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Perri kam auf der Flucht durch die Wipfel weit fort vom Schauplatz ihres Abenteuers. Langsam beschwichtigte sich ihr Entsetzen; ihr kleines Herz schlug wieder gelind.

Ihr Drang, zu erzählen, überstandene Gefahren zu berichten, erwachte sogleich, als sie Faline sah, die mit Nello und Membo Blätter von den Sträuchern zupfte.

Das Eichhörnchen überpurzelte sich fast im Niederklettern. »Bambi hat mich gerettet!«

»So?« antwortete Faline, »hat er wieder einmal eine Rettung vollbracht?«

»Wa...warst ... du...du ... denn ... i...i...in ...«

»In Gefahr?« ergänzte Nello.

»Und ob!« Perri schilderte den Hergang; sie prunkte geradezu damit. »Bambi«, schloß sie, »hab ich eigentlich nicht gesehen! Nur die Stimme ...«

»Kein anderer ist das gewesen!« entschied Faline.

»Kein anderer!« begeisterte sich Perri, »das vermag nur er allein!«

»Auch Geno wird dazu imstande sein«, Faline fühlte Mutterstolz, »auch Geno wird das können, wenn er einmal erwachsen und von seinem Vater unterrichtet ist!«

Derweil wanderten Geno und Gurri miteinander stille Pfade.

Ihnen gesellte sich alsbald Ate, der seine Aufmerksamkeit hauptsächlich Gurri zuwendete.

Die beiden scherzten, plauderten, waren vergnügt.

»Achtung!« flüsterte Geno. Er ging neben ihnen, wachsam wie stets. »Achtung! Es kommt jemand!«

Gurri und Ate verhielten ihre Schritte.

Leises Knistern, Rascheln, näher, immer näher.

Der Einäugige huschte an ihnen vorüber, quer durch das Gesträuch.

»Ach so!« sagte Ate wegwerfend, »der Fuchs! Na, den haben wir kaum zu fürchten!«

»Ich bin beständig vor solchen Räubern auf meiner Hut«, Gurri wurde erregt.

»Nein!« beruhigte sie Ate, »das brauchst du nicht; als der Fuchs dich anfiel, warst du noch ein kleines Kind ...«

Sie horchten alle drei, wie der Fuchs sich eilig entfernte.

»Er ist eigentlich nur ein Gehetzter«, redete Geno, »man würde Mitleid mit ihm fühlen, wüßte man, daß er selbst so etwas jemals empfindet ...«

»Mir sind alle Gehetzten erbarmungswürdig, ohne Ausnahme ...«, Gurri war nun wieder ruhiger, »je weniger sie empfinden, desto mehr muß ich sie bedauern ...«

»Der da scheint keine Spur von Gefühl zu haben«, sprach Geno, »ich bin dabei gewesen, wie der Reiher ihm ein Auge ausstach. Immer seh ich das vor mir. Ein wilder, verwegener Bursche. Aber vielleicht hast du recht, Schwester, mögen sie auch kein Mitleid verdienen, diese Mörder, sie bezahlen ihre Blutgier teuer.«

Der Frühsommer stieg zum heißen Sommer an. Waldmeister blühte in kleinen weißen Sternen, verströmte bittersüßen Duft.

Rittersporn, Hirtentäschel, Akelei, Glockenblumen prangten, bimmelten, nickten in vielen festlichen Farben.

Am Holunderbusch rundeten sich auf breiten Tellern die Beeren, noch grün, zeigten sie schon die schwärzlichen Streifen beginnender Reife.

Vom Jubelsang aller Vögel widerhallte der ganze Wald, und in dichten Schwärmen tanzten die Mücken.

Des Nachts erschien Bambi.

»Nun müßt ihr euch gut in acht nehmen«, sagte er. »Die Feuerhand wird heute oder morgen umgehen! Vor dem Amsellied des Morgens sollt ihr heimkehren und abends erst wieder hinaustreten, wenn die Amsel verstummt. Wie auch die andern sich benehmen, haltet euch an diese Regel, so wird euch nichts geschehen!«

In das Schweigen, das nun folgte, fragte Faline ein wenig zaghaft: »Nicht wahr, du bist es gewesen, der unlängst Perri errettete?«

Es kam keine Antwort.

Bambi war nicht mehr zugegen.

Weder Faline noch die Kinder staunten darüber.

Keinem unter ihnen kostete es Mühe, den Vorschriften Bambis zu gehorchen. Sie erinnerten sich alle, Aehnliches vom Vater früher schon vernommen zu haben.

Bloß Nello und Membo hörten das zum erstenmal; Andacht erfüllte sie.

Als etwas Selbstverständliches hatte Geno die Leitung des Rudels ergriffen.

Sogar Faline fügte sich ihm ganz ohne Widerrede.

Man kehrte des Morgens auf Genos Wink zur Schlafstätte heim; man wartete des Abends, bis Geno das Zeichen gab, hinauszugehen.

Richtig knallte nach zwei Tagen der erste Schuß. Ziemlich früh, in der fahlgrauen Dämmerung.

Eine Weile später wirbelte Perri herbei.

»Ein stattlicher Prinz«, meldete sie, »ihn hat die Feuerhand umgeworfen! Ich kenne ihn nicht! Wahrscheinlich konnte man ihn in dem Zustand, in dem er war, nicht erkennen!«

»Was für einen Zustand meinst du?« erkundigte sich Gurri. »Ist er tot?«

»Oh, schrecklich!« Perri schwelgte in der Schilderung. »Wie soll er denn leben, der Unglückliche? Sein Leib ist aufgerissen! Die Eingeweide hat Er herausgeholt! Seine Augen sind gebrochen ... sein Lecker hängt ihm weit zum Aeser heraus ... ich konnte den Anblick nicht mehr ertragen!«

Alle schauderten.

Viel später, es war schon sehr hell, kam Ate zu Besuch.

»Zum Gruß!« rief er heiter, »ich will nur schauen, ob ihr wohl seid ...«

»Jetzt um diese Zeit gehst du über Wiesen und Blößen?« Gurri war erschrocken.

»Warum nicht?« lächelte er, »die Feuerhand ist weit weg gewesen ...«

»Du kannst nie wissen, wo Er lauert!« warnte Gurri.

»Das darfst du nicht, Ate«, Geno sprach sehr ernst.

Doch Ate entgegnete fröhlich: »Du magst deine Lehren sparen, Kleiner ...«

Es geschah zum erstenmal, daß Ate sich darauf berief, der Aeltere zu sein.

Geno blieb ernst: »Das sind nicht meine Lehren, sondern die meines Vaters. Du solltest darauf achten!«

»Jede Ehrfurcht vor deinem Vater«, Ate behielt seine heitere Laune, »entschuldige ... ich habe die Ueberzeugung, Er schont mich! Ich bin Ihm noch zu jung!«

»Trotzdem, Ate, versprich mir ...«, forderte Geno.

Ate jedoch ließ ihn nicht ausreden. »Gar nichts verspreche ich! Gar nichts! Es ist zu schön, in der Morgensonne umherzuschlendern! Herrlich ist das! Versprich du mir, Geno, mit mir zu kommen ... nicht heute, nächstens einmal!«

»Weder heute noch sonst einmal!« Geno schüttelte das jugendliche Haupt, »ich kenne den Zauber der Morgensonne, aber jetzt müssen wir darauf verzichten ...«

»Auch das ist zauberhaft«, fügte Gurri hinzu, »hier in Sicherheit zu liegen und zu sehen, wie die Morgensonne durch das Laub dringt, wie sie da am Boden goldene Gitter webt ...«

Lachend erwiderte Ate: »Schlaft wohl miteinander!«

Munter und zierlich schritt er hinaus ins Freie.

Besorgt blickte ihm Geno nach; wohlgefällig Gurri. Denn wie Tau unter der Sonne verflüchtigten sich ihre Sorgen vor dem lustigen Wesen Ates.

Faline, Nello und Membo schlummerten friedlich; auch Geno und Gurri wollten nun schlafen.

Da knallte unweit ein zweiter Schuß; laut, mit einem leise pfeifenden Ton.

Das Sausen der Kugel.

Ate hatte seiner Jugend vertraut; er entging dem Schicksal für dieses Mal, weil er sich in Deckung befand, als der Schuß fiel, der einem anderen galt.

Dennoch sollte dieses Vertrauen Ate übel bekommen.

Er wußte nämlich nichts von dem jugendlichen Menschen, der draußen lauerte und die Büchse auf alles losbrannte, was ihm als ein Bock erschien; gleichviel, ob das ein schußbarer Bock oder ein geringes Kitzböckchen war.

Diesmal hieß das Kitzböckchen Boso.

Ihn streifte die Kugel vorn an der Brust.

Ueberrascht und vom Stoß des vorbeifliegenden Projektils erschüttert, taumelte Boso so heftig, daß er mit der Nase ins Gras fiel.

Er raffte sich auf, galoppierte in die Büsche, merkte, wie ihm Blut die Brust hinunterrann. Sinnlos geworden vor Schreck, bestürzt, weil er das heiße Schmerzen der Wunde zu spüren begann, lief er ohne Ziel und ohne Plan umher.

An den Blättern der Sträucher und am Boden zeichneten rote Tropfen seinen Weg.

Wie er auch rannte, er blieb doch am Saum der Blöße, wo ihn der Schuß beinahe getötet hätte, und er gelangte nicht weiter.

Schon wollte er der Schwäche nachgeben, die seine Nerven überwältigte, wollte sich niedertun und war im Begriffe, einen Platz für sein Wundbett zu suchen, da fand er sich Bambi gegenüber.

»Nicht hinlegen, Boso!« redete der ihn an, »du bist verloren, wenn du jetzt schlapp wirst! Das hast du gar nicht nötig. Komm mit mir, armes Kind, komm nur!«

Blindlings schlurfte Boso hinter Bambi drein.

Das sanfte Zureden bot ihm Trost, und der Trost, an den er glaubte, erfrischte sein gesunkenes Hoffen.

Sorgsam schritt Bambi die Blutspur zurück.

»So hat mich einst der alte Fürst geführt«, dachte er, musterte im Gehen die Kräuter am Boden, zeigte auf eines und befahl: »Iß davon!«

Boso spie jedoch den Bissen sogleich aus. »Pfui! Das riecht schlecht, das schmeckt gräßlich. Wozu denn?«

»Iß!« ward ihm geboten, »iß! Dann hört die Blutung auf!«

Während Boso das Kräutlein mühsam schluckte, musterte Bambi mit Kennerblick die Rißwunde.

»Das ist wirklich nur eine Schramme ...«, urteilte er. »Eine Schande, nach solch einem Kind die Feuerhand zu schleudern«, dachte er dann, »der kleine Boso hat ja kaum den Ansatz einer Krone.«

Er sprach das nicht aus, um Boso nicht zu kränken.

»Weiter! Weiter!« drängte er.

Stöhnend bekannte Boso: »Müde bin ich ... furchtbar müde ... darf ich ... nur ein bißchen ...?«

»Nein!« klang die strenge Antwort.

Nach einer kurzen Weile seufzte Boso: »Schmerzen habe ich ...«

»Die dauern nicht mehr lange ...« Bambi sprach wieder sanft: »Du hast sie, ob du nun gehst oder dich hinlegst ...«

Zum drittenmal flehte Boso: »Ich möchte schlafen ... ich kann nicht mehr ...«

»Warte nur noch ein bißchen! Denke jetzt an dein Leben, Kind! Deine Wunde ist nicht gefährlich! Ganz und gar nicht! Nur Er darf dich nicht finden! Verstehst du mich? Denke an dein junges Leben!«

Der gütige Zuspruch richtete Boso auf.

Bambi ließ ihn vor sich hergehen. Als er sah, daß kein Tropfen Blut mehr den Weg verriet, erkundigte er sich: »Wie ist es? Tut's noch sehr weh?«

Etwas frischer erwiderte Boso: »Sehr wenig ... fast gar nicht ...«

Endlich blieb Bambi stehen: »So, mein Lieber ..., jetzt, so schnell du kannst, heim zur Mutter! Hörst du? Daß du dich nicht unterwegs hinstreckst und schläfst! Sonst war alles vergebens! Bist du bei deiner Mutter, darfst du ausruhen, solange du willst! Ich passe übrigens auf, ob du meinen Rat befolgst!«

Er entschwand, ehe Boso noch Zeit hatte, einmal zu atmen.

Etliche Tage danach wurde Ate von seinem Verhängnis ereilt.

Wieder funkelte und lockte der sonnige Morgen.

Die Amsel hatte ihr Lied beendigt; doch der Pirol jauchzte, die Finken schlugen, der Specht trommelte und der Kuckuck rief.

Ate erging sich auf der zweiten Runde, freute sich der Aesung, die, vom Tau erfrischt, doch nicht mehr naß schmeckte.

Lebensgefühl durchbrauste ihn berauschend; er beachtete das warnende Schäkern der Elster nicht, überhörte das schrille Kreischen des Hähers.

Ihm schien auch, Perri spräche zu jemand anderem, als sie schrie: »Gefahr! Gefahr!«

Er dachte: »Pah! Gefahr! Die droht ja keinesfalls mir!«

Da nichts half, nannte ihn Perri bei seinem Namen: »Ate! Ate! Gefahr!«

Er hob das Haupt und lachte: »Was fällt dir ein, Perri?« wollte er antworten.

In diesem Augenblick knallte der Schuß.

Ate wankte, vermochte kein Wort herauszubringen.

Mit einem Blutstrom füllte die zerfetzte Lunge seine Kehle und seinen Mund.

Blut entströmte zu beiden Seiten dem durchschossenen Leib.

Schon mit schwindender Besinnung raste er die paar Sätze in die Dickung.

Dann brach er zusammen, zuckte und streckte sich.

Bambi, der schon hilfsbereit bei ihm stand, hörte noch Ates letztes Wort, flüsternd undeutlich: »... Gurri ...!«

»Aus!« sprach Bambi und kehrte sich betrübt weg.

Der junge Mann lief herbei; er fieberte vor Erregung, konnte Ate nicht finden, erwartete ungeduldig zappelnd den Jäger.

Als der kam, teilte seine kundige Hand das blutbespritzte Gezweig und sagte: »Hier liegt er! Gerade vor deiner Nase!«

Er bückte sich, griff nach dem Gehörn des Erlegten.

»Ein Gabler! Schad! Schad! Der Schuß ist gut; der Bock ist schlecht!«

»Ein Anfang ...«, stammelte der Jüngling.

»Ach was, Anfang ...«, wurde er zurechtgewiesen, »... dein Anfang hätte besser sein müssen! Du darfst nicht auf alles hinbrennen, was irgendein bißchen aufhat! Ich hab dir's eingeschärft: erst wenn du einen Sechserbock vor dir hast, erst dann ... sonst nicht!«

Während er sein Messer zog, den Bock auszuweiden, murmelte er: »Patzer, elender ...«

Mit scheinbarer Reue ließ der Jüngling die Vorwürfe des Jägers über sich ergehen; innerlich empfand er lebhafte Genugtuung über das gute Treffen seiner Kugel, hielt sich für einen vollendeten Schützen und das schwache Gabelgehörn des armen Ate für eine sehenswerte Trophäe.

Perri war, als ihr Warnen vergeblich blieb, Zeugin, wie Ate starb.

Sie entsprang in oberflächlichem Verzweifeln, hatte nicht das Herz, die Trauerbotschaft Geno und Gurri mitzuteilen, konnte jedoch dem Drang, diese Nachricht zu verbreiten, schwer widerstehen.

So irrte sie ruhelos auf der Esche über den Schlafenden umher, kletterte hoch empor und turnte wieder tief herab, um neuerdings den Wipfel zu erklimmen.

Getrieben von ihrem Bedürfnis, zu erzählen, gehindert von dem Empfinden, schonen zu müssen, wiederholte sie oft dieses Auf- und Niederwirbeln. Ihre Unruhe verursachte einigen Lärm, durch hastig bewegte Zweige, durch knisternde Blätter.

»Bist du dort oben, Perri?« rief Geno sie an.

Eifrig stürmte Perri hinunter. »Ja ... ich bin's!«

»Ist Ate gesund?« fragte Gurri mit angstgeschnürter Stimme.

»Woher weißt du es überhaupt?« Perri wunderte sich.

»Von der Elster ...«, antwortete Geno.

Und Gurri fügte hinzu: »Sie hat nur gesehen, wie Er die Feuerhand warf, und wie Ate ins Dickicht sprang ...«

»Da wurde die Elster vor dem ärgsten Anblick bewahrt ...«, erwiderte Perri, die nun jede Zurückhaltung bleiben ließ.

»Ate ist tot!« schrie Gurri.

Zeichnung: Hans Bertle

Perri erzählte alles.

Sie sagte zuletzt: »Es war gleich zu Ende mit ihm, wie er ins Dickicht gelangte. Er legte sich hin und starb.«

Gurri weinte leise. »Armer! Guter! So heiter ... so jung ... Armer! Guter ... unglücklicher Freund ...«

Auch Geno bekam nasse Augen. »Ate, lieber Ate! Er hat nicht hören wollen! Er hat nicht ans Sterben geglaubt ...! Sorglos ist er der Gefahr entgegengegangen!«

»Ich hab ihn laut gerufen«, beteuerte Perri, beide Vorderpfötchen trübselig an den weißen Brustflaum gepreßt, »laut gerufen hab ich ihn! Zu spät!«

Geno stand mit gesenktem Haupt: »Nicht einmal die Lehren des Vaters haben Ate dazu gebracht, vorsichtiger zu sein ... wie hab ich ihn doch gewarnt!«

»Euer Vater ist bei ihm gewesen«, berichtete Perri.

Faline brach ihr Schweigen. »Bambi ...?«

Nello und Membo, die ergriffen keine Silbe geäußert hatten, lauschten jetzt gespannt.

»Sicherlich! Ich kenne doch Bambi! Welcher andere würde nach dem Donner der Feuerhand sich trauen und zu dem am Boden Liegenden hintreten. Er hat Ate helfen wollen, wie er Boso geholfen hat ...«

»Boso?« unterbrach sie Geno, »ist es wirklich Boso gewesen?«

Perri beendete ihre Mitteilung: »Aber bei Ate gab es keine Hilfe mehr ...« Dann erwiderte sie Geno: »Daß es Boso gewesen ist, weiß ich sehr genau! Freilich habe ich Boso nicht selbst gesehen. Nur von Verwandten hörte ich davon. Die kennen Boso so gut wie man eben jemanden kennt, den man nicht liebt. Ich habe ganz vergessen, darüber zu sprechen, erst jetzt fällt es mir ein ...«

»Immer«, meinte Faline, »immer wird derjenige gerettet, der es gar nicht verdient ...«

»Mag Boso es verdienen oder nicht«, sagte Geno, »ich bin froh, daß er lebt.«

Gurri erklärte: »Ich wünsche allen Rettung, allen! Ohne Ausnahme!«

Ate wurde herzlich und schmerzlich betrauert.

Redeten Geno und Gurri von ihm, was sie die erste Zeit immer taten, nannte ihn Gurri »unser verlorener Freund!«

Bei Geno hieß er »mein unvergeßlicher Kamerad!«

Tage, Nächte gingen dahin.

Regen strömte hernieder.

In kurzen Gewittern unter Blitz und Donner wurde die sommerliche Hitze abgekühlt.

Faline blieb mit den Kindern beisammen.

Hatte sie der Regen auch noch so sehr durchnäßt, sie traten nie hinaus, um in der Sonne trocken zu werden.

Sie scheuten die Feuerhand, die man oft und oft hörte, besonders wenn nach Gewitterregen die Sonne wieder mit ihren Strahlen verführerisch wirkte.

Eines Morgens kam Rolla zur Schlafstätte der Familie angehinkt; stürmisch trat sie ein.

Sehr schüchtern folgte ihr Lana.

Und Boso, als letzter, zeigte sich zwar, doch zögerte er, unschlüssig, sich zu nähern.

»Faline!« begann Rolla lebhaft, »Faline ... ich muß dir danken ... dir ... eigentlich Bambi ... aber den krieg ich nie zu Gesicht ...!«

»Zum Gruß, Rolla ...« Faline hatte sich erhoben, die Kinder standen schon.

Sprudelnd, nicht zu hemmen, fuhr Rolla fort: »Längst hätte ich mich bei dir bedanken müssen ... längst hätte ich dich gebeten, deinem Gatten unseren Dank zu bestellen ... Ich fürchtete, schlecht empfangen zu werden ... Bist du mir noch böse? Sag mir doch nur ein gutes Wort ...«

»Meine alte Rolla«, konnte Faline nur sanft flüstern, mehr nicht.

»Du denkst jetzt nicht mehr, daß ich an Genos Verfolgung Schuld trage?«

Faline schüttelte ihr Haupt. »Nein.«

»Wie bist du nur darauf gekommen? Wie konntest du glauben, ich wäre einer solchen Niederträchtigkeit fähig?«

»Reden wir nicht mehr davon«, Faline erzwang sich Gehör, »die Angst um Geno hat mich wirr gemacht ...«

»Bitter Unrecht ist mir von dir geschehen, Faline, schmerzendes Unrecht ...«

»Dann war der Zwist unserer Söhne, aber Rolla, wir wollen alles vergessen!«

»Unsere Söhne! Das muß auch geschlichtet werden! Dein Geno ist immer freundlich zu Boso gewesen! Selbst nach dem Kampf! Ich weiß das von Lana! Und ich wäre schon früher ... ich hätte dich schon früher aufgesucht ... doch Boso wollte und wollte nicht! Oh, keineswegs aus Trotz! Er ist nicht mehr trotzig, seit Er ihn verwundet und Bambi ihn gerettet hat! Boso schämt sich so sehr, daß er dir nicht vor die Augen ...« Sie wendete sich zu Boso, der noch immer arg verlegen beiseite stand: »Komm doch her! Sofort komm her!«

Als aber Geno dem Zaghaften entgegenging und ihn begrüßte, löste sich die gespannte Stimmung augenblicklich in Wohlgefallen.

»Wir freuen uns, Boso, dich wieder bei uns zu sehen!«

Boso nickte ihm kurz zu, sprang an ihm vorbei und stellte sich neben der Mutter vor Faline. »Tante!« stammelte er mit geschnürter Kehle, »Tante, kannst du mir verzeihen ...?«

Faline fuhr ihm kosend über den Rücken: »Ich hab dir schon verziehen ...«

»Dumm und dreist hab ich von unserem Fürsten geschwatzt ...«, Boso redete mühsam, ».. von dem, der mein Retter wurde! Mein Retter ...!«

»Ach, das ist vergessen«, lächelte Faline, »geh' zu den Kindern ...«

Lana war schon von Gurri herzlich empfangen und mit Nello und Membo bekannt gemacht worden; Geno führte Boso heran, der nicht ganz unbefangen in den Kreis trat. Haltung und Blick zeigten, wie dringend er nach Ermunterung schmachtete.

Sie nahmen ihn alle wie einen guten Freund auf; besonders Geno erwies ihm Herzlichkeit, und Boso wurde bald in seinem Wesen so frei, daß er zu Nello und Membo sagte: »Wir kennen uns ja schon länger.«

»Wir sind uns nur flüchtig bekannt«, erwiderte Nello.

Membo stotterte: »I...i...ich ... er...erinnere ... mi...mich ... k...k...kaum ...«

Alle warteten geduldig, bis Membo fertig war, dann sprach Nello: »Jetzt erst werden wir uns richtig kennenlernen ...«

»U...u... und ... Freunde ... sei...sein ...«, stieß Membo gewaltsam hervor.

Boso fühlte sich erleichtert.

»Wo bist du verwundet worden?« wollte Gurri wissen.

»Da!« Boso wies ihnen mit dem Kinn seine Brust.

»Das ist schlimm gewesen ...«, anerkannte Geno.

»Es war nicht arg ...« Boso wehrte bescheiden ab.

»Du hast doch eine breite Narbe ...«, stellte Geno fest.

Boso fuhr fort, bescheiden zu sein: »Tja ... die Wunde ist rasch zugeheilt.«

»A...a...aber ... weh...weh ...«

Nello erläuterte den Bruder: »Weh muß das schon getan haben ...«

»Ein bißchen ...«, gab Boso zu.

»Da hättest du doch allein weglaufen können!« rief Gurri.

»O nein«, widersprach Boso, »mit dem Weglaufen allein war nichts getan ... ohne die Hilfe eures Vaters hätte ich sterben müssen ...«

»Herrlich, daß du lebst!« sprach Geno.

»Allerdings!« Boso fand zum erstenmal ein Lächeln, »allerdings ... das ist weit angenehmer ...«

»Leben«, erklärte Gurri, ein wenig ernst und zugleich munter, »leben bleibt immer das Schönste!« Doch sie hatte das schon oft gesagt; die anderen fühlten sich von der einfachen Wahrheit dieses Spruches durchaus überzeugt; deshalb übte er geringen Eindruck, und sie schenkten ihm kaum Beachtung.

Ein Ereignis brachte nie dagewesene Aufregung, unerhört triumphierende Zuversicht.

Von dem kleinsten Zaunschlüpfer bis zu den Krähen, von der winzigsten Maus bis zum Fuchs schwelgten alle Bewohner des Waldes in Gesprächen, die das einzigartige Geschehen ausschmückten und rühmten.

Nur die Hirsche nahmen keinen Teil an diesen Gesprächen.

Man wurde nicht klar darüber, ob ihnen diese Wundertat gar nicht zu Ohren gekommen, ob sie in ihrer königlichen Würde es verschmähten, sich zu äußern, oder ob sie das Ganze überhaupt wenig schätzten, weil eine Sage wissen wollte, Aehnliches hätte vor Zeiten einmal ein Hirsch gewagt.

Diese drei Möglichkeiten boten wieder zu vielfachen Erörterungen Anlaß.

Vor Tau und Tag spielte die große Begebenheit.

Innerhalb einer kurzen Minute.

Auf der Wiese.

Seit ihrer Versöhnung spazierten Faline und Rolla täglich wie einst zur Wiese hinaus, trafen einander dort, und die sechs Kinder umtanzten, umscherzten sie.

Vier junge Böcke, zwei junge Geißen, dazu die beiden Mütter, ein stattliches Rudel.

»Ich bin so glücklich, Faline, daß wir einig beisammen sind«, sagte Rolla nach den ersten gemeinsamen Wiesenstunden zum Abschied.

»Soll das Gewesene vergessen sein«, erwiderte Faline, »darf man nicht mehr davon sprechen.«

Rolla hegte eine andere Meinung: »Doch, meine Liebe, es tut wohl, sich immer wieder zu erinnern, was für Torheiten man überwunden hat ...«

Auch Gurri lehnte die gefühlvollen Reden, an denen sich Lana nie genug tun konnte, wiederholt durch Scherze ab. »Sei doch lustig! Wir haben wirklich Ursache, fröhlich zu sein!«

Worauf Lana: »Ich kann mich vor lauter Freude nicht freuen!«

»Komisches Ding!« warf Gurri hin.

»Du hast es leicht, du bist immer zur Wiese gegangen«, wendete Lana ein, »aber ich! Wie mußte ich die geliebte Wiese entbehren! Die Wiese, dich, Geno und Tante Faline! Ihr habt euch rasch getröstet.«

»Meinst du Nello und Membo?«

»Ich bin eifersüchtig gewesen, Gurri ...«

»Sind sie vielleicht nicht nett?«

»Reizend sind sie! Nur daß sie euch Ersatz bieten durften ...«

»Was hätten wir anfangen sollen? Ihr wolltet doch keine Versöhnung ...«

»Es tut weh, ersetzt zu werden, Gurri, sehr weh!«

»Jetzt hör' auf, Lana! Du langweilst mich ja!«

Lana erschrak und mühte sich, Munterkeit zu zeigen.

»Weißt du«, gestand Boso dem Geno, »weißt du, ich wünsche mit meiner ganzen Kraft, deinen Vater zu sehen, und dennoch fürchte ich diesen Augenblick.«

»Das verstehe ich!« stimmte Nello bei.

»Ni...ni... nicht ... ga...ga...ganz ...«, meinte Membo.

»Warum verstehst du mich nicht ganz?« fragte Boso.

Geno ließ niemanden zu Wort kommen: »Daß du den Vater sehen willst, begreife ich. Du möchtest ihm danken, nicht wahr?«

»Ach, ja ...!« seufzte Boso.

»Hab keine Angst vor meinem Vater! Er ist der Gütigste ...«

»Und der Gewaltigste, der große Fürst«, fiel Nello ein.

»Das ist es!« rief Boso, »ich brächte keinen Ton vor ihm heraus! Deshalb bin ich bange, ihm gegenüberzutreten ...«

Geno beschwichtigte ihn: »Du wirst schnell zu ihm Vertrauen fassen.«

Jetzt meldete sich Membo, und keiner unterbrach ihn: »I...i...ich ... e...e...empfinde so...so... solches Ver...Vertrauen ... i...i...ich sch...sch...schäme mi...mi...mich ... mein...meiner sch...schweren Zu...Zunge ... vor ... i...i...ihm ... we...we...weniger ... wie...wie ... vo...vor ... eu...euch!«

Nello, der weitere Redseligkeit seines Bruders abschneiden wollte, entschloß sich geschwind, zu erklären: »Du weißt also, Boso, warum mein Bruder dich nicht ganz verstanden hat ...«

Ein anderes Mal fing Rolla von Nello und Membo an: »Was für ein Glück die beiden haben, bei euch zu sein ...«

»Vielleicht«, gab Faline zu, »sie sind auch uns ein Glück.«

»Ist das nicht zuviel gesagt, Faline?«

»Gewiß nicht! Sie sind so brav, so anhänglich ...«

»Membo stottert leider ...«, stellte Rolla fest.

»Leider? Uns stört das nicht! Wir mögen ihn desto lieber!« Faline machte damit jeder Kritik ein Ende.

Die zwei Familien hatten die Gewohnheit angenommen, die Geno ihnen diktierte.

Bis zum ersten flimmernd fahlen Frühdämmerschein tummelten sie sich in der Wiese. Sowie das Dunkel der Nacht blasser wurde, zogen sie heim.

Oft vernahmen sie noch im Einschlummern den Knall eines Schusses. Sie jedoch weilten geborgen in Sicherheit.

Zuweilen erstattete ihnen Perri Bericht über das Vorgefallene, zuweilen meldete es ihnen auch die Elster.

Manchmal seufzte Geno, wenn sie sich zum Schlafen niedertaten: »Wäre doch Ate rechtzeitig heimgegangen ...«

Regelmäßig folgte dann von Gurri ein trauerndes: »Ach Ate ...«

Seit dem Schuß, der das Dasein des jungen Ate vernichtete, hatte Bambi den Schützen stets im Auge behalten.

Er war immer dicht hinter ihm, sowie dieser Mörder im Wald sich zeigte. Er ließ ihn nicht aus den Augen, folgte seinem Pirschen argwöhnisch auf den Fersen.

Der Jüngling fühlte sich wie ein von Leidenschaft Besessener, seit er seinen ersten Bock erlegt hatte. Fieberhaft gesteigerte Jagdlust beherrschte ihn. Immer früher erschien er des Morgens, immer später verließ er abends den Wald.

Verschiedentlich gelang es Bambi, die Anschläge des Jünglings zu durchkreuzen. Er schickte die Elster ganz nahe an den bedrohten Bock heran, ihn zu warnen. Er gebot dem Eichhörnchen, einen Sorglosen von der Salzlecke wegzuholen.

Dem jungen Menschen mißglückte auf eine unerklärliche Weise alles.

Um so verbissener rang er, Erfolg zu haben.

Heute kam er vor Tau und Tag, bezog im Dickicht am Saum der Wiese seinen Lauerposten.

Ein ganzes Rudel Rehe erblickte er.

Mit dem lichtstarken Prismenglas durchdrang er die blasse Dunkelheit.

Wachsam hielt Bambi hinter ihm. Dort draußen waren seine Kinder, war Faline! Er dachte nicht, daß Er in solcher Finsternis die Feuerhand heben werde; immerhin, man hatte es mit einem jungen Er zu tun.

Mißtrauisch bewachte ihn Bambi und voll Sorge.

Der Jüngling musterte die Rehe, erkannte Genos Krönlein, fand es zu schwach.

Lauter Kitze.

Doch zwei große, starke Rehe gab es auch, zwei Prachtsexemplare. Ahnungslos meinte er, ein Bock müsse dabei sein. Müsse!

Das Jagdfieber und die Dunkelheit täuschten ihm ein mächtiges Gehörn vor. Er ließ das Glas am Riemen auf die Brust fallen, griff zur Büchse.

Bambi schaute suchend umher.

Keine Elster, kein Eichhörnchen, niemand! Alle schliefen noch!

Die Eule, jetzt Bambis einziges Hoffen, sang ferne ihr klagend schönes Lied.

Nun legte der Jüngling die Büchse an die Wange.

Da galt kein Zaudern, sollte Unheil vermieden werden.

Mit seiner ganzen Wucht schleuderte sich Bambi gegen den Jüngling, stieß ihm die scharfe Krone in den Rücken.

Der Ueberraschte stürzte nach vorn.

Etwas Niegehörtes, der Angstschrei eines Menschen, schmerzerfüllt, kreischte laut.

Während des Niederfallens ging der Schuß los, und das Geschoß pfeilte hoch in die Luft.

Bambi sprang über den Geängstigten hinweg, raste ein Stück zur Wiese hinaus, verschwand gleich wieder in den Büschen.

Auseinanderstiebend tollten die Rehe zur Deckung, hörten, wie Gurri rief: »Der Vater!«

Binnen kurzen Sekunden erwachte der ganze Wald.

Der Menschenschrei, den hier noch keiner vernommen, weckte alle; der Schuß war gleichfalls Alarm, doch etwas weniger. Erst konnte sich niemand fassen.

Man begriff nur allmählich, was da geschehen war.

Gurri hatte den Vater gleichsam als etwas Traumhaftes, als einen Husch wahrgenommen. Doch ihr Ausruf verbreitete sich geheimnisvoll.

Dieses Ereignis hatte nicht seinesgleichen!

Der allgewaltige Er war von Bambi besiegt worden!

Bambi hatte den Angriff gewagt, diesen beispiellosen, diesen irrsinnig kühnen Angriff!

Und Er vermochte keinen Widerstand zu leisten!

Perri, die aufgeschreckt ihrem Nest entfuhr, setzte dem Jüngling nach, kehrte zurück und schilderte lebhaft, wie Er humpelnd den Wald verlassen.

Elstern, Amseln, Häher sahen Ihn auf dem kläglichen Rückzug, bestätigten die Meldung Perris, und übereinstimmend wußten sie zu erzählen, daß Er unter deutlichen Zeichen der Furcht des Weges geschlichen wäre.

Nun umschwärmte, umzwitscherte, umschäkerte ein hundertfacher Jubelchor Faline und ihre Kinder.

Niemand war Zeuge des Vorfalls gewesen. Eben deshalb wuchs das Geschehen, wuchs die Leistung Bambis ins Phantastische.

Daß Er, in die Flucht geschlagen, sich zurückzog, blieb unleugbar, wurde von allen berichtet, von allen triumphierend verkündet.

Zitternd vor Glück wendete sich Faline an Gurri: »Du hast den Vater erkannt?«

»Nur einen Augenblick sah ich ihn!« beteuerte Gurri, »nicht länger, als ich zum Atmen ansetzte! Aber der Vater ist es gewesen!«

Rolla, die mit ihren Kindern in der Verwirrung gleichfalls zur Schlafstelle der anderen gerannt war, widersprach Faline, noch ehe diese etwas äußern konnte: »Zweifelst du?«

Und Boso sagte überzeugt: »Wer soll es sonst gewesen sein? Wer außer ihm ist solch einer Tat fähig?«

Erschüttert wiederholte Faline: »Wer sollte es sonst gewesen sein?«

Geno trat zu ihr: »Freu dich doch, Mutter ...«

Faline sah ihn an: »Freuen? Das geht über jede Freude! Vielleicht werde ich später Freude empfinden können ...«

Gurri sprach, und ihre Stimme schlug voll Ergriffenheit um: »Keiner von uns weiß ja, was geschehen ist ...! Aber der Vater war es! Der Vater ...!« Unfähig, weiterzureden, schwieg sie.

Bambi blieb verschwunden.

Sie suchten ihn, die Elstern, die Häher, die Amseln, die Hasen, sogar die Fasane. Keiner entdeckte ihn.

 

* * *

 


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