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Die Nächte wurden kühl.

An den Wipfeln begann das Laub sich allmählich zu färben. Goldgelb, tiefbraun, kupferrot. Das ging so nach und nach.

Manche Blätter fielen ab, kreiselten durch die Luft, ehe sie zu Boden sanken.

»Die Blätter werden lebendig ...«, meinte Geno.

»Im Gegenteil; sie sterben ...«, klärte ihn Faline auf.

Das Grün der Bäume und Sträucher wurde immer geringer; der Wald leuchtete in vielen Farben.

Es gab keinen Tau mehr. Aber vor Tag, wenn die Rehe ihre Schlummerstätten suchten, lag ein feiner, schneeweißer Reif auf Wiesen und Blößen.

Die Vögel hatten ihr Singen eingestellt.

Selbst die Amseln ließen sich nur ganz kurz vernehmen.

Der Pirol war nicht zu sehen.

Der Kuckuck längst verschwunden.

Nichts konnte man hören als das Schakern der Elstern, das Kreischen der Häher, das Wispern der Meisen und das Krächzen der Krähen. Gleichsam schüchtern trommelte zuweilen der Specht, doch er lachte kein einziges Mal.

Am Morgen klang das berstende Gocken der Fasane, die, erwacht, von ihren Schlafbäumen geräuschvoll zur Erde flatterten.

Des Nachts aber zogen große Vögel mit lang ausgestreckten Hälsen in mäßiger Höhe dahin. Sie waren grau wie die Wolken, die nun zumeist den Himmel bedeckten. Diese Vögel flogen in einer sonderbaren Ordnung.

Voran ein Führer, dem die übrigen derart folgten, daß ihre Schar das Bild gespreizter Schenkel in die Luft zeichnete.

Dieses Bild blieb sich immer gleich. Immer flog ein Vogel schräg hinter dem anderen; immer zeichneten sie in ihrer Gesamtheit die ausgespreizten Schenkel.

Sie stießen Schreie aus, wild, seltsam, erregend.

»Wer sind die dort oben?« begehrte Geno zu wissen.

»Vorboten der Kälte und des Winters«, antwortete Faline.

»Kennst du sie, Mutter?«

»Nein! Niemand kennt sie; niemand weiß etwas von ihnen; nur daß sie Vorboten sind, kann ich sagen, mehr nicht. Sie leben abgeschlossen für sich, halten so streng an ihren Gewohnheiten wie an ihrer eigentümlichen Art, zu fliegen.«

Faline konnte von den Wildgänsen freilich nichts wissen.

Sie ahnte nicht, daß dieser Vogel aus dem Norden kommt, sobald dort der grimme Winter anfängt; daß die Wildgänse wärmere Gegenden suchen und daß sie die scheuesten aller scheuen Geschöpfe sind.

»Mich bezaubert ihr Schreien!« rief Gurri.

»Warum denn?« staunte Geno.

»Hör doch!« sagte Gurri entzückt, »hör, wie stolz diese Stimmen klingen! Wie furchtlos! Wie herausfordernd, wie erfüllt von Freiheit dieser Ruf ist!«

Geno lauschte und wurde gleichfalls erregt. »Man möchte Schwingen haben«, gestand er, »und möchte mit ihnen fliegen ...«

»Ach ja!« Gurri lachte, »Schwingen ... die wünsche ich mir lange! Und am stärksten jetzt, wenn die fremden Vögel rufen.«

Häufig trafen sie nun Hirsche. Selbst am Tage schlenderte das Hochwild umher. Einmal spazierte ein mächtiger Hirsch durch den Schlafplatz der Rehe.

Er hielt das gekrönte Haupt am Boden, witterte eifrig und beachtete die erschreckte Familie überhaupt nicht.

Die Angstlaute, die Faline nicht unterdrücken konnte, schienen den Hirsch nicht zu stören.

Gurri wußte stets, wenn einer sich näherte. Sie brauchte seine Witterung gar nicht, die immer intensiver wurde; das Anschlagen des Geweihes an die Bäume, dieses eigentümliche, sanfte und dennoch weithin tönende Klappern verriet das Kommen des königlichen Riesen.

Sie konnte die Mutter und Geno rechtzeitig bewegen, fortzulaufen, konnte selber der Begegnung ausweichen oder je nach Laune wagen, zu bleiben und die Gefürchteten anzuschauen.

Auch weibliches Hochwild tauchte viel öfter auf als sonst; einzeln, gerudelt, aber Faline unterließ niemals ihr langgedehntes endloses Bah – ooh!

Eines Frühmorgens, dessen Dämmerung milchiger, dichter Nebel umdüsterte, erschien Bambi. In diesem Nebel nahm er sich weit größer aus und war nur undeutlich zu sehen.

Er sprach: »Kinder, jetzt ist die Zeit der Könige da! Faline, du kennst das schon. Doch du hast solche Angst, daß du dich um die Kinder wohl nicht allzusehr kümmern wirst ...«

Faline sagte leise: »Ich kämpfe wider diese Angst. Es ist vergeblich. Sie überwältigt mich.«

»Merkt auf, Kinder«, redete Bambi weiter, »die Könige gebieten im Wald. Sonst merkt man nicht viel davon. Aber jetzt üben sie ihre Herrschaft mit Strenge! Versteht ihr mich?«

»Ja, Vater ...«, entgegnete Geno.

Gurri schwieg; sie antwortete nur mit den Augen.

»Meidet die Könige jetzt mehr noch als früher«, forderte Bambi, »geht ihnen bescheiden aus dem Weg. Denn jetzt werden sie rasch böse, und man weiß nie, wodurch sie in Zorn geraten. Wenn sie aber zornig sind, können sie sogar gefährlicher sein als Er! Am besten, ihr flüchtet, sobald ihr sie erblickt oder wenn ihr sie nur wittert ...«

»Oh! Ich will flüchten!« versicherte Geno.

Gurri redete keinen Ton und lächelte.

»Sie haben ihre Plätze, die Könige«, fuhr Bambi fort, »da toben sie, von den Königinnen umgeben. Manchmal kämpfen sie um einen Platz. Dann sind sie am wütigsten. Ueberhaupt, wenn ihre gewaltigen Stimmen laut werden, ist ihre Nähe verderblich. Laßt euch nie von der Neugier verleiten, an solch einen Platz zu gehen.«

»Ich bin gar nicht neugierig«, beteuerte Geno.

Faline hatte aufmerksam zugehört. Bambi verschwand.

Ganz unerwartet lachte Gurri.

Der Nebel hatte Bambi eingehüllt, hatte ihn entrückt, der stets so geheimnisvoll zu entgleiten wußte, diesmal aber noch geheimnisvoller den Blicken der Seinigen entglitt.

Kaum strichen ein paar Tage, ein paar Nächte vorüber, als man da und dort einen kurzen Brummlaut vernahm: »Mmöh ...« Sonst nichts. Dann wieder von wo anders her »Mmöh ...!« Und aus.

»Das sind die Könige«, zitterte Geno, »sie brüllen schon ...«

»Na«, meinte Gurri munter, »erschreckend ist das nicht ...«

»Warte, Kind«, sagte Faline, »warte, bis sie richtig brüllen ... dann wird dir anders zu Mute sein.«

Und es wurde Gurri anders zu Mute als je zuvor, da der erste wirkliche Brunftschrei erklang.

Ein gewaltiges Stöhnen war das zu Anfang, hervorgeholt, hervordringend aus Urtiefen einer mächtigen Brust. Dann brach dieses Stöhnen breit entzwei, wuchs in ein wildes Schreien, endigte wie erschöpft mit wenigen sehnsüchtigen Riesenseufzern.

Faline und Geno ergriffen die Flucht, sprangen blindlings ins Dickicht.

Gurri erstarrte. Kalte Schauer durchrieselten sie, und ihr Herz pochte gleich einem Hammerwerk.

Da zerriß von der anderen Seite her ein zweiter Schrei die Luft. Gebieterischer Donner, verlangend, durstig.

Noch immer stand Gurri fluchtbereit und zugleich gebannt.

Wieder schallte, noch etwas weiter, ein dritter Schrei. Ein majestätisches Dröhnen, ein abgründiger Baß, der in etwas höherer Tonlage zerbarst.

Sie wurde von der seltsamen Beredsamkeit dieser ungeheuren Stimmen ergriffen, die kleine Gurri, sie lauschte wie ein Menschenkind, dem man zum erstenmal eine Heldensage erzählt.

Seltsames, nie gefühltes Ahnen regte sich in ihr. Sie war berauscht und doch bei klarer Besinnung. Sie wußte, was sich hier begab, lag endlos fern von ihren eigenen Möglichkeiten; trotzdem fühlte sie sich allem Gehörten untrennbar verstrickt.

Draußen auf der dämmernden Wiese zog ein König daher. Unaufhörlich orgelte, dröhnte, donnerte er mit ganz kurzen Pausen.

Gurri konnte es nicht aushalten; sie mußte ihn sehen. Zögernd, ängstlich, lautlos trat sie nahe an den Rand der Sträucher, die sie deckten.

Und sie sah ihn.

Schritt vor Schritt ging er, den bemähnten Hals vorgestreckt, das Haupt ein wenig gehoben, so daß die Krone den Rücken streifte.

Mit der Stimme, mit dieser gewaltigen Stimme entfuhr ihm sein Atem; schwebte in der kalten Luft gleich Wolken, als hätte sich sein brüllendes Stöhnen in sichtbare Gestalt verwandelt.

Faline rief: »Gurri! Gurri!«

»Ja, Mutter ... ich komme!«

Sie sprang zu Faline und Geno.

»Gurri«, mahnte Faline, »bist du ungehorsam? Vergißt du die Warnungen des Vaters?«

»Nein, gewiß nicht«, Gurri zitterte noch vor Erregtheit, »... gewiß nicht! Nur die Könige sind ...«, aber sie sprach es nicht aus.

Inmitten einer kleinen Blöße hatte ein starker Hirsch fünf Hirschkühe zusammengetrieben, bewachte sie liebend nach seiner rauhen Art, schrie gewaltig, bald voll Begehren, bald, wenn er Verrat spürte, grimmig vor Zorn.

Ringsum in den Gebüschen lauerten zwei, drei schwache, junge Hirsche, dem mächtigen Pascha die eine oder andere Gattin abspenstig zu machen.

Die Damen, besonders die koketten unter ihnen, ließen sich gerne verführen oder stellten sich doch so an, weil sie damit ihren Gebieter reizten.

Merkte der Platzhirsch solch eine Durchstecherei, kannte er keinen Spaß.

Er sprang hinzu, trieb die Treulose zurück und schlug ihr sein Geweih etliche Male über Rücken und Flanken, wie man etwa mit der flachen Klinge zuhaut. Um zu strafen, keineswegs um zu verwunden.

Dann ließ er den Kampfruf erschallen.

Jetzt sah er durch das spärlicher gewordene Laub der Sträucher das Haupt eines Nebenbuhlers.

Sofort stürmte er gegen den Beihirsch los.

Die sechzehnzackige Krone tief gesenkt, schnaubend voll Wut fuhr er wie ein Ungewitter in die Dickung.

Blitzschnell nahm der Ertappte voll Angst Reißaus.

Es krachte, splitterte und rauschte nur so, wie er quer durch die Büsche brach und entwich.

Der Herrscher verfolgte ihn nicht; er kehrte zurück, und wieder donnerte sein Kampfruf.

Allein auch der Verscheuchte hielt auf seiner Flucht inne, horchte eine Weile und schlich wieder vorsichtig heran.

Gurri hatte dieses ernste Spiel belauscht. Nur undeutlich begriff sie, was vorging, doch sie wurde davon ganz gefangen.

Sie achtete trotzdem sorgsam auf ihre Sicherheit, wich dem geringsten der Könige ängstlich aus und barg sich, so gut sie konnte.

Ihr wurde es schwer, die scharfe Witterung, die den Königen entströmte, zu ertragen. Sie empfand im Anblick der Giganten ein Grauen, das, von Reiz und Bewunderung gewürzt, als Zauber wirkte.

So blieb ihre vorwitzige Neugierde den Königen verhaftet, und sie war fast nie zu finden, was die ängstliche Faline, den stets besorgten Geno nicht zur Ruhe kommen ließ.

Nun sollte Gurri das große Königsschauspiel erleben.

Jählings verstummte das donnernde Röhren des Herrschers, als wäre er aus Ueberraschung sprachlos geworden.

In das Hochzeitsgemach der Blöße trat ein zweiter König.

Ungebeten, unwillkommen, doch wie einer, der alle Rechte für sich fordern kann.

An Wuchs schien er dem bisherigen Machthaber gleich. Auch die Krone schimmerte, breit ausladend, mit ebenso vielen Zacken.

Ein paar Sekunden standen sich die beiden ohne Regung gegenüber, als wollte einer den andern messen.

Ihre Augen funkelten zornig.

Die Blicke des Eindringlings sprachen: Weg mit dir!

Die des anderen riefen: Wage es nicht, mich zu stören!

Gespannt betrachteten die Damen das Zusammentreffen. Ihre Mienen zeigten mitunter die Frage: Wem werden wir gehören?

Der Eindringling begann den Kampf, stürzte auf den Gegner los, der ihn erwartete. Mit gesenkten Kronen wollte jeder von ihnen die Schulter oder die Flanke des Feindes spießen. Jeder fand aber nur dessen bewaffnetes Haupt.

Stirn krachte an Stirn.

Die Geweihe klirrten ineinander.

Das benützten ein paar Beihirsche, um die Damen anzulocken und sich bei ihnen einzuschmeicheln.

Alle Kraft boten die zwei Kämpfer auf, den Rivalen zum Weichen zu bringen.

Sie hatten ihre Läufe in den Boden gerammt; ihre Muskeln spannten sich, daß die Adern anschwollen.

Blutunterlaufen waren ihre weitgeöffneten Augen, die nichts sahen als das verhaßte Antlitz, ganz nahe, bedrängend nahe vor sich.

So blieben sie eine Weile, Haupt an Haupt gepreßt, mit der ganzen Wucht beider Körper, von denen der eine sich am anderen erprobte. Laut keuchte ihr Atem.

Es sah beinahe aus wie Ruhe und wie Scherz. Dennoch war es ein wütender Kampf, methodisch und erbittert geführt.

Der Fremde, der gekommen war herauszufordern und zu erobern, zeigte sich ungeduldig oder versuchte eine Finte.

Er sprang zurück, weil er glaubte, der Platzhirsch werde nach vorwärts stolpern, wenn der schwere Druck, gegen den er sich schwer stemmte, unerwartet schwand.

Allein fest wie ein Steinbild blieb der Platzhirsch, vollführte eine kurze Drehung und bot dem Angreifer, der zum Seitenstoß ausholte, abermals das Haupt.

Wieder rangen sie Stirn gegen Stirn; keuchten noch lauter, waren noch erbitterter.

Da pflanzte der Platzhirsch die Vorderläufe tief in die Erde, nahm den Leib mit gespreizten Keulen eng zusammen, ruckte das Haupt schnell empor, und ein furchtbarer Hieb mit der Krone sauste gegen die Krone des anderen.

Der war, als die feindliche Stirn von ihm wich, etwas eingeknickt; der Hieb, der sein Geweih traf, summte ihm durch das Hirn. Ihm schwindelte es vor den Augen. Sofort schmetterte nun ein zweiter Streich ihm an die Krone.

Mit solcher Gewalt wurde dieser Schlag vollzogen, daß dem Eindringling ein großes Stück der Krone splitternd abbrach, ihm um die Nase tanzte und zu Boden fiel. Verwirrt, verblüfft, mit benebeltem Hirn ergriff der Besiegte jetzt die Flucht.

Wie ein gescheuchter Hase raste er davon, prasselte durch das Buschwerk und war weg.

Drohend ging ihm der Sieger einige Schritte nach, ließ sich jedoch auf keine Verfolgung ein.

Ihm genügte es, daß er seinen Besitz verteidigt, daß er den dreisten Einbruch zurückgewiesen hatte.

Majestätisch aufgerichtet schickte er seinen donnernden Triumphschrei in die Luft, stolz und umgeben von den Treuen wie von den Treulosen.

Erschauernd bewunderte ihn Gurri, verzagend und zitternd liebte sie ihn. Sie konnte nicht anders.

Was hatten die Ihrigen, was hatte sogar der Vater von der gefährlichen Bösartigkeit der Könige ihr erzählt?

Sie verbarg sich sorgfältig, sie entfloh, wenn sie in die Nähe eines der Riesen geriet.

Allein jetzt gab es überall Könige, gab überall Königinnen. War man noch so achtsam, unversehens traf man mit einem der Herrscher zusammen.

Doch keiner beachtete sie; keiner würdigte sie auch nur eines Blickes. Niemand verhielt den Schritt, um der Enteilenden nachzuschauen.

Gurri wurde kecker, wurde in ihrer vorwitzigen Schwärmerei weniger behutsam.

Sie kreuzte den Weg des besiegten Königs.

Mißlaunig, schleppenden Schrittes kam er einher. Ihm brummte der Schädel.

Als er das kleine Reh erblickte, flammte der Zorn wieder in ihm auf und wollte sich Luft machen.

Die verstümmelte Krone tief gesenkt, stürmte er gegen Gurri los.

Entsetzt floh Gurri; erinnerte sich der Art des Hasen, machte auf ihrer rasenden Flucht einen Haken um den anderen, glaubte sich verloren und gelobte in ihrer namenlosen Angst, von nun an den Weisungen des Vaters, den warnenden Reden der Mutter zu gehorchen.

Der Hirsch hatte jedoch sehr bald den Angriff aufgegeben. Er trollte weiter, zur Wiese, und begann unterwegs grollend zu röhren.

Von jener Blöße, aus der er vertrieben worden war, klang als Antwort der herausfordernde Donner des Platzhirschs.

Mit einem Male meldeten die Wächter: Gefahr!

Lautes Schakern der Elstern. Heftiges Kreischen des Hähers. Das Eichhörnchen turnte durch die Baumwipfel und geckerte.

Der Hirsch mit dem abgekämpften Geweih kümmerte sich nicht darum, schien überhaupt nichts zu hören.

Er zog weiter der Wiese zu, röhrte verbittert, nur einem einzigen Wunsch leidenschaftlich ergeben: Gefährtinnen finden! Sie vielleicht von einem schwächeren Nebenbuhler erringen!

Gurri machte halt.

Der Alarm, den die Wächter schlugen, reizte sie. Wem dieser Alarm galt, wußte sie sogleich. Dem bösen König, dem sie soeben entronnen war.

Sein sehnsüchtiges Brüllen, sein Vorwärtsschreiten trotz dem Alarm erregte ihren Uebermut, durchfuhr sie mit Bangen und Wagelust.

Vergessen waren die Ermahnungen von Vater und Mutter, vergessen die ausgestandene Bedrängnis, auch das Gelöbnis, das sie während ihrer Flucht geleistet hatte, war vergessen.

In sicherer Entfernung, von dem röhrenden König nicht gesehen, schlich sie zum Rand der Dickung, blieb innen, blieb unbemerkt und spähte hinaus zur Wiese.

Die Wächter zeterten nach Kräften; sie versuchten, das ungeheure Röhren zu übertönen.

Es half nichts.

Eine Elster flatterte geradezu ein Stückchen zur Wiese hinaus, wendete sich und setzte sich auf einen niederen Zweig. Beständig schakerte sie laut.

Umsonst.

Nun erschien auch noch am jenseitigen Wiesensaum eine Königin; näherte sich, stampfte seitwärts mit dem Vorderlauf und ließ den nasalen Laut erwartender Ungeduld hören.

Da trat der Hirsch hervor, brach wie ein Sturm ins Freie, verhielt einen Moment, um zu orgeln: Hier bin ich!

Dieser Moment genügte, ihn zu verderben.

Hell knallte ein Schuß.

Gurri sah, wie der König, vom Einschlagen der Kugel in die Höhe gerissen, mit allen vier Läufen emporsprang, sah, wie er dabei das gekrönte Haupt leicht senkte, wie seine Augen in irrem Fragen sich weiteten.

Zeichnung: Hans Bertle

Zwei mächtige Fluchten tat der Getroffene, schon bewußtlos und sterbend.

Dann stürzte er zusammen und regte sich nicht mehr.

Der Tod hatte ihn ereilt, ohne daß er wußte, was ihm widerfahren, ohne daß er ahnte, daß er aus dem Leben geschleudert worden war.

Erschüttert durch das Geschehnis lief Gurri tief in den Wald.

Eine Königin kam ihr entgegen, die bei ihrem Anblick wie entsetzt davonstob.

Trotz ihrer Verstörtheit konnte Gurri ein Lächeln nicht unterdrücken.

Da stand der Vater vor ihr.

Zerknirscht stammelte sie: »Verzeih ... bitte ... verzeih!«

»Du hast Glück gehabt, mein Kind«, sprach Bambi, »geh ... zu deiner Mutter ... sie ängstigt sich ...«

Geheimnisvoll wie stets verschwand er.

Kein Vorwurf war ihm entschlüpft, keine Wiederholung seiner Lehren.

Erleichtert, wenngleich beschämt, suchte Gurri den heimatlichen Lagerplatz.

Sie hatte von den Königen genug.

 

* * *

 


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