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Feierlich schreitet Faline auf die Wiese, mit beiden Kindern, feierlich und stolz.

Sie hebt die schlanken Läufe anmutig wie im Tanz.

Sie trägt das Haupt mit adliger Gebärde.

Jegliche Spur des Kummers, der Demütigung, der Sorge ist von ihr abgefallen. Sie scheint verwandelt, hat ihre Harmlosigkeit wieder, ihr ruhiges Muttergefühl.

Jetzt darf sie sich, jetzt will sie sich zeigen; braucht sich vor niemandem mehr zu verbergen, braucht sich nicht mehr zu schämen und nicht mehr bedauern zu lassen.

Auch die Kinder gehen anders als früher, fast stolz.

Beginnendes Erwachsensein kündigt sich in ihrer Haltung an und mengt sich reizvoll mit ihrem noch deutlich vorhandenen Babytum.

Ein gewisser froher Ernst zeichnet Geno aus, als wäre er es, der die Leiden und Abenteuer der Schwester erlebt hätte.

Nur Gurri behielt scheinbar unverändert ihr achtlos heiteres Wesen.

Sie hat die Grazie einer kleinen, kindlichen Tänzerin, das unschuldig hinreißende Temperament eines Geschöpfes, das nur zum eigenen Glück geboren wurde, das sich um sonst nichts in der Welt kümmert.

Mutter und Bruder verhätscheln sie, und sie nimmt das als etwas Selbstverständliches, wie etwas, das ihr ganz einfach gebührt.

Bambi blieb wieder unsichtbar.

Rolla, Boso und Lana trauten ihren Augen nicht, als Faline mit beiden Kindern auf der Wiese erschien.

Faline, abgesehen von der unwillkürlichen Feierlichkeit ihres Gehabens, benahm sich wie eh und je.

Ebenso Geno; erst recht Gurri.

Nichts war geschehen. Alles war in Ordnung, konnte gar nicht anders sein.

»Gurri! – Gurri! – Gurri!«

Verblüfft riefen sie durcheinander.

»Du bist wieder da?«

»Du lebst?«

»Ein Wunder!«

»Ich lebe! Natürlich lebe ich! Was denn für ein Wunder?«

»Na, hör mal ...!« Rolla wußte keine Antwort.

»Der Fuchs ...? War das gar nichts?« rief Lana.

»Und Er ... der dich weggeschleppt hat ...?« erinnerte Boso.

Gurri wehrte ab: »Ach, Kleinigkeiten, nichts weiter.«

»Das sind keine Kleinigkeiten!« ereiferte sich Lana.

»Erzähle!« drängte Boso, »erzähl genau!«

Rolla sprach im Befehlston: »Du mußt den ganzen Hergang erzählen.«

»Redet doch! Ihr!« wendeten sich Boso und Lana an Faline und Geno.

Aber Gurri führte das Wort: »Da ist nichts zu erzählen! Der Vater hat mich befreit! Nun wißt ihr's! Und Schluß!«

Sie sprang davon. Uebermütig fegte sie durch das seidige Gras, erquickte sich genießend wie ein Durstiger an frischem Trunk, an dem weiten Raum, an der ungehemmten Bewegung, die durch kein Gitter eingeengt wurde.

Die anderen rannten ihr nach.

Boso und Lana versuchten sie einzuholen, sie aufzuhalten.

Doch Gurri ließ sich weder einholen noch aufhalten.

Geno sprang munter hinterdrein.

Bei Faline blieb Rolla.

»Wie ist das zugegangen?« begann sie.

»Du hörst ja«, gab Faline Bescheid, »Bambi war es, der unsere Tochter befreit hat ...«

»Ich hab's gehört ... freilich ... nur ... die Geschichte ...! Es muß doch eine ganz spannende Geschichte sein ...?«

»Erkundige dich bei Gurri!«

»Sie sagt ja nichts ...«

»Und ich weiß selbst nicht viel mehr«, beteuerte Faline aufrichtig.

»Wie soll man dann was erfahren?«

»Nun«, riet Faline, »... frage Bambi ...«

Rolla fuhr auf: »Bambi! Sehe ich ihn denn? Und wenn ich ihn einmal zu Gesicht kriege, wie dürfte ich mir erlauben, ihn anzureden? Wer traut sich denn?«

»Warum nicht ...?« meinte Faline harmlos.

Rolla fühlte sich zurückgewiesen; aber stärker als ihr Gekränktsein war ihre Neugierde.

Sie suchte die Sache von einer anderen Seite anzufassen: »Du warst lange nicht auf der Wiese ...«

»Findest du?« Faline schien sich zu wundern: »Mir ist, ich sei immer hier gewesen.«

»Wir haben euch nie getroffen, dich nicht und Geno nicht.«

»Zufall!« wich Faline aus.

Mit dem ersten Erbleichen der Nacht zogen die sechs Rehe ins Dickicht zu ihren Schlummerstätten.

So verschieden die Richtung war, die sie einschlugen, so verschieden war ihre Laune.

Rolla fühlte sich beleidigt.

Boso und Lana äußerten ihre Unzufriedenheit.

»Ich kann diese Gurri nicht begreifen«, platzte Boso los, »nichts ist aus ihr herauszubringen!«

»Sie tobt und tollt umher«, tadelte Lana, »sie ist fröhlicher als je und spricht kein vernünftiges Wort.«

»Sie macht sich über uns lustig«, murrte Boso.

»Ganz wie die Mutter«, entschlüpfte es Rolla.

»So? Wahrhaftig?« Boso wollte mehr wissen: »Auch Faline schweigt?«

Lana spottete: »Was soll man sich dabei denken? ›Der Vater hat mich befreit!‹ ... mehr kriegt man nicht zu hören.«

Rolla wiederholte: »Bambi hat unsere Tochter befreit« ... Fertig! Mehr sagen sie nicht. Bambi! Na, ja, er ist der Fürst, schön und gut! Deshalb brauchte seine Sippschaft aber doch nicht gar so unerträglich hochmütig zu sein!«

Sie entrüsteten sich, bis sie endlich einschliefen, nachdem sie wiederholt das gleiche besprochen hatten.

Auch Faline fand mit ihren Kindern noch lange keinen Schlaf.

Doch sie waren in bester Stimmung.

Immer neue Besucher kamen, um Gurri zu grüßen und zu beglückwünschen.

Alle Wächter saßen auf den niederen Zweigen der Stauden herum und hatten ihre Freunde mitgebracht, so daß viele beisammen waren: eine ganze Schar Elstern, etliche Häher, sogar einige Krähen, dazu drei Eichhörnchen, die an ihren hochgepflanzten Fahnen lehnten.

Die ganze respektable Versammlung lauschte erregt, gespannt und erstaunt dem Bericht, den Gurri von ihrem schicksalsreichen Abenteuer gab.

Sie schilderte die Stube des Jägers.

Alle gerieten in Entsetzen.

Sie sprach von dem kleinen umgitterten Raum, darin sie während der langen Zeit ihrer Gefangenschaft eingesperrt gewesen.

Man konnte sich so etwas gar nicht vorstellen und bewunderte Gurri.

Sie erwähnte den Uhu.

Sofort erhoben Krähen und Elstern ein zorniges Geschrei.

»Ihr solltet ihn nicht so hassen«, bat Gurri.

Man unterbrach sie stürmisch. »Was? Ihn nicht hassen? Diesen Dieb! Diesen Nesträuber! Diesen Mörder!«

Gurri wollte nicht laut werden lassen, daß gerade die wütenden Schimpfer derselben Missetaten schuldig wären, deren sie den Uhu anklagten. Deshalb sagte sie nur: »Ihr tut ihm unrecht! Er ist nichts als ein armer Gefangener!«

»Recht geschieht ihm!« der entrüstete Chor besänftigte sich, »mag er gefangen bleiben! Das gehört ihm!«

»Aber du, Gurri«, traf das Eichhörnchen den Kernpunkt, »du ... wie bist du aus der Gefangenschaft entkommen?«

»Ja! Ja!« riefen nun alle, »wie ist dir das gelungen? Sprich doch!«

»Der Vater« – bei der Nennung seines Namens stand Gurri auf – »der Vater hat mich befreit«, erklärte sie.

Faline und Geno erhoben sich gleichfalls zum Zeichen ihrer Ehrerbietung.

Stehend erzählte Gurri die Geschichte.

Wie der Vater nachts vor ihr erschienen war; wie er den hohen Zaun übersprungen hatte. Und da mußte sie sehr viel reden, um ihren Zuhörern einen Zaun halbwegs vorstellbar zu machen.

Von ihren kläglichen Versuchen, selbst über den Zaun zu springen, schwieg sie.

Nur wie der Vater mit einem mächtigen Satz ins Freie sauste, das schilderte sie.

Und dann den Schluß.

Wie Er bei Morgengrauen den Besuch des Vaters, die Spur des Vaters entdeckt, wie Er, offenbar vor dem Vater bange geworden, sie sogleich losgelassen hatte.

Derart malten sich die Zusammenhänge des Verlaufs in Gurris Haupt.

Andächtig lauschend waren alle dem Bericht gefolgt.

Jetzt taten sich Gurri, die Mutter, der Bruder zum Schlafen nieder.

»Ich hätte nie gedacht, daß ich dich wiedersehe«, sagte das Eichhörnchen, »nun freue ich mich, weil du gerettet bist!«

»Bambi«, schakerte die Elster, »setzt alles durch!«

Die anderen fielen ein: »Sowas bringt nur Bambi fertig!«

»Selbst Er hat sich vor Bambi gefürchtet!«

»Selbst Er!!«

»Kein anderer ist das imstande!«

Bambis Ansehen stieg noch höher, als es ohnehin schon lange gestiegen war.

Die Versammelten trugen die Kunde von Bambis Taten durch den Wald.

So erfuhr auch Rolla mit ihren Kindern später einiges.

Sie wurden nur noch neugieriger und noch viel verdrossener.

»Warum«, forschte Geno, »warum hast du ihnen eigentlich nichts erzählt? Du redest doch sonst recht gerne.«

Gurri schmunzelte: »Ich werde mich schwer hüten! Erzähle ich ihnen, was ich durchgemacht, was ich gesehen habe, verlangen sie es wieder und wieder zu hören. Ohne Ende. Ich kenne das doch. Wahrscheinlich würden auch wir zwei uns genau so benehmen.«

»Wäre es denn so arg, wenn sie dich wiederholt drum bitten würden?«

»Ja«, erwiderte Gurri kurz, »das wäre sehr, sehr arg!«

»Himmel!« wunderte sich Geno, »bist du aber klug geworden!«

»Mein Lieber«, antwortete ihm Gurri, »ob ich klug bin, weiß ich nicht. Eines aber weiß ich. Die Gefahren, denen ich entrinnen durfte, die Erlebnisse, die ich hatte, das ist eine viel zu ernste Sache, das bleibt mir viel zu teuer! Ich wäre meiner wunderbaren Rettung, wäre des Vaters unwürdig, ließe ich mich herbei, unaufhörlich darüber zu schwatzen.«

Verschüchtert fragte Geno: »Auch mir ... auch mir willst du nichts sagen ...?«

»Dir?« Gurri lachte und wurde heiter wie sonst: »Begreife doch, auf der Wiese vor den andern, die mich immerzu um Wiederholungen quälen würden, käme das wie Prunken und Prahlen heraus. Ich müßte mich schämen. Aber dir? Du bist mein Bruder! Dir erzähle ich alles!«

»Und wenn ich dich bitte, ich meine später ... ich meine nachher ... wenn ich dich bitte, daß du nochmals ...?«

»So oft du willst, werde ich dir alles wiederholen.«

Geno hüpfte vergnügt, was man selten an ihm wahrnahm.

»Also fang nur schon an!« Er zeigte sich aufgeräumt wie noch nie. »Fang an ...! Fang an ...! Fang an ...!«

Sie erzählte ihm vom Hund ... von dem Verband, den Er ihr angelegt hatte, ... von ihren Schmerzen, von ihrer Angst.

Daneben schilderte sie ihm den Hahn und seine Hennen.

Geno schüttelte sich, erst vor Empörung, dann vor Heiterkeit.

»Ich glaube dir kein Wort«, scherzte er.

Gurri beschrieb den Uhu; ihr anfängliches Entsetzen über sein Aussehen, über seinen Gestank. Dann, wie sie trotzdem Freunde wurden. Schließlich die Qualen, die der Uhu erdulden mußte.

»Das ist ja fürchterlich!« rief Geno.

Allein als Gurri von der Weite der Felder sprach, von den Rehen, die ins Korn, von den Fasanen, die in den Mais gingen, konnte er nicht genug staunen.

Und als Gurri den Lerchensang, als sie die Lerche schwärmerisch pries, wurde er tief ergriffen.

»Ich bewundere dich!« gestand er zuletzt, »du weißt mehr, viel mehr als wir alle hier im Wald!«

Gurri lächelte: »Mag sein, daß du recht hast. Aber merke dir eines. Das alles vertraue ich nur dir! Nur dir! Sag's nicht weiter!«

»Wo denkst du hin?« er bemühte sich umsonst, ein ernstes Gesicht zu machen, »wo denkst du hin? Solche Dinge muß jeder wissen, und jedem will ich erzählen, wie der Hahn zum Himmel aufsteigt und singt.«

Die Geschwister lächelten.

Gurri war durchdrungen davon, der wortkarge Geno werde kein Wort über ihre Abenteuer reden.

Geno schwieg denn auch getreulich.

Die Geschichte von Gurris Abenteuern, die sie nun zusammen als Geheimnis hegten, band Bruder und Schwester nur noch inniger aneinander.

 

* * *

 


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