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Ein paar Wochen verstrichen.

Im Wald herrschte Ruhe.

Jene bedingte Ruhe, in der sich trotzdem manche Tragödie ereignete.

Die Eule fing Mäuse oder einen schlafenden Vogel.

Der Habicht schlug einen schwachen Hasen.

Ein Fuchs hatte sich wieder eingestellt. Man hörte nachts sein bellendes Jaffen. Zuweilen erbeutete er einen Fasan. Alle wußten es nun: ein Fuchs ist da!

Das waren aber bloß Zwischenfälle, gewöhnlich und gewohnter Art. Furchtbar einzig für das jeweilige Opfer.

Sie schafften im Augenblick etwas Erregung, aber keinen Aufruhr.

So mußte es sein, so war es immer gewesen.

Wie früher gingen die Fasane zu den Futterstellen.

Wie früher tummelten sich die Rehe, scharrten nach ein wenig grünem Zeug.

Wußten sie die Heuraufen oder die hingeschütteten Kastanien vom Hochwild frei, eilten sie zu der schmackhaften Mahlzeit, nahmen sie hastig ein und sättigten sich nach Möglichkeit.

Mildes Wetter schmolz den hohen Schnee bis zu einer dünnen Bodendecke.

Einfallender Frost wandelte das Schmelzwasser zu Glatteis.

Es splitterte, wenn man darauf trat, schnitt in die zarten Rehläufe, daß einige schmerzhaft bluteten.

Geno erhob großes Jammern.

Schweigend leckte Gurri eifrig ihre kleinen Wunden, die bald verheilten.

Es gab nun sonniges, heiteres Wetter.

An einem Morgen erschien Bambi.

Auch dieser Tag versprach schön zu werden.

Der wolkenlose Himmel, der erst nachtgrau war, blaßte allgemach, färbte sich hauchgrün.

»Heute wird nicht geschlafen«, sprach Bambi.

Er trug immer noch die stolze Krone, während viele andere Böcke ihre schon verloren hatten.

Wie stets sah er imposant aus, stand wie stets geheimnisvoll plötzlich da, überraschte und bezauberte durch seinen Anblick.

»Nicht schlafen?« erlaubte sich Geno schüchtern zu klagen. Für Geno war Schlafen jetzt eine Leidenschaft.

»Wie angenehm«, lächelte Gurri, »ich bin lieber wach!«

Faline flüsterte: »Kommt heute der große Schrecken?«

Bambi nickte: »Er kommt.«

Trotzdem die Eltern leise redeten, hatten die Kinder verstanden.

Von Geno wich im Nu jede Schläfrigkeit. Er bebte vor Angst.

Gurri blieb gefaßt und voll Neugierde.

War der Vater bei ihnen, konnte kein Unglück geschehen; an diesem Glauben hielt sie fest.

Tags zuvor hatte Bambi den Jäger beobachtet, der in bestimmten Zwischenräumen frisch geschnitzte Hölzer aufpflanzte. Die Plätze für die Schützen.

Ihren Zweck begriff Bambi nicht; doch was sie anzeigten, verstand er.

»Folgt mir!« gebot er jetzt.

Langsam schritt er voraus.

Dicht hinter ihm ging Geno, dann Faline. Zuletzt schlenderte Gurri, die tat, als wäre sie sorglos, indessen sie neugierige Gespanntheit erfüllte.

Von seinen Streifzügen, die er um Gurris willen unternommen, kannte Bambi das Ende des Waldes. Dorthin führte er nun die Seinen auf Wegen, auf verwachsenen Pfaden, die ihnen fremd waren.

Er mied die Straße zum Jägerhaus, mied das schmale Band, das sie in den Wald streckte.

Einzeln sollten sie sich niedertun, befahl er, sollten sich nicht rühren, und warten, bis er sie rief.

»Ich will nicht allein sein«, flehte Geno, »ich habe Angst ...«

»Fürchte dich nicht, mein Sohn«, redete ihm der Vater zu. »Fürchte dich nicht! Ich bin ja bei euch!«

Faline bat für ihn: »Darf Geno bei mir liegen? Er ist so schreckhaft. Man weiß nicht, was geschieht, und der Arme würde zu flüchten versuchen ...«

»Nichts wird geschehen«, beruhigte sie Bambi. Doch erlaubte er: »Leg dich also meinetwegen zur Mutter.«

Als er Gurri ihren Platz anwies, meinte sie, gehorsam niedergetan: »Wir hätten Tante Rolla und die Kinder mitnehmen sollen ...«

»Dummes kleines Ding«, antwortete der Vater und blickte sie zärtlich an, »das ist ganz unmöglich. Wir wären zu viele, und Er würde uns gleich bemerken ...«

»Ach so«, flüsterte Gurri und schmiegte sich an den Boden.

»Hebt das Haupt nicht ...«, rief Bambi zu Mutter und Sohn.

Sofort war er verschwunden.

Eine lange Zeit zog hin.

Lang und bang, wie es Geno dünkte.

Er wagte kein Wort zu flüstern.

Der Himmel wurde hellgelb, wurde orangefarben, erglühte feuerrot, und strahlend rein stieg die Sonne empor.

Die Rehe, die an der schneeigen Erde lagen, achteten nicht darauf.

Geno zitterte.

Gurri war voll Erwarten.

Und Faline quälte sich mit Sorgen.

Bambis Anordnungen verstand sie nicht, und sie fand keine Erklärung für das Unerklärliche.

Endlich, endlich scholl lauter Lärm von Menschenstimmen.

Der große Schrecken kam.

Ein furchtbarer Schwall von Witterung überflutete die Rehe, ein scharfer Brodem, der betäubte und erregte.

Diesmal war Er keineswegs allein, kam nicht als Einzelner wie sonst. Ein großer Trupp rückte an.

Geno wollte aufspringen und fortlaufen.

Die Mutter hielt ihn zurück. »Bezwinge dich! Sonst bist du verloren! Ich hab gerade so viel Angst wie du! Sei ganz still!«

Viele Meisen schwirrten über sie hin. Elstern schakerten wie verrückt. Zahlreiche Krähen entflogen feldwärts dem Wald.

Nun blieb Er stehen mit seiner ganzen Schar.

An die Schützen richtete Er eine kurze Ansprache.

Er sagte, was geschossen werden durfte; Er sagte, wie geschossen werden mußte. Er verbot, einige Geschöpfe zu erlegen, die Eulen, die Waldkäuze, besonders das Hochwild mußte geschont werden, denn ihm gebührte die Kugel und nicht das Schrot. Dann befahl Er Schweigen und Vorsicht.

Seine Stimme hatte für die Rehe etwas Entsetzliches.

Die Schützen betraten den Wald; die Treiber folgten ihnen und nahmen fast lautlos ihre Stellung ein.

Sie waren etwa vierzig Schritte von den Rehen entfernt; umzingelten dort das Gestrüpp eines Dickichts.

Die Luft wehte nun sacht vom Wald her; sie trug die verhaßte Witterung Welle nach Welle zu den Rehen.

Schritte, Schritte, Schritte! Mitunter leises Murmeln der grauenhaften Stimmen.

Es dauerte lange.

Schließlich tönte von ferne schon, aus dem Innern des Waldes, ein Trompetensignal.

Das Zeichen!

Ein zweiter Trompetenruf antwortete, nahe der liegenden Familie.

Augenblicklich brach der höllische Spektakel los.

Wüstes Getöse, Brüllen, Toben, Schreien, Lachen.

»Hohoho!! Hahaha!!«

Stöcke, an die Bäume geschlagen, krachten; in die dürren Büsche gehauen, zischten sie laut. Zweige knickten ächzend.

Immer das tobende »Hohoho!! Hahaha!!«

Immer wieder das Schreien: »Hinaus mit euch! Schaut, daß ihr weiterkommt!«

Dazwischen gellende Ausrufe: »Has! Has! Has!«

Oder: »Reh! Reh! Reh!«

Stampfen und Gröhlen: »Aufstehen!!! Aufstehen!! Verdammte Viecher!! Aufstehen! Faule Kerle!!«

Das galt den Fasanen, die wirr umherliefen, die nicht fliegen wollten.

Sie wußten warum.

Plötzliches Schwingenknattern, Flügelrauschen.

Zwei, fünf, zehn, zwanzig Fasane hatten sich in die Luft erhoben.

Zwanzig, dreißig Schüsse knallten ihnen nach.

Man hörte das dumpfe Bumbsen, wie die Getroffenen zu Boden stürzten.

Weiter dröhnte das erbitterte Hetzen.

Nur vereinzelt donnerten jetzt die Schüsse.

»Bravo!« klang eine Stimme, »der liegt!«

Dann Stille.

Die Treiber schwiegen.

Nach kurzer Weile noch ein Schuß.

Lachen.

Dazu der Ruf: »Der hat sich überschlagen!«

Und ein anderer fügte hinzu: »Wie ein Has!«

Pause.

Nur das Räderknarren des Leiterwagens war vernehmlich, der den Schützen nachfuhr.

Die Jagd entfernte sich.

Eine Weile später, die nicht so lange dauerte wie am Anfang, kam wieder der Trompetenstoß, der erste; gleich darauf der zweite, und sofort tobte das Brüllen von neuem los, schmetterten die Knüppel neuerdings an die Baumstämme.

Und das Gewehrfeuer krachte fast ununterbrochen.

Hier jedoch, wo Faline mit den Kindern lag, klang alles schon etwas schwächer.

Gurri hob das Haupt, rief der Mutter zu: »Wir sind hinter dem großen Schrecken!«

Faline entgegnete leise: »Mir scheint es auch so. Aber duck dich, mein Kind!«

Gurri duckte sich nicht; sie war begeistert: »Das hat der Vater gemacht. Absichtlich!«

Bambi stand vor ihr. »Gut erraten, Tochter!« sprach er, »ich glaube, es ist gelungen.«

»Vater ... du bist ...« Gurri wollte etwas Lobpreisendes sagen; sie verstummte befangen, schaute Bambi liebevoll in die Augen.

»Dürfen wir jetzt aufstehen?« fragte Geno.

»Wartet noch eine Weile. Bald bin ich wieder da.«

Bambi verschwand.

»Dieses Liegen«, murrte Geno.

»Sei zufrieden!« mahnte Faline, »du bist wirklich undankbar!«

»Ich kann nicht zufrieden sein, wenn mir Brust und Bauch kalt sind.«

»Geno! Halte doch aus! Ohne den Vater wären wir jetzt vielleicht schon alle tot.«

»Vielleicht ...«, war das einzige, das Geno in seiner augenblicklichen Verstimmtheit zugab.

Schüsse, die zu Salven anschwollen.

Gröhlendes Toben.

Wütiges Knüppeldreschen.

Schuß auf Schuß!

»Sie morden. Jeder Er mordet jetzt!« sprach Bambi, der plötzlich auftauchte.

»Vater ...«, wimmerte Geno, »... darf ich ...?«

»Ja, mein Sohn ...«, erlaubte Bambi, »werde hoch, Faline ... auch du, Gurri!«

Geno wollte emporspringen, was ihm nicht wunschgemäß glückte.

»Meine Glieder sind steif geworden«, beschwerte er sich.

»Mach dir nichts draus«, lächelte Bambi, »sie werden rasch wieder gelenkig.«

Er sah die verdrossene Miene Genos und wurde ernst.

»Denk dir, mein Sohn, du wärst dort drüben, mitten im großen Schrecken, mitten in Lebensgefahr ... möchtest du das lieber?«

Geno schüttelte sich. »O nein! Mir ist jetzt schon wohl!« Er trat heran und rieb das kleine Haupt an des Vaters Schulter. »Ich bin dir ja so dankbar! So dankbar! Nur ... ich kann's nicht sagen ... wie sehr ...«

»Gut, mein Kleiner ... ist nicht nötig ...«, Bambi lächelte zu ihm nieder.

Geno fühlte sich durch dieses Lächeln beglückt.

»Wie hast du dir diese wunderbare Rettung einfallen lassen?« Faline fragte ehrerbietig.

»Ah! Das ist eine lange Geschichte. Ich möchte sie eigentlich nicht erzählen ...« Bambi gedachte seiner vielen Erkundungsgänge, die er Gurris wegen unternommen hatte, und die ihm diese gründliche Ortskenntnis verschafften.

Von weit her lärmte das Brüllen und Stöckeschlagen.

Schüsse knallten, einer nach dem andern; zuweilen mehrere ineinander.

Jemand schrie: »Ein Fuchs! Ein Fuchs!«

Mehrfach wiederholte sich der Schrei: »Ein Fuchs! Achtgeben! Aufpassen, daß er nicht entwischt!«

Gewehrfeuer schwoll leidenschaftlich an; einzeln gar nicht mehr zu unterscheiden.

Der Jäger rief mit aller Kraft: »Nicht ins Treiben schießen!«

Antwort kam: »Getroffen! Er schweißt! Der Fuchs ist getroffen! Er liegt! Er liegt noch nicht! Er muß liegen!«

War jetzt die Jagd auch im Begriffe, sich mehr und mehr zu entfernen, verstanden Faline und die Kinder auch, daß sie in Sicherheit waren, so ergriff sie alle trotzdem immer wieder emporwallende Aufregung.

Die tobende Anwesenheit von Ihm hatte etwas Zermürbendes. Sie verstanden weder Seine Rede noch Sein Lärmen, hatten nur das Empfinden, Er tötet jetzt, Er mordet, und jeden Augenblick müssen Unschuldige sterben. Davon wurden sie im Tiefsten erschüttert.

Selbst Bambi konnte das Aufwühlende dieser Stunden nur mühsam durch scheinbare Gelassenheit verbergen.

»Siehst du, Faline«, sprach er, und in seiner Stimme war ein leises Beben, »siehst du, dieser große Schrecken ist mir lange schon unerträglicher Greuel! Verhaßt sind mir diese Ueberfälle, dieses Gehetztwerden! Ich hasse die raschen Entschlüsse, um durchzuschlüpfen! Davor wollte ich die Kinder bewahren, dich ...«, er lächelte ganz wenig, ... »und mich ...«

Die abendliche Dämmerung sank hernieder; sie bereitete der Jagd ein Ende, hüllte den Wald in Frieden.

Heute – eine große Seltenheit! – herrschte wirklicher Waldfrieden.

Niemand raubte. Niemand wurde verfolgt, angegriffen oder gar getötet.

Nach dem Wüten des Todes fing das Leben an, sich zu regen, befangen und mit nachwirkendem Bangen.

Alle waren erschöpft, eingeschüchtert, waren von den beständigen Gefahren hart mitgenommen. Sie wunderten sich, heil entronnen zu sein; fehlte ihnen gleich auch in diesem total ermüdeten Zustand die Kraft der Freude.

Es gab noch zahlreiche Verwundete. Es gab Krüppel und schwer Getroffene. Es gab welche, die unter Schmerzen mit dem Sterben kämpften, dem sie erlagen.

Bambi und die Seinen durchschritten Dickung nach Dickung.

Da saß ein Fasan, hielt den kleinen Kopf in die Höhe, drehte den metallisch schimmernden Hals nach allen Seiten, sperrte den Schnabel in stummer Pein.

Gurri lief zu ihm: »Was ist dir?«

»Oh!« erwiderte der Vogel, »nichts Besonderes. Nur, daß ich verloren bin. Nur, daß es am besten sein würde, ich wäre tot.«

»Sag doch, was dir geschehen ist.« Bambi war sehr sanft.

Der Fasan hatte keine Stimme mehr: »Meine beiden Ständer sind kaputt ... nie wieder kann ich laufen ... nie wieder mich an meinen Schlafbaum klammern ... nie ...«

Er fiel in Ohnmacht.

Bekümmert verließen sie ihn.

»Morgen findet Er ihn«, prophezeite Bambi, »ist er bis morgen nicht von selbst erledigt, beendigt Er mit der Feuerhand die Qual des Armen.«

Nun trafen sie Freund Hase.

Der kauerte trübselig am Boden, reckte eine Vorderpfote in die Höhe; Blut tropfte ihm herab.

»Freund Hase«, rief Faline, »auch du?«

»Ja«, seufzte der Hase, »auch mich hat's erwischt ... es tut gräßlich weh! Oh, wie der Schmerz peinigt!«

»Aber du lebst!« sagte Gurri. »Der Schmerz vergeht!«

»Ob das wieder gut wird?« bangte der Hase.

»Sicherlich! Sei gewiß!« Gurri brachte das eifrig vor.

»Verstecke dich«, rief Bambi, »verstecke dich ... am besten dort irgendwo ...«, er wies ihn zum Waldessaum, woher er und die Seinigen gekommen waren.

Geno drängte: »Verstecke dich gleich! Warte nicht bis morgen!«

Der Hase richtete sich steil auf. »Ihr seid alle gesund? Was für ein Glück!«

»Bleibe versteckt, bis auch du gesund bist«, schmeichelte Gurri.

»Ich versuche es«, der Hase humpelte mit drei Pfoten fort, sank zusammen, raffte sich empor, hoppelte mühsam weiter.

Sie kamen von einer Dickung in die andere.

Ueberall fanden sie Verwundete, Sterbende, Tote.

Bambi geleitete sie vorbei an diesen Spuren Seiner Gegenwart.

So lange war Bambi noch nie bei ihnen geblieben.

Faline fürchtete, irgendeine bevorstehende Gefahr wäre die Ursache, daß sie nicht verlassen wurden. Bangigkeit stieg in ihr auf.

Gurri, die ein wenig seitwärts, ein wenig voraus trabte, erschauernd über die Opfer der mörderischen Veranstaltung, gefesselt durch den Anblick etlicher Fasane, die mit dem Tode rangen, stolperte beinahe.

Ein Rehbock lag vor ihr.

»Vater! Vater! Komm!«

Doch Bambi stand schon bei dem Kranken.

»Du bist's? Du, Rapo?« sprach er ihn an.

Der Rehbock hob sein Haupt ganz wenig. Seine Rosenstöcke schimmerten schiefergrau; die Krone hatte er ja abgeworfen. Er war ein hübscher Bursche.

Matt flüsterte Rapo: »Oh, mit mir ist's aus ...« Der Atem flog ihm hörbar. Blut rann ihm aus Nase und Aeser.

»So schlimm wird's nicht sein ...«, Bambi wollte ihm Mut zusprechen.

»Doch ...« Rapo spürte, wie sich das letzte ihm näherte, »... doch ... und ich bin noch jung ...«

Viele Schrotkörner hatten ihm die Lunge durchbohrt. Man sah die dunklen Punkte ihrer Einschlagstellen auf seinem Fell.

»Weil du noch jung bist, darfst du ...« Gurri verstummte.

Denn Rapo streckte sich, verlor das Bewußtsein und regte sich nicht mehr.

»Armer Bursche ... armer, lieber Bursche ...«, murmelte Bambi und schritt weiter.

Gurri trennte sich nur schwer von dem Leichnam.

Geno war außerstande, ihn überhaupt anzuschauen.

Eigentümliches Flattern erregte etwas weiter vorwärts ihre Aufmerksamkeit, ein wiederholter Flugversuch, der immer mißglückte.

»Was ist dir?« Gurri näherte sich dem Fasan, dem ein Fittich breit und lahm zur Seite hing, und der mit der anderen Schwinge die Luft schlug.

»Ich weiß gar nicht, was ich habe ...«, antwortete der Flügelwunde.

»Bist du verletzt?« erkundigte sich Bambi.

»Nein ... ich glaube nicht ...«

»Hast du Schmerzen?« Gurri empfand Erbarmen.

»Schmerzen? ... Nein ... oder doch ... zuweilen sticht es mich so sehr ...«, und der Ringelhahn deutete unter den getroffenen Flügel, den er nicht bewegen konnte.

»Dann wird es schon nicht arg sein«, ermunterte ihn Gurri. »Man darf sich nicht gleich so nachgeben!«

Doch der Fasan bedurfte keiner Ermunterung. »Wer sagt denn, daß es arg ist? Ich bin ganz gesund! Nur diese dumme Sache da ... ich verstehe das nicht ...«

Er flatterte, stieg kaum einen Meter empor, hing dabei schief in der Luft, fiel gleich wieder herunter.

»Rätselhaft ...!« Er war ärgerlich.

»Streng dich nicht an«, mahnte Faline.

»Ja!« rief Gurri, »ruh dich lang aus; dann vergeht's von selbst!« Sie fühlte sich von der Wahrheit ihrer Worte überzeugt.

»Vielleicht hast du recht«, meinte der Fasan, »ich werde mich also ausruhen. Wenn ich nur einen Baum erreichen könnte! Auf dem Baum würde ich schlafen!«

»Eine Nacht muß es auch am Boden gehen; probier es nur«, versicherte Gurri.

Als sie in die nächste Dickung kamen und der Lahmgeschossene sie nicht mehr hörte, sagte Bambi: »Der ist verloren ...«

Gurri hatte den zuversichtlichen Reden des Fasans getraut und erschrak: »Wieso ... verloren ...?«

»Den fängt der Hund, oder die Feuerhand macht ihn tot ...«

Inmitten eines unbewachsenen Flecks saß Rolla, aufrechten Leibes, das Haupt erhoben.

Der Schnee rund um sie zeigte ein wenig Blut.

Faline lief zu ihr. »Du Rolla, du? Hast dich ganz behaglich niedergetan?«

Melancholisch lachte Rolla. »Behaglich? Das wäre ja anders.«

»Steh auf, Tante, steh geschwind auf!« bat Gurri.

»Hah! Erst müßte ich aufstehen können, mein Kind ...«

»Fehlt dir etwas, Tante?« Geno fragte: »Blutest du?«

Rolla wies nach ihrer Keule: »Da hat's mich getroffen. Nur einen Ruck hab ich gespürt, nur einen!«

»Es ist kaum schwer ...«, sagte Bambi, der nah herantrat.

»Ich glaub auch nicht an eine schwere Verletzung«, Rolla lächelte schwach, »nur angenehm ist es gerade nicht ...«

»Wenn es überhaupt geschehen mußte«, Gurri machte immer solche Vorschläge, »sei'n wir doch froh, weil du bald wieder laufen wirst, Tante.«

»Du möchtest mir gerne helfen, liebe Kleine ...?«

»Ach ja«, Gurri seufzte, »von Herzen gerne!«

»Ich weiß, Kindchen, ich kenne dich ...«

Geno wollte eine Geschichte. »Wie ist dir das widerfahren?«

»Sehr einfach, mein Bester, sehr einfach! Wir sind bis zum Saum der Büsche gegangen ... hinter uns der große Schrecken tobt näher und näher ... wir haben hinaus müssen! Unbedingt! Also schicke ich die Kinder voran und sehe, daß sie heil über die Lichtung kommen. Viele Feuerhände donnern. Aber die Kinder sind glücklich durch!«

»Wahrhaftig ein Glück!« jubelte Gurri.

»Ich hab ihnen auch größte Schnelligkeit eingeschärft ... und ihre eigene Angst hat das übrige getan ...«

»War Lana sehr aufgeregt?« Gurri wollte das wissen.

»Lana? Ach, die trug alles noch annähernd gefaßt. Mein armer Boso dagegen gebärdete sich wie irrsinnig. Na, der Gute, der hat ja für seine Jugend genug erlebt!«

»Und du? Tante?« Geno wurde immer neugieriger.

»Ich? Natürlich bin ich galoppiert, so rasch ich konnte. Es ging auch gut, trotz der donnernden Feuerhände. Schon glaubte ich mich gerettet! Wieder einmal gerettet, denke ich, und ich will in die Dickung schlüpfen. Da spüre ich an meiner linken Seite einen Ruck und ein Brennen! Ich kann und kann nicht weiter, schleppe mich noch ein Stückchen, suche die Kinder, doch die sind nicht zu sehen. So sitze ich hier, sitze und warte, bis der Schmerz nachläßt ...«

»Große Schmerzen? Arme Tante!« Gurri redete vor den anderen.

»Na, ich werde aushalten ...«, sie schaute Faline an, »erinnerst du dich ... es ist nicht lange her ... da haben wir davon gesprochen, wie oft wir das überstanden haben. Ich bin damals so mutig gewesen. Aber wenn der große Schrecken da ist, nützt kein Mut!« Sie verbesserte sich, »eigentlich ... wir sind ja sehr mutig ... wenn auch sonst nie ... einzig im großen Schrecken sind wir's, müssen es sein ...«

»Glück müssen wir haben, nur Glück ...«, antwortete Faline.

»Du hast Glück gehabt! Du und die Deinigen!«

»Uns hat der Vater geführt!« berichtete Gurri stolz.

Eben wollte ihr Bambi ein Zeichen geben, zu schweigen, da strampelte Rolla, versuchte hoch zu werden, sank jedoch wieder zusammen.

»Wo sind meine Kinder?« ächzte sie, »ich muß meine Kinder ... ich muß sie finden ... meine schönen Kinder ... was mag ihnen zugestoßen sein?«

»Nichts ist ihnen zugestoßen«, erklärte Bambi, »du hast ja selbst gesehen, daß sie unverletzt durchkamen! Also sei nicht übertrieben und schone dich um der Kinder willen ...«

»Sie werden sich verirrt haben«, sagte Faline, »das ist kein Wunder an einem Tag wie heute ...«

»Und wahrscheinlich«, fiel Gurri ein, »wahrscheinlich sind sie sehr müde. Das wäre auch kein Wunder. Sei ruhig, Tante Rolla«, versprach sie munter, »wir finden Boso und Lana, wir werden ihnen sagen, wo du bist, und sie werden bald bei dir sein. Ganz gewiß!«

»Eilt euch!« drängte Rolla, »eilt euch! Bitte!«

Rasch gingen sie davon.

Gurri dachte bei sich: wir hätten sie doch mit uns nehmen sollen, heute früh!

Als hätte Bambi diesen Gedanken erraten, sprach er: »Es war unmöglich! Ganz unmöglich!«

Gurri verstand ihn, wie er sie verstanden hatte.

Beide redeten kein Wort mehr darüber.

Geno begehrte Auskunft: »Glaubst du, Vater, Tante Rolla wird sterben?«

»Gewiß nicht!« bekam er zur Antwort, »vielleicht wird sie ein wenig hinken ... auch das kann ihr erspart bleiben.«

Wieder ein toter Bock, wieder sterbende Fasane; tote Hasen, auf dem Rücken hingestreckt, zeigten die helle Wolle ihres Bauches.

Ein altes Reh mit ganz weißem Haupt zuckte im Auslöschen.

Sie gingen rasch vorüber.

»Da ist nichts mehr zu trösten«, murmelte Bambi trübselig.

Unter der Fülle des geschauten Jammers regte sich in ihnen die Abneigung, die sie stets gegen Ihn empfanden, regte sich stärker als sonst. Eines wirklichen Hasses unfähig, mengte sich in ihrem sanften Gemüt Widerwille, Angst und Grauen, Entsetzen und demütiges Ergeben vor einem Mächtigen, dem man zu entrinnen strebte, dem so viele zum Opfer fielen, gegen den es aber unmöglich blieb, zu kämpfen.

Was sie hier sahen, hatte Er getan.

Die ungeheure Kraft, die Er besaß, die blutige Herrschaft, die Er übte, wurde ihnen bewältigend klar.

Eine scharfe Witterung drang auf sie ein.

Scheu verhielten sie ihre Schritte. Angst befiel sie.

Das war der Fuchs! Ihr erbitterter, gefürchteter Feind!

Faline, Geno und Gurri schauten Bambi an.

Der ging nach kurzem Zögern vorwärts.

Augenblicklich folgte ihm Gurri.

Geno blieb mit Faline zurück.

Dort lag der Fuchs.

Eigentlich lag er nur sekundenlang still; dann wälzte er sich ungebärdig, schnappte nach seinen Flanken, als wollte er sich zerfleischen.

Ihn schüttelte hitziges Fieber.

Teilnehmend näherte sich Bambi; blieb jedoch in sicherer Entfernung.

Gurri wurde nur von dem Fuchsgeruch abgehalten, sonst wäre sie ganz nahe hingegangen.

»Leidest du sehr?« fragte sie.

Er fletschte grimmig die Zähne: »Freust du dich darüber?«

»Wie kannst du so schlecht von mir denken?« wehrte sich Gurri, »ich habe Erbarmen mit dir! Großes Erbarmen!«

»Das glaube ich nicht!« knirschte er, und weißer Schaum drang ihm aus dem Rachen, »das glaube ich nicht!«

Für Gurri war ein derartiger Zweifel unverständlich.

Der Fuchs biß wieder in seinen wunden Leib.

»Warum tust du das?« fragte Gurri erschüttert.

»Warum! Warum!« zischte er, »die Schmerzen peinigen mich ...«, er stöhnte, »... peinigen mich, und ich bin wütend!«

Er lag eine Weile ruhig, schaute sie mit glasigen Augen an: »Wäre ich nur gesund! ... dich würde ich gleich haben! Ohne Erbarmen!«

»Du bist aber nicht gesund«, antwortete Gurri unschuldig, »gar nicht gesund bist du, sondern sehr krank, du Armer!« Sie vergaß den Ueberfall von einst.

Der Fuchs wälzte sich wieder; seine Rute hing ihm schlaff am Leib, seine Ohren hatte er eng an den Kopf gepreßt: »Das hat Er mir getan! Elend hat Er mich gemacht! Er! Der Niederträchtige! Der Verhaßte! Ich hab zu meinem Bau wollen! Da bin ich von der Feuerhand geschlagen worden!«

Der Fiebernde tobte.

Unruhig bat Geno: »Vater ... ich möchte fort ...«

»Genug!« entschied Bambi, »genug! Wir gehen!«

Gurri gab ihr Gespräch mit dem ohnmächtigen Feind nur ungern auf.

Es hatte sie zu sehr gefesselt, mit dem sonst so Gefährlichen, jetzt aber Bedauernswerten zu reden. Sie wollte ihn noch manches fragen.

Etwas benommen von dem eklen Geruch überließen sie den Fuchs seinem Schicksal.

Der wälzte sich, schimpfte und war in seiner Verzweiflung ohne Maß. Aber merkbar wurde er schwächer.

»Bedrohen wird der uns wohl kaum mehr«, sagte Faline.

»Schwerlich«, meinte Bambi, »man kann's zwar nicht wissen, denn ein Fuchs ist sehr zäh ... aber für lange wird er keinen Angriff auf unsereins wagen ...«

»Falls er davonkommt«, Geno zeigte sich befriedigt.

Jetzt erkannten sie doch wieder, daß Er auch ein Befreier sein konnte. Sie überlegten nicht, warum und wieso Er sie von den gefürchteten Feinden erlöste. Doch ihr Empfinden gegen Ihn, das sich vorher verschärft hatte, wurde milder.

Als Bambi sie zu den Heuraufen führte, schwand die Abneigung völlig.

Nun fühlten sie alle, Er verdiene Dank, sogar Lob.

»Warum zauderst du?« wendete Faline sich zu Geno. »Sag, hast du wieder einmal ein Bedenken?«

Der flüsterte ängstlich: ».. wenn die Könige ...«

»Heute gibt es hier keine ...«, beruhigte ihn der Vater, »alle Könige sind heute weit fort von hier! Dem großen Schrecken sind sie ausgewichen! Erst in fünf, sechs Tagen kommen sie zurück. Bis dahin ist das hier euer Eigentum ...«

Sie spürten jetzt großen Hunger.

Geno stürzte als der erste herzu; fing behaglich zu schmausen an.

Faline achtete auf nichts mehr, stand neben Geno und hielt ein Festmahl.

Sogar daß Bambi verschwunden war, entging ihr.

Nur Gurri rief: »Wo ist der Vater?«

Weder Faline noch Geno antworteten. Sie waren zu eifrig mit der leckeren Speise beschäftigt.

Gurri sorgte sich: »Er muß doch hungrig sein ...!«

Lässig entgegnete Faline: »Der Vater wird schon essen; sei ganz ruhig. Er will allein bleiben. Das weißt du ja!«

Faline fühlte sich befreit, weil Bambi fort war; seine lange Anwesenheit hatte sie doch niedergedrückt.

Gurri spähte umher; richtig entdeckte sie Boso und Lana, die sich am Kleeheu gütlich taten. Eifrig sprang sie zu ihnen.

»Habt ihr eine Ahnung von eurer Mutter?«

»Nein«, entgegnete Lana, »wir warten hier ...«

»Warten nennt ihr das? Und eure Mutter ...?«

Boso unterbrach sie: »Zum Gruß, Gurri! Die Mutter muß bald kommen ...«

»Es ist ihre Sache, uns zu suchen ...«, fügte Lana hinzu.

»Besonders heute!« sagte Boso, »wir haben Schweres durchgemacht! Sie sollte uns nicht allein lassen.«

»Unverständlich«, murrte Lana, »wo sie so lange bleibt. Heute müßte sich die Mutter um uns kümmern!«

»Unverständlich seid ihr!« brach Gurri los, »eure Mutter wird nicht kommen!«

Boso fuhr entsetzt auf: »Ist sie tot?«

Lana weinte: »Mutter! Arme Mutter!«

»Tot ist sie nicht«, verkündete Gurri, »die Feuerhand hat sie getroffen. Sie kann nicht gehen! Ihr schlemmt da gemütlich, während eure Mutter Schmerzen leidet und um euch bangt!«

»Wo liegt sie?« Lana war voll Ungeduld.

»Wir müssen gleich zu ihr!« beschloß Boso.

»Jawohl! Das müßt ihr! Längst hättet ihr das müssen!«

Gurri erklärte ihnen den Weg.

Sie rannten fort.

Nun erst gönnte sich Gurri ein paar Bissen.

»Zu denken«, sprach sie dabei, »daß so viele sich in Qualen winden, und daß wir hier einfach genießen ...«

»Wie viele sind tot, sind heute weggeschafft worden ... man weiß gar nicht wie viele ...«, erinnerte sich Geno, gesättigt und von oberflächlichem Mitleid berührt.

»Am besten nicht daran denken!« riet Faline.

»Ich kann mich nicht damit abfinden«, antwortete Gurri, »daß Seine Gewalt regiert, daß die einen ihr zum Opfer fallen, die anderen zufällig verschont bleiben und inzwischen schwelgen, bis sie auch drankommen.«

Zeichnung: Hans Bertle

»Du wirst das nicht ändern, mein Kind«, sagte Faline, »so ist es im Wald, und du mußt dich dreinfügen ... denn so ist es eben ...«

»Ueberzeugend klingt das nicht«, entgegnete Gurri.

»Die Wirklichkeit überzeugt«, schloß Faline, »die Wirklichkeit braucht gar keine Beweise und keine Gründe ... so ist es! Das sind ihre wahren Beweise!«

 

* * *

 


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