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Gurri, die aus ihrer Ohnmacht erwachte, als der Jäger sie heimtrug, wollte sich befreien. Doch er hielt sie fest; sie war zu schwach, um Widerstand zu leisten, und sie gab die Strampelversuche auf.

Der Jäger redete ihr mitleidig, beruhigend zu, aber Gurri fühlte nur rasende Angst. Ihre Wunde schmerzte, der Geruch, den der Jäger ausströmte, dieser einfach grauenerregende Geruch hüllte sie völlig ein und betaumelte ihre Sinne ... Willenlos gab sie sich auf ...

Die Stimme des Jägers, so leise und zärtlich er sprach, klang ihr wie Drohung.

Zu Hause angelangt, wusch der Jäger Gurris Wunde.

Das tat sehr weh, doch Gurri wagte nicht, sich zu regen.

Während er ihr einen Verband anlegte, sagte er: »Na, Gott sei Dank, er hat dich nur wenig gebissen, nur das Fell, nicht tief. Ein bißchen ins Fleisch; doch das wird bald wieder gut.«

Gurri wurde vom Verband, der ihre Brust umfing, eingeengt. Der Aufenthalt in der Stube, die sie als etwas Niegeschautes und Furchtbares ansah, der Lampenschimmer überschüttete sie wie ein gefährliches Wunder. Ihr blieb die Luft weg.

Verzweifelt raffte sich Gurri auf, taumelte zu der Oeffnung, zu der sie hereingetragen worden war.

»Was zitterst du denn so, du armes Ding?« fragte der Jäger hilflos.

Dann klinkte er die Türe auf: »Ach so! Na natürlich, du gehörst ins Freie.«

Gurri stolperte die paar Stufen hinunter.

»Komm, komm daher«, der Jäger schob und drängte sie zu einem umgitterten Platz.

Unterwegs hatte sie wieder einen Schreck.

Der Hund sprang herbei und beschnupperte sie neugierig, laut, zudringlich. Er sah mächtiger, schlimmer aus als der Fuchs.

Gurri fiel zu Boden, glaubte, jetzt sei alles aus.

»Marsch, weg, Hektor!« befahl der Jäger, »das ist nichts für dich! Marsch!«

Sofort verschwand der Hund, ohne daß Gurri es gewahrte.

Der Jäger hob sie auf. »Fürchte dich nicht, der Hektor ist brav! Hab keine Angst, der tut dir nichts!«

Aber Gurri fürchtete sich. Sie war halb irr vor Angst.

Die Bebende trug der Jäger durch die Gittertüre, die er aufschloß, in den kleinen Rasenfleck, setzte sie zur Erde, sagte: »Schlaf jetzt, hast da Ruhe«, und ging.

»U–hu!« scholl ein Ruf, wild, beklemmend, wüst.

Das war Gurris zweites großes Erschrecken, seit sie die Jagdstube verlassen hatte.

Es überwältigte sie.

Hinter einem Drahtnetz, in der Bretterecke, saß auf einer Querstange der Uhu. Ein furchtbarer Anblick für Gurri.

Der Geruch, der sie umfing, war das Unheimlichste.

Gurri witterte Ermordete.

»Bitte, bitte, laß mich am Leben ...«, flehte sie ganz leise. Sie hatte kaum Kraft, zu sprechen.

»Ich kann dir gar nichts tun«, antwortete der Uhu, »selbst wenn ich wollte, könnte ich's nicht. Ich bin nur ein Gefangener.«

Dann sagte er: »Auch dich hat Er gefangen, nicht wahr?«

Gurri wurde das verwirrende Empfinden nicht los, aber nach und nach hörte sie auf, sich zu fürchten.

Erschöpft tat sie sich nieder und schaute umher.

Zur einen Seite dehnte sich eine unermeßliche Weite. Mindestens konnte Gurri diese flache Weite des Nachts nicht ermessen. Zur andern Seite dunkelte draußen ganz nahe der Wald.

Der Wald! Der Wald! Die verlorene Heimat!

Still begann Gurri zu weinen.

Aber in ihrer Müdigkeit erbarmte sich ihrer alsbald der Schlaf.

Etliche Stunden später erwachte sie. Es war noch finster.

Von hoch oben, aus der Luft, scheinbar vom bestirnten Himmel tönte Jubel. Dauernd, unablässig Jubel. Fremd war das, aber hold, wirklich beglückend.

Das war die Lerche, jenes kleine Geschöpf, das den Tag vor allen anderen Tieren als erstes begrüßt.

Gurri, die bei Nacht sonst niemals schlief, horchte gespannt.

Dergleichen hatte sie nie zuvor vernommen.

Der Lerchengesang mit seinem Jauchzen und Trillern, mit seinem melodischen Flöten, seinem sanft-zärtlichen, dankerfüllten Hingegebensein an das Leben weckte Trost und Erquickung in Gurri.

Sie wußte nicht, wie ihr geschah.

Hier lag sie, verwundet, gefangen, fern von Mutter und Bruder, fern vom geliebten Wald, unglücklich, ohne jede Hoffnung. Trotzdem fühlte sie, entzückt von dem zuversichtlichen, freudesprühenden Lerchenlied, ihr Unglück nicht, trotzdem regte sich in ihr ein leises Hoffen.

Endlich flüsterte sie: »Wer singt da oben?«

Der Uhu gab Bescheid: »Eine ganz kleine Närrin.«

Gurri fragte: »Sie wohnt im Himmel?«

»Nein«, antwortete der Uhu, »dicht am Boden hat sie ihr Nest. Wehrlos ist sie, die Winzige, wehrlos und so bescheiden; man sollte es nicht für möglich halten, wie armselig sie ist. Aber sie steigt zum Himmel auf, sie erhebt sich über ihre Erdennot, erhebt sich über alles und singt. Verrückt! Einfach verrückt!«

»Ich liebe sie«, hauchte Gurri.

»Auch ich mag die Närrin gut leiden«, der Uhu kicherte.

Die Lerche tirilierte ohne Pause; Gurri lauschte.

»Man gewöhnt sich daran«, meinte der Uhu, »oft höre ich die Närrische gar nicht, so sehr bin ich an diesen Singsang gewöhnt. Er ist wie das Zirpen der Grillen, wie das Quaken der Frösche.«

»Grillenzirpen«, dachte Gurri, »Froschgequake, das sind doch keine Vergleiche.« Zuwidersprechen erlaubte sie sich nicht.

Fahl begann die Morgendämmerung.

»Kikeriki!« krähte der Hahn.

Ein zweiter antwortete; ein dritter, weiter weg.

Gurri fuhr auf, erinnerte sich des berstenden Gocklautes der Fasane, die von ihren Schlafbäumen niederflatterten. Der Hahnenschrei klang ihr fremd.

»Wer ist denn das?« erkundigte sie sich.

»Das sind Wichtigtuer«, erklärte geringschätzig der Uhu, »eingebildete Tröpfe, hochnasig, aufgeblasen, frech. Wir haben einen solchen Burschen hier. Er geht frei herum mit seinen vielen Weibern. Wenn ich den einmal erwischen könnte, den würde ich tüchtig zurichten. Mir wär's eine Wonne.«

Der Uhu schüttelte sein Gefieder, daß er doppelt so schrecklich aussah, drückte die großen, bernsteingelben Augenflammen zu und knappte laut mit dem Schnabel.

Es wurde lichter. Gurri gewahrte die Weite der Felder. Mais stand hoch, Korn ragte schwer und in grünen Büscheln Kartoffelkraut. Darüber schwebte die Lerche, kaum sichtbar, ein singender Punkt am Firmament.

Im Korn rauschte es stark, ein paar Rehe schlüpften hervor, strebten dem Walde zu, darin sie verschwanden.

»Die Meinen!« rief Gurri, »Angehörige meiner Familie – aber ich kenne sie nicht!«

»Jede Nacht kommen sie hierher«, sagte der Uhu, »und oft lauert Er ihnen auf. Aber Er hat noch keines treffen können. Sie sind immer schon weg.«

»Von diesen Ausflügen weiß ich noch gar nichts«, gestand Gurri; denn sie fand hier alles neuartig.

Mitleidig sprach der Uhu: »Was weißt du denn überhaupt, du Kind ...?«

Fasane rannten in den Mais.

»Das hab ich auch noch nie gesehen«, bekannte Gurri.

»Die Maiskolben schmecken ihnen eben sehr gut«, erwiderte der Uhu, »aber manchmal büßen sie dabei ihr Leben ein. So ist es nun in der Welt. Um zu essen, setzen die meisten ihr Dasein aufs Spiel.«

Eine Henne gackerte.

»Da hat man's!« zürnte der Uhu, »diese Weiber, die den Wichtigtuer anbeten, sind noch unausstehlicher als er. Was die für Krach schlagen, was die für Geschichten machen, wenn sie ein einziges Ei legen! Widerlich! Rührt sich ein anderer Vogel beim Eierlegen? Jeder schweigt. Das ist ein niedriges Sklavenvolk, gemeine Wichtigtuer sind das, aufdringliche Prahler!«

Etliche Bauern erschienen, begannen das Korn zu mähen.

Vor ihnen erschrak Gurri, humpelte umher, suchte ein Versteck und fand keines.

»Die sind ungefährlich«, beschwichtigte der Uhu, »die tragen keine Feuerhand. Nur einen scharfen Zahn haben sie. Die brauchst du nicht zu fürchten.«

Die Sensen sausten in die Halme, und reihenweise legte das Korn sich um.

»Wenn alles abgeschnitten ist«, sprach der Uhu, »dann komme ich dran.«

»Wie denn, wie kommst du dran?«

»Später ... später erzähle ich dir meine Leiden.«

Er senkte den Kopf, die Augen fielen ihm zu, noch ehe er das Gesicht unter dem Flügel barg. Er schlief.

Der Lerchenjubel durchdrang weiter den Raum zwischen Himmel und Erde. Keine andere Stimme vermochte ihn zu stören. Harmonisch fügte sich gelegentliches Finkenschlagen oder Amselsingen dazu.

Gurri wurde davon bezaubert.

Die Lerche war ihr während der ganzen Zeit stärkende Erfrischung, spendete der Gekränkten dauernde Tröstung, lullte sie, wenn auch nur zuweilen, in träumerischen Seelenfrieden.

Hie und da erblickte Gurri den kleinen Vogel, sah verblüfft seine unscheinbare Zartheit, wunderte sich über die nie ermüdende Kraft, die der winzigen Kehle, der schmalen Brust innewohnte. Verblüfft sah sie, wie die Lerche gleich einem Stein aus der Höhe niederstürzte, wie sie nach kurzem Flügelflattern in der Ackererde verschwand.

Einmal bebte sie um das Leben der geliebten Kleinen.

Am Himmel zog ein Bussard stolze Kreise.

Die Lerche war zu Boden gekommen, und der Bussard stieß herab; ganz nahe dem Platz der himmlischen Sängerin.

Dann strich er waldwärts davon, hielt seine Beute.

Gurri war verzweifelt. Sollte sie den erquickenden Gesang nicht mehr hören?

Da flügelte die Lerche empor und begann schon, kaum vom Boden erhoben, zu trillern.

Gurri atmete auf.

Der Bussard hatte nur eine Maus gepackt.

Nun änderte Gurri allmählich ihre Gewohnheiten. Sie wachte des Tages, sie schlief des Nachts. Sie labte sich an der sengend heißen Sonne. Der Jäger, der ihr süßes Kleeheu zum Essen brachte, war ihr kein Gegenstand der Angst. Sie fürchtete den Hund nicht mehr, der jenseits des Gitternetzes stand. Dieser Draht schützte sie, und Gurri begriff das bald.

Voll Geringschätzung betrachtete sie den Hahn, der eitel, geckenhaft inmitten der, wie es Gurri schien, würdelosen Hennen paradierte. Sein roter Fleischkamm ekelte sie, sein goldgelber Stoß mit den gebogenen Prunkfedern imponierte ihr nicht.

Da waren die Fasane doch anders. Freie, herrlich wilde Geschöpfe.

Wie konnten sie hoch die Luft durchsausen, wenn es galt, zu entrinnen.

Dieser erbärmliche Hahn brüstete sich nur, indem er die Flügel breitete und wieder zusammenfaltete. Er vermochte nicht mehr, als mühsam einen Zaun zu erreichen, und hielt das schon für eine Leistung.

Als entartete Verwandte der Fasane galt ihr die Hühnerschar.

Demütige Diener, die Er sein Eigentum nannte, die gehorsam herbeieilten, wenn Er sie lockte und ihnen Futter streute. Freßgierige Schmarotzer.

Gurri diente Ihm keineswegs, würde Ihm niemals dienen. Immer wird sie scheu und fremd bleiben.

Sie empfand zuweilen schmerzhafte Sehnsucht nach dem Wald, quälendes Verlangen nach Freiheit.

Ihre Rückenwunde war verheilt, der Verband abgenommen.

Zwei Schrammen blieben sichtbar, ließen die Haut sehen; doch langsam überwucherten Haare die häßliche Narbe.

Eines Abends wurde der Uhu früher wach und schien guter Laune.

Gurri trat vorsichtig an sein Gitter. »Wie ist das, wenn Sie drankommen?«

»Mußt du mich daran erinnern?« der Uhu rollte die Augen.

»Sie haben es mir versprochen«, erwiderte Gurri bescheiden, »ich warte schon sehr lange ...«

»Bist du neugierig?«

»Ja«, gestand sie, »ich bin schon lange neugierig.«

»Nun, wenn ich es dir versprochen habe«, lachte der Uhu, »wir sind doch Freunde, wir zwei ...«

Unumwunden bekannte Gurri: »Zuerst war es schwer mit Ihnen. Da habe ich mich vor Ihnen gefürchtet, und ...«, sie zögerte, »und gegraust habe ich mich auch ...«

Der Uhu plusterte sich auf; sein Schnabel knackte laut, seine Augen glänzten heiter: »Gegraust? So, so! Das ist allerdings ein Hindernis für Freundschaft. Warum gegraust?«

»Sie riechen schlecht«, gab Gurri unschuldig und offen zu.

»Jetzt noch?« wollte er wissen.

»Gewiß. Immer.«

»Das ist mir gar nicht bekannt«, er scherzte, »und ich habe geglaubt, ich dufte sehr schön.«

»O nein«, Gurri lächelte, »aber das macht mir jetzt nichts mehr.« Rasch sagte sie: »Jetzt mag ich Sie sogar sehr gerne.«

»Ist ja nicht anders möglich. Wir sind eben Schicksalsgenossen.«

»Erzählen Sie also«, forderte Gurri.

»Ein Vergnügen ist es nicht«, sprach der Uhu, »ich sitze auf dem Pflock, Er steckt in der Erde und brennt immerzu seine Feuerhand los.«

»Aber Sie leben ja doch!«

»Ah! Mich schont Er; mich gebraucht Er, um die anderen anzulocken.«

»Welche anderen?«

»Meistens Krähen, häufig Elstern, Häher, einige Falken, etliche Sperber und Bussarde ... wer eben kommt und mich gehässig verhöhnt oder mich gar angreifen will.«

»Die schleudert Er aus der Luft herab?« erriet Gurri.

»Ja! Fast alle holt Er mit der Feuerhand herunter. Da liegen sie vor mir am Boden, tot. Geschieht ihnen recht. Was habe ich ihnen denn getan, daß sie so wütend gegen mich losfahren?«

»Wie kommen Sie auf den Pflock?«

»Er trägt mich hin.«

»Und da fliegen Sie nicht fort?«

»Ach, wie gerne möchte ich das! Aber ich bin gefesselt! Ich kenne das schon, wenn Er zu mir hereintritt. Ich versuche jedesmal, Ihn zu erschrecken; knappe heftig mit dem Schnabel, hebe drohend meine Krallen, sträube die Federn ... umsonst! Kein bißchen Angst hat Er! Von Seinem Kopf nimmt er einen Teil. Du hast das schon bemerkt; Er kann seinen Kopf doch zweiteilen, nicht wahr? Nun, den einen beweglichen Teil stülpt Er über meine Augen. Da bin ich blind, bin wehrlos und von seiner Witterung schier betäubt. Er packt mich bei den Ständern und legt mir Fesseln an, so eng, daß ich mich nur wenig zu rühren vermag. Es ist scheußlich!«

»Armer Uhu!«

»Was für eine Pein erdulde ich, wenn Er mich dann in den schmalen hölzernen Kasten stopft, den Er auf Seinen Rücken schwingt. Hopp! Ich stoße mit dem Schädel an die Wand bei dem Ruck, und bei jedem Seiner Schritte taumle ich hin und her. Mir wird immer sehr übel. Erst wenn Er den Kasten niederstellt, mich in die frische Luft entläßt, erhole ich mich. Doch vorher hat Er mich mit einer langen Schnur schon an den Pflock gebunden. Ich kenne den Pflock; ich weiß auch, was nun geschehen wird. Ein wenig hab ich Angst, und ein wenig genieße ich den Geruch der Freiheit, den Geruch der Feldmäuse, der Maulwürfe, all der Leckerbissen, die ich erbeuten könnte, wenn ich nicht gefangen wäre. Derweil verkriecht Er sich in sein Erdloch. Ich schwinge mich auf den Pflock, und wir erwarten den Tag.«

»Und dann?«

»Dann kommen als erste die Krähen. Die machen ein Geschrei, daß man's von weitem schon hört. Sie sind klug, die Krähen, sie sind achtsam, und sonst kann Er sie kaum erwischen. Nur in ihrer Gehässigkeit gegen mich benehmen sie sich dumm. ›Da ist er, der Nächtliche, der Nesträuber, der Mörder!‹ schreien sie. Zu albern! Als ob sie selber noch nie Nester geplündert, als ob sie noch nie gemordet hätten! Drohend fliegen sie über mich hin, ganz nahe. Man möchte glauben, sie hackten mir die Augen aus, oder sie zertrümmerten mir die Hirnschale. Aber keine wagt, mich zu berühren.

»Peng! Da knallt die Feuerhand, und noch einmal Bang! Und wieder Bum! Ich zucke, obwohl ich den Donner schon gewohnt bin, und obzwar ich weiß, daß Er mir kein Leid zufügt. Aber die Krähen, diese klugen Krähen, die sonst immer solch eine Scheu vor der Feuerhand haben, die regelmäßig genau wissen, ob Er mit oder ohne Feuerhand daherkommt, die Krähen scheren sich nicht um den Donner, sie scheren sich nicht darum, daß so viele von ihren Kameraden tot herunterstürzen. Sie sehen nur mich und sind einfach irrsinnig vor Zorn.«

»Wer kommt denn noch?«

»Ich hab's dir ja gesagt. Manche Elstern lassen ihre Wut an mir aus. Häher wollen mir Schaden tun. Wollen! Sie trauen sich nicht, die Armseligen, und sie liegen am Boden, ehe sie sich besinnen. Alle tun sie unschuldig, alle stellen sich empört und haben alle das gleiche verübt, das sie mir vorwerfen. Es ist mir unverständlich! Nur die Räuber kommen, nur die Räuber wollen den Räuber strafen. Sonst kommt keiner; kein einziger. Ja, die Falken, die Sperber, die Bussarde ... die sehe ich schon von ferne, sehe sie, wenn sie noch winzig wie Punkte scheinen. Sie rütteln über mir, und hätten sie Zeit, sie würden mich vielleicht mißhandeln. Doch Er knallt jeden herunter. Ein paarmal kamen sogar Fischadler. Da bin ich vom Pflock gestiegen, habe mich auf den Rücken gelegt und gedacht, mit Schnabel und Krallen zu kämpfen ... Allein Er gab mir keine Gelegenheit. Peng! Und sie fielen schwer zu Boden.«

»Müssen Sie oft auf den Pflock?«

»Nein. Nicht oft. Im Spätherbst etwa drei- oder viermal; während des Winters, auch im Vorfrühling, einige Male. Ich gebe zu, Er mißbraucht mich nicht. Er sorgt für meine Nahrung, für mein Bad. Aber ich langweile mich entsetzlich. Gefangen sein und sich langweilen ist ein furchtbares Dasein; eigentlich ein langsames Sterben.«

»Sagen Sie das nicht«, rief Gurri, »Sie sind so gesund, so kräftig!«

»Wozu Gesundheit, wozu Kraft?« meinte resigniert der Uhu.

Gurri hatte Mitleid mit ihm, hatte plötzlich großes Mitleid mit sich selbst.

Sie raffte sich auf: »Macht Ihnen der Pflock nicht zuweilen Spaß?«

»Spaß!« Der Uhu schloß wehmütig die Augen.

»Ich will sagen«, erklärte sich Gurri, »freut es Sie nicht, wenn Ihre Feinde vor Ihnen zugrunde gehen?«

»Freuen ...?« Der Uhu seufzte. »... Ich beneide sie alle. Sie haben frei gelebt und sind, wenngleich aus Irrtum, aus Dummheit, aus was für Ursache immer ... sie sind in der Fülle ihres Seins leicht und schnell gestorben. Sie waren glücklich, und ich beneide sie alle.«

Gurri und der Uhu wurden traurig.

Das hinderte jedoch Gurri keineswegs, den Uhu später öfters um eine Wiederholung der ganzen Geschichte zu bitten.

Zuweilen wies er sie schroff ab.

Zeichnung: Hans Bertle

Wenn sie aber bat und bettelte, ließ er sich trotzdem herbei und erzählte.

Gurri verlangte immer neue Einzelheiten zu hören. Sie ermüdete nie. Dem Uhu war es schließlich ein Zeitvertreib.

Am Tage sang die Lerche, des Abends redete der Uhu.

Gurri fing an, sich mit ihrer Gefangenschaft ein wenig zu versöhnen.

 

* * *

 


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