hohles Kreuz, dessen Fußspitzen nur einen einzigen Wunsch aussprechen: elegant sein. Alle sind sofort kenntlich, sind bis in die letzten Möglichkeiten ihrer Seele sogleich zu fassen.

Und die Frauen. Da ist eine, die des Lebens Natürlichkeiten schon erfahren hat, verheiratet, Mutter, nicht mehr allzu jung. Nihil humani ,... Aber trotzdem, sie errötet, wenn ein fremder Mann sie um die Mitte nimmt, ihr Mund bleibt ernst, ihre Augen sind zu Boden gesenkt, Schüchternheit und Scham lehnen sich in ihr auf. Sie tanzt, weil alle es tun, weil man sie tanzen gelehrt hat, weil sie nicht zu widersprechen, gegen offenbare Alltäglichkeiten sich nicht aufzulehnen vermag, aber begriffen hat sie's immer noch nicht, daß dergleichen unschuldig oder harmlos oder anständig sein soll, und wird's auch nie begreifen. Würde auch nie fassen, daß die Liebe ein Spiel sein, daß man mit Empfindungen bloß tändeln kann. Und sie hält Distanz zwischen sich und ihrem Tänzer, Distanz zwischen sich und -- seinen Gedanken. Die Fähigkeit zu großer Leidenschaft schlummert in dieser keuschen Frau. Sie weiß es vielleicht selbst nicht, aber ihre Ahnungen, ihre Instinkte beben davor. Oder jenes Mädchen, jene Siebzehnjährige, die sich an ihrer eigenen Wirkung berauscht, die sich an dem Reiz, den sie übt, entzündet, die den Mann, an dessen Schulter sie lehnt, im Tanze harangiert, sich ihm unbewußt darbietet, ihn aufstachelt, alle seine Sinne weckt, dann wieder, in des Nächsten Arm, diesem Nächsten sich entgegenbäumt mit der intuitiven Verbuhltheit der Jungfräulichen. Oder ein anderes Mädchen, das Walzer tanzt mit der Miene und den Gebärden einer Tugend, die sich vor Gewalttat schützt, mit dem Antlitz einer Mißtrauischen, die Unzüchtigkeiten abwehrt. Naiver und reinlicher ist wohl die vorige, die sich darbringt, ohne zu ahnen, was sie tut. Wieder ein anderes Mädchen, das im Arm ihres Tänzers ruht, wie von glühenden Werbungen überwältigt, besinnungslos, versunken in die Raserei dieser zärtlichen Bewegung, mit einer Hingebung, die dem höchsten Gewähren gleicht. Man muß sie am Herzen des Nächsten und wieder des Nächsten und des Vierten sehen, um zu erkennen, daß das nicht Liebe ist, oder doch eine unpersönliche Liebe, eine Liebe, die im Taumel des Tanzes, im Rausch der Musik hinstürmt, eine Phantasie unter der Bewußtseinsschwelle. Und das Wort »abreagieren« drängt sich einem auf. Erblickt man sie aber dann im Alltagsschritt, die schamhafte Frau, die jetzt ganz vernünftig, ganz praktisch und arglos ist, die Siebzehnjährige, die als ein herzhaftes, reines Kind vor uns hintritt, die Mißtrauische, die offen und liebenswürdig plaudert, die Hingebende, die kühl und unnahbar erscheint, dann wird man es erst gewahr, wie der Tanz ihr innerstes Wesen gelöst hat, wie er sie dem Zwang und der eingewohnten Beherrschtheit entrückte, wie keine von ihnen sich selbst zu erkennen vermöchte, und wie sie doch allzusammen im Tanz erst sich offenbarten.

Es kommt auch sonst noch vieles in den festlichen Sälen unseres Karnevals verräterisch zum Vorschein. Wie sich die Leute putzen, besonders aber wie und als was sie sich verkleiden, zeigt ihre geheimste Sehnsucht, zeigt ihr Lebensideal, ihre Wünsche, Temperament und Charakter. Die meisten Feen, Prinzessinnen und Kaiserinnen trifft man auf jenen Bällen, wo kleine Näherinnen und arme Dienstmädchen ihren bescheidenen Freudenanteil genießen. Die Königin der Nacht mit dem goldenen Halbmond im Haar, den wallenden, dunklen Schleiern, dem schwarzen, sternenbesäten Kleid trifft man am häufigsten. Sie muß als besonders vornehm, als hervorragend märchenhaft und erhaben gelten. Altdeutsche Ritterfräulein trifft man da, Kostüme, deren Sentimentalität an die Küchenballaden: »Weint mit mir« oder an den »Ritter Ewald« gemahnt. Makart-Damen mit Federhüten, die uns lehren, in welchen Schichten heute das Makart-Bukett als Maximum der Daseinspracht gilt. Nur Gefühllosigkeit wird diese rührenden Akzente des Schönheitstriebes belächeln. Die Naivität ist übrigens höher oben, bei eleganteren Bällen, um nichts geringer. Damen, deren verwühlte, dunkle Odaliskenzüge in orientalische Gewänder passen würden, gehen in Puderperücke mit Schönheitspflästerchen als Watteau-Schäferinnen, Mädchen von hausbackener Stumpfnasigkeit und sanftem Blondhaar laufen als dämonische Zigeunerinnen umher, Frauen von einer wahrhaften Maria-Theresien-Statur schreiten in all ihrer Gesetztheit, mit dem Harnisch der zarten Jungfrau von Orleans gepanzert, umher. Männer mit wildüppigem Vollbart tragen das Rokoko-Hofkleid und Galanteriedegen; schmalbrüstige, kleine, beängstigend ungesund aussehende Herren haben sich als Wotan oder als Cheruskerhäuptlinge verkleidet. Kurzsichtige, die den Zwicker nicht entbehren können, schmücken sich als Lohengrin mit dem Schwanenhelm. Überall das fatale, unfreiwillig komische Mißverständnis mit sich selbst, durch nichts zu entwirren, durch gar nichts aufzuklären. Und in dieser Komödie des Lebens scheint keiner mit seiner Rolle zufrieden, also daß jeglicher, wenn's Karneval ist und er Komödie spielen darf, seine eigenen Wirklichkeiten, sein verborgenstes Ich hervorholt, sich zu maskieren glaubt und sich in Wahrheit doch ahnungslos und offenherzig enthüllt.

Oft schon habe ich von den gescheitesten Leuten gehört, daß diese ganze Faschingslustigkeit doch eigentlich ein Blödsinn sei und nicht die geringste Ursache habe. Eine Torheit ohne Zweck, ohne Motive, ohne Halt. Aber auch das stimmt nicht. Diese festliche Karnevalszeit, in der die bürgerlichen Menschen Künstler sein und sich selbst komponieren, sich selbst erschaffen und dichten dürfen, so wie sie sich in ihren Träumen sehen, so wie sie sich sehnen, immerdar zu sein -- nimmt man sie so, dann erfaßt man ihren Sinn leicht. Und auch diese Fröhlichkeit, diese grundlose, unvernünftige Fröhlichkeit hat ihre guten Gründe. Denn jedermann, der für eine kurze Weile aufhören darf, er selbst zu sein, freut sich unbändig darüber und tut recht daran. Mögen die gescheiten Leute immerhin von Blödsinn reden. Es stimmt nicht. Überhaupt, es ist unglaublich, wie vieles nicht stimmt, was die gescheiten Leute sagen.

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