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Bambi ging seltsame Wege, die er früher nie betreten hatte.

Vergeblich fragte Geno nach dem Vater; die Mutter konnte keine Antwort geben.

Faline wußte nicht, wo Bambi blieb; sie vermochte sein Fernsein nicht zu begreifen und noch weniger dem Sohn zu erklären.

Sonst hielt Bambi sich immer eine Weile unsichtbar. Geno und Faline kannten das. Aber so lange, so sehr lange, das war bisher nicht vorgekommen.

Geno sagte einmal zur Mutter: »Seit Gurri fort ist, haben wir den Vater auch verloren.«

Faline erschrak. Verloren? Sollte er sich von ihnen getrennt haben? Für immer? Nein! Nein! Daran wollte sie keineswegs glauben.

Als es wieder einmal geknallt hatte, meinte Geno beklommen: »Vielleicht ist der Vater von der Feuerhand getroffen worden ... wer kann das wissen ...?«

Mit Entschiedenheit widersprach Faline: »Unmöglich! Unmöglich, daß Er den Vater überlistet.«

Sie erkundigten sich, Mutter und Sohn, bei allen Wächtern nach Bambi; bei den Elstern, beim Eichhörnchen, sogar bei den Krähen. Umsonst. Niemand wußte Bescheid, keiner hatte ihn erblickt.

»Seit Gurri fort ist ...«, dieser Ausspruch setzte sich in Faline fest und nagte an ihrem Herzen.

»Gurri«, dachte sie voll Kummer, »geliebtes Kind ... wo magst du sein? Wie mag es dir ergehen? Wirst du dich deiner Mutter, deines Bruders, deines edlen Vaters erinnern? Wirst du uns nicht alle vergessen?«

Sehnsüchtig dachte sie: »Bambi ... Bambi ... was ist mit dir? Willst du mich verlassen, weil Gurri fort ist? Ich bin unschuldig daran ... ich gräme mich mehr als du! Zeige dich, Bambi, nur ein einziges Mal zeige dich! Ohne dich sind wir entsetzlich allein!«

Geno hatte in all seiner Ahnungslosigkeit doch gut geraten.

Bambis Verschwinden hing mit Gurris Unglücksfall zusammen.

Bambi war auf der Suche nach seiner Tochter.

Mit Trotz und Eigensinn verbiß er sich in den Vorsatz, Gurri zu finden.

Die schmähliche Erinnerung an Gobos unglückliches Schicksal fraß wie ein Brand in ihm.

Niemals, niemals durfte Gurri werden, wie Er den armen Gobo zugerichtet hatte. Niemals!

Vorwärtsgetrieben von solchen Befürchtungen, aufgestachelt von seiner Liebe zu Gurri war Bambi fest entschlossen, alles zu wagen.

Oh, nicht blindlings, nicht unüberlegt und nicht tollkühn! Keineswegs! Sondern planmäßig, listenreich, behutsam, nach jener klugen Art, die er vom alten Fürsten, die er aus eigenem Erleben gelernt hatte.

An dem Abend, als Er Gurri davontrug, war Bambi Seiner Spur eine Strecke weit gefolgt.

Von da an trat in Bambis Gewohnheiten eine gänzliche Aenderung ein. Er mied die geheimen Pfade, die er sonst wanderte; er wählte neue Ruheplätze statt der bisherigen, die ihm jede Sicherheit boten.

Sorgfältig erkor er sich einen Ruheplatz um den andern. Scheinbar herausfordernd, ungeschützt. Doch niemals hätte Er an solchen Stellen das Lager eines kapitalen Rehbocks vermutet.

Tagelang heftete sich Bambi an Ihn; wo immer Er in den Wald kam, Bambi folgte Ihm, sowie er Ihn erblickte oder witterte. Dicht hinter Ihm stand er, rang den Abscheu nieder, den Sein Geruch ihm erregte.

Bambi war, wie oft, dabei, wenn Er die Feuerhand hob, einen der Prinzen oder irgendein Raubwild niederstreckte. Knallte der kurze Donnerschlag, zuckte Bambi nicht. Diesen Schrecken hatte er ebenso überwunden wie den Widerwillen vor Seinem Geruch.

Ging Er mit der Beute aus dem Revier, war Bambi gezwungen, zurückzubleiben, denn auf der offenen Wiese, die Er beschritt, gab es kein Nachschleichen.

Aber Bambi mußte herausbringen, wo Er seine Heimstätte hatte. Unbedingt mußte Bambi das wissen, das erforschen, das ausfindig machen. Keine Vorstellung besaß Bambi, wo Er sich verbarg, wo und wie Er nächtigte, wohin Er die erbeuteten Rehe und das Raubzeug schleppte, und was Er damit anfing.

Jetzt mußte Bambi dieses Rätsel lösen, mußte dieses Geheimnis ergründen.

Das war seine neuartige, schwere Aufgabe. Allein sein Entschluß geriet keinen Augenblick ins Wanken; er blieb unverdrossen und ließ nicht locker.

Denn dort war sie ... Gurri!

Zu Gurri wollte, drängte, sehnte Bambi sich stürmisch.

Ihr den Wald ins Gedächtnis prägen, die Erinnerung an Mutter und Bruder wachhalten, sie vor aller Verführung warnen, die Er zu üben pflegte, voll Eifer ihren Sinn für Freiheit, falls dieser am Einschlummern war, wieder zu wecken. Freiheit! Freiheit! Das Teuerste, was ein freigeborenes Wesen besitzen kann.

Bambi streifte des Nachts ruhelos umher. Ihm fiel es nicht ein, den Wald zu verlassen. Doch bis zum Waldesrand gelangte er oft. Einmal entdeckte er die schmale Straße, die zum Jägerhaus führte.

Betroffen stand er still.

Da war Witterung von Ihm! Da waren Seine Spuren.

Er schnupperte; schnuppernd schritt er vorwärts, begann zu trollen, und ehe er sich dessen versah, schwand der Wald dahin.

Ganz nahe vor ihm ragte das Haus, darin Er wohnte.

Mit hochgehobenen Läufen näherte sich Bambi.

Das Ziel seiner Wünsche ... seiner Träume ... seiner Mühen?

Ja! Er hatte dieses Ziel erreicht.

Als er bis zum Gartenzaun kam, schlug drinnen im Haus der Hund an.

Bambi scheint am Boden zu wurzeln; er ist fluchtbereit, jeder Nerv horcht und überlegt; er prüft den Wind, der vom Hause her zu ihm weht.

Der Hund schweigt. Ein einziges Mal hat er aufgebellt, dann ist Stille.

Fürchterliches wittert Bambi; spürt deutlich, daß dort, wo der Hund ist, Er wohnt; spürt einen scharfen üblen Geruch und wittert dennoch, wittert aus allem ... Gurri.

Den widerlichen Geruch kann er nicht ertragen und nicht verstehen.

Aber Gurri atmet hier!

Mit einem Satz fliegt er über den Zaun ... federleicht.

»Gurri!!«

Sie schläft.

Abseits von dem ekelhaften Gestank liegt sie anmutig in sich verkauert.

Mit Erschütterung betrachtet sie Bambi.

»Gurri!!«

Sie hört ihn nicht.

Nun tritt er dicht zu ihr heran und stößt sie sanft in die Seite.

Jetzt erwacht sie, wird verwirrt, glaubt eine Erscheinung, ein Trugbild vor sich zu haben, wagt nicht, sich zu rühren.

»Ich bin's, mein Kind! Ich!«

Da schnellt sie empor.

»Vater, Vater!«

Anfangs ist sie ganz stimmlos.

Dann umtanzt sie ihn spielend, als gäbe es keinen Kummer mehr, als habe es nie welchen gegeben.

Er dreht und wendet sich im Kreise ihr zu, doch sie pfeilt wie närrisch, sie kreiselt wie toll durch den engen Raum.

Zwei große, golden schimmernde Augen blicken ihn an; hölzernes Klappen ertönt, und eine tiefe Bauchstimme spricht: »U–hu!«

»Wer ist das?« fragt Bambi entsetzt, »gib Antwort!«

Gurri kommt nun schwingenden Ganges heran: »Das ist mein Freund, Vater ...«

»Ein schöner Freund ...«

»Er war immer gut zu mir«, beteuert sie.

»Na, gut scheint er nicht zu sein«, wirft Bambi hin.

»Zu mir ist er gut«, wiederholte sie, »und er ist arm; er ist gefangen wie ich ...«

»Bist du an die Gefangenschaft schon so gewöhnt?« sagt Bambi ernst, »daß du jetzt schläfst, während wir alle wach sind? Findest du, es geht dir gut?«

»Nimm mich mit, Vater«, fleht Gurri, »laß mich nicht hier! Nimm mich mit!«

»Deswegen bin ich da«, antwortet Bambi, »deswegen hab ich mir keine Ruhe gegönnt, deswegen habe ich dich gesucht ...«

»Geh'n wir, Vater, geh'n wir schnell! Ich will zur Mutter! Zu Geno! Zum Wald ... heim zum Wald!« Gurri hat rasende Eile.

»Du mußt da drüberspringen«, erwidert der Vater, »anders ist es unmöglich.«

»Sie wird es nicht können«, meldet sich der Uhu.

»Oh!« widerstreitet Gurri, »ich werde es können! Und ich werde frei sein!«

»Ich wünsche es dir, Kleine«, meint der Uhu, »aber das Zeug ist zu hoch für dich!«

Gurri nimmt einen Anlauf; doch ihr Springen bleibt ein ohnmächtiges Hopsen. Sie erreicht kaum die halbe Höhe des Drahtzaunes.

Wieder und wieder versucht sie.

Umsonst!

»Ja, wenn ich dir meine Flügel leihen könnte ... ich täte es sogleich ...«

Der Uhu breitet seine Fittiche.

Ermattet steht Gurri da, beschämt und verzagt. Sie keucht.

»Du mußt es lernen«, tröstet Bambi und ist selber entmutigt.

»Lernen ...«, sagt der Uhu, »lernen ... sie muß wachsen, und das braucht Zeit ... wenn ihr das überhaupt jemals gelingt ...«

Gurri schöpft sogleich wieder Hoffnung: »Warum soll es nicht gelingen?«

»Schwer ist es nicht«, ermuntert sie Bambi.

Ohne Anlauf springt er hinaus ins Freie.

»Vater!« Gurri ruft bang. »Vater, bleib noch bei mir!«

»Ich komme jede Nacht zu dir«, beschwichtigt Bambi, »wir wollen zusammen üben ... jede Nacht ...«

Er rennt fort, von plötzlicher Angst gejagt. Die Straße, die ihm so fremd ist, rennt er, bis er den Wald wieder um sich hat.

Dann schleicht er geräuschlos in die Büsche.

Sorge um Gurri bedrückt ihn.

Aufgeregt, schmerzzerrissen bleibt Gurri zurück. Ihre heiße Sehnsucht nach dem Wald, nach Freiheit, nach Mutter und Bruder erhebt sich stürmisch in ihr.

»Sei froh«, mahnt der Uhu, »du hast deinen Vater gesehen! Sei froh, er besucht dich jede Nacht.«

Aber Gurri ist jetzt gar nicht froh, sie hört nicht auf den Uhu; sie kann auch keinen Schlaf mehr finden und tobt herum.

Jedoch am frühen Morgen betritt Er den umgitterten Platz. Und gleich hat Er die Unruhe Gurris bemerkt.

»Was ist denn los mit dir?« murmelt Er, als Gurri mit allen Zeichen hilflosen Schreckens vor Ihm flieht, gescheucht wie in den ersten Tagen. Nun heftet sich Sein Blick zu Boden.

»Donnerwetter!« entfährt es Ihm, da Er Bambis Spur gewahrt, »Donnerwetter!«

Genau untersucht Er den Rasen.

»Ein Riesenbock!« flüstert Er, »ein Kapitaler! So einen hab ich noch keinen gesehen! Mein Lebtag nicht!«

Jetzt schreitet Er den Zaun entlang. »Aha!« ruft Er, »aha! Da ist der Bursche herein!« Und ein wenig später findet Er die Stelle, an der Bambi hinaussprang.

»Nein! So was!« staunt Er, schaut Gurri an und schüttelt den Kopf.

»Die ist doch viel zu jung. Außerdem ist jetzt nicht die Zeit! Ach was .. ich kann das gar nicht verstehen!«

Plötzlich wendet Er sich zu Gurri und lächelt sie an.

»Sie wollen dich holen! Und du möchtest zu ihnen, gelt, ja? Armes Ding, ich werde dich gewiß nicht halten. Man muß immer jedes Reh loslassen! Na, geh nur!«

Weit öffnet Er die Gittertür, öffnet das Hoftor, geht ins Haus und sagt für sich: »Das ist nicht anders. Man kann sie nicht aufziehen! Ein Bock wird stößig; eine Geiß verkommt. Sie sind Kinder des Waldes, müssen im Wald sein, alles andere wäre unnatürlich.«

Verblüfft steht Gurri da.

»Lauf doch!« redet der Uhu, »lauf, du Glückliche! Und denk in der Freiheit manchmal an mich!«

»Leb wohl!« Flüchtig, kaum hörbar, fast ohne Bewußtsein, antwortet das Gurri.

Dann fegt sie wie der Blitz hinaus. Sie ist berauscht, ist so sehr von Sinnen, daß sie die Lerche nicht singen hört. Eilend, des weiten Weges ungewohnt, taumelt sie zum Wald.

Das Lispeln der Blätter ist wieder um sie, der Tau fällt wieder in schweren Tropfen auf ihren Leib, vertraute Düfte wehen sie an, vertraute Vogelstimmen klingen ihr an die entzückten Lauscher.

Ein Freudensturm erfüllt sie. Doch sie kennt diese Gegend nicht, und sie weiß nicht, wohin sie sich wenden soll.

Zeichnung: Hans Bertle

»Gurri!!«

Sie fährt zusammen. Das ist der Vater.

In sprachlosem Staunen blicken sie einander an.

»Wie hast du das fertig gebracht?« fragt Bambi endlich, »diesen Sprung ...?«

»Ich bin nicht gesprungen«, antwortet Gurri lachend.

Sie berichtet rasch und kurz.

Auch Bambi lacht. Er versteht nichts von dem, was geschehen ist, doch er fühlt sich unendlich erleichtert.

Das Lachen des Vaters bezaubert Gurri.

»Wo ist die Mutter?« Sie fragt glücklich und harmlos.

»Komm!« sagt er.

Nun wandern sie lange auf fremden Pfaden.

Dann werden Büsche und Bäume von Gurri erkannt; jetzt strebt sie voraus und muß vom Vater zurückgehalten werden; schließlich gelangen sie an das Lager.

Faline ist schon wach und hoch geworden.

»Da sind wir, alle zwei«, spricht Bambi.

»Gurri ...!« sagt die Mutter leise.

»Mutter ...!« sagt Gurri.

Der schlafende Geno wird geweckt.

»Oh! Schwester!« ruft er.

Der Pirol schwingt sich eben durch die Luft und jauchzt: »Ich bin so froh!«

Das tut er ganz von selbst; in keinem Zusammenhang mit dem Schicksal der Rehfamilie. Er begeht seine eigenen Feste, die jeden Tag neu anfangen. Die Festlichkeiten des Daseins.

 

* * *

 


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