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Als Faline mit den Kindern wieder einmal schlafen ging, saß auf der kleinen Blöße, die sich im Dickicht öffnete, der Hase.

Er hielt das Haupt schräg empor, seine Schnurrhaare bebten unablässig, so stark witterte er beständig. Er sah kummervoll und nachdenklich aus.

»Zum Gruß, Freund Hase«, sprach ihn Faline an.

Er schnellte beide Löffel hoch. »Zum Gruß! Zum Gruß!« klang seine Antwort mit leiser gepreßter Stimme. Es war, als risse er sich aus seinen versorgten Gedanken und suchte Fassung zu erlangen.

»Das sind deine Kinder?« fragte er tief ergeben. Immer leise fügte er hinzu: »Schöne, gesunde Kinder.«

»Gefallen sie dir?« Faline vergnügte dieses Lob.

»Die jungen Herrschaften müssen jedem gefallen.« Der Hase ließ die Löffel sinken.

Geno und Gurri standen dabei und betrachteten den Hasen aufmerksam.

Der redete zu ihnen: »Nehmt euch nur in acht, meine Verehrten, daß euch nichts Böses geschieht. Auch ihr gehört zu den Guten, zu den Edlen, zu den Unschuldigen und gerade die werden immer verfolgt. Am meisten hütet euch vor dem grausamen Fuchs.« Der Hase war ergriffen. »Ihr dürft nicht beleidigt sein, weil ich euch warne. Ich sehe euch heute zum erstenmal.«

»Gehst du nie auf die Wiese?« mengte sich Faline ein.

»Du merkst«, entgegnete der Hase, »ich sitze hier ganz nah am Saum der Dickung. Ein Ruck und ich verschwinde. Mit der Wiese ist es vorbei. Ich traue mich nicht mehr hinauszugehen.«

»Deshalb habe ich dich so lange nicht getroffen.«

»Ach«, klagte der Hase, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe!«

Plötzlich schlug er die Löffel hoch, richtete sich steil auf, daß die kurzen Vorderbeine in der Luft tasteten und sein weißwolliger Bauch sichtbar wurde. »Hörst du nichts?« Er witterte leidenschaftlich, seine Schnurrhaare bebten heftig.

Faline warf das Haupt empor, breitete die Lauscher, zog prüfend den Atem ein: »Alles ist ruhig. Alles. Du bist gar zu ängstlich, Freund Hase.«

Geno hatte gleich der Mutter gelauscht und geschnuppert, denn er war erschrocken. Jetzt meinte er schüchtern: »Man kann nie zu ängstlich sein.«

»Klug gesprochen, mein junger Prinz, sehr klug«, stimmte der Hase zu. »Ich will dir erzählen, Faline, was mir passiert ist. Etwas Furchtbares! Mich hat der Fuchs überfallen! Wirklich, man weiß schon gar nicht mehr, wo man sitzen, wo man essen soll, nah am Rand des Gebüsches oder mitten in der Wiese. Du kennst mich, du weißt, wie vorsichtig ich bin; jedenfalls war ich nur zwei Hopser von der Dickung entfernt. Da, auf einmal stürzt der Räuber hervor, genau an der Stelle, wo ich herausgegangen war. Er ist sicherlich meiner Fährte gefolgt.«

»Wäre es nicht besser gewesen, weiter in die Wiese zu gehen?« fragte Faline.

»Das habe ich früher immer getan«, erklärte ihr der Hase, »und auch damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht. Einmal, es war schon fast hell, bin ich beinahe der großen Eule in die Fänge geraten, in die mörderischen Krallen. Drei Kinder hat sie mir vor meinen Augen weggeschnappt, drei reizende kleine Kinder. Dann wieder kam mir der spitznasige Schleicher ganz nahe, ohne daß ich ihn hörte. Himmel, bin ich gerannt, vor der Eule und vor dem Fuchs! Ich sage ja, man weiß nie, wo man sitzen und einen Bissen in Ruhe essen kann.«

Er richtete sich wieder mit hochgeschlagenen Löffeln kerzengerade auf, horchte und schnupperte.

»Keine Gefahr!« beschwichtigte Faline, nachdem sie und Geno gleichfalls geschnuppert hatten.

»Erzähle weiter«, bat Gurri voll Gespanntheit.

»Also, wie ich nahe an der Dickung saß, stürzt der rote Halunke hervor«, berichtete Freund Hase, »stürzt hervor mit gefletschten Zähnen. Ich sehe den grimmigen Rachen, die gierigen Augen; sein übler Geruch weht mich an, und zuerst faßt mich lähmendes Entsetzen. Aber ich mache ganz von selbst ein paar ratlose Sprünge in die Wiese. Er mir nach, dicht hinter mir. Ich halte mich für verloren und beginne zu laufen. Er immer hinter mir drein. Jetzt schlage ich scharf einen Haken; er rennt geradeaus, und ich gewinne endlich einen kleinen Vorsprung. Doch das nützt mir wenig. Er hetzt mich, hetzt mich, daß mir der Atem ausgeht und der Schädel hämmert. Drei Haken habe ich vollführt, bis ich das Dickicht erreichte. Mir schwirrt es vor den Augen. Renne, was du kannst, denke ich, es geht um dein Leben! Doch ich fühle, daß ich nicht mehr viel weiter kann. Dort in den Hartriegelbüschen drüben kenne ich eine Grube. Drauflos ohne Haken! Ich lasse mich hinunterfallen, liege erschöpft da, mit rasendem Herzklopfen, habe noch sein Keuchen im Gehör; ich zittere und erwarte mein Ende. Um nichts wäre ich imstande gewesen, mich zu regen. Mir ist alles gleichgültig, mag er kommen, sage ich zu mir. Doch er kommt nicht! Er kommt nicht! Langsam fasse ich das Glück, er kommt nicht! Wehrlos bin ich, und er ist stark; aber ich bin schneller als er, und ich habe ihn müde gemacht! Heute noch, wenn ich mich daran erinnere, schüttelt mich das Grauen.«

Der Hase schwieg, die Löffel eng an den Rücken geschmiegt.

»Deine Geschichte werde ich nie vergessen«, versicherte Geno erschüttert, um dann die Mutter zu drängen: »Komm endlich schlafen.«

Faline nahm Abschied: »Gesundes Wiedersehen, Freund Hase.«

»Ein Wunsch für uns alle«, erwiderte der trübselig.

Gurri blieb eine Sekunde zurück, beugte sich nieder, küßte die Stirne des Hasen und flüsterte: »Ich danke dir für deine Erzählung.«

Sie sprang davon.

»Möge dich der Fuchs nie erwischen, kleine Prinzessin«, rief ihr der Hase nach.

Mutter und Kinder begaben sich zur Ruhe.

Allein heute sollte noch mehr, sollte Wichtiges geschehen.

Etliche Stunden später war es. Die Sonne sandte schon heiße Strahlen durch das Laubgitter der Wipfel; die Blätter, die Kräuter, die reifenden Früchte dufteten unter der Sonnenglut; der harzige Geruch des warmen Holzes strömte scharf und kräftigend durch den Wald. Es schwatzten die Meisen, der Pirol schwang sein Jauchzen von Baum zu Baum, der Specht hämmerte und lachte gellend, die Elstern schakerten, der Häher kreischte, Finken, Rotkehlchen, Zeisige sangen ihre Lieder, dazwischen rief der Kuckuck, gurrten die Tauben.

Da wurde Faline mit eins hell wach, erhob sich und weckte die Kinder.

»Auf, Geno! Gurri, auf!«

»Was soll's?« Erschrocken stand Geno gleich auf seinen Läufen, fluchtbereit.

»Keine Gefahr!« herrschte Faline ihn an. »Der Vater ist da!«

»Der Vater!« rief Gurri; sie war noch ganz schlaftrunken, doch es riß sie empor.

Nun riefen beide sehnsüchtig: »Vater! Vater!«

»Wo bist du, Vater?« sagte Gurri zärtlich.

Und Geno fügte hinzu: »Wir sehen dich ja nicht ...«

»Still!« befahl die Mutter, »ihr dürft den Vater nicht anreden! Ihr müßt warten, ob er zu euch spricht! Seid nur bescheiden und schön geduldig ...!«

Sie wendete sich dorthin, wo das Gebüsch am undurchdringlichsten war: »Zum Gruß, Bambi!«

Eine tiefe Stimme antwortete: »Faline, zum Gruß!«

»Die Kinder wünschen sich's so sehr, daß du dich ihnen zeigst.«

»Wenn sie können, werden sie mich sehen.«

Vom Blattwerk verhängt, undeutlich war Bambis Haupt erschienen; stolze, ernste Züge, große, dunkel leuchtende Augen und eine mächtige Krone, die braun geperlt mit langen, hellen Zacken sein Haupt zierte.

Es dauerte eine Weile, bis Geno ganz leise sprach: »Ich sehe dich, Vater ...«

»Wo? Wo?« drängte Gurri, »ich finde dich nicht, Vater.«

Die tiefe Stimme klang: »Suche und schaue.« Dann redete sie weiter: »Sind die Kinder, wie sie sein sollen?«

Faline gab Bescheid: »Gut sind sie und brav. Nur Geno fürchtet sich zu viel.«

»Recht, mein Sohn«, lobte ihn Bambi, »so bleibst du lange am Leben.«

»Aber«, wandte Faline ein, »er bringt sich um das Vergnügen, das er haben soll, und er ist unfreundlich.«

»Zu dir? Oder zu seiner Schwester?«

»Oh nein, zu uns nicht! Doch zu den anderen.«

»Jetzt sehe ich dich, Vater!« rief Gurri glücklich und ganz ohne Scheu, »jetzt sehe ich dich!«

»Mein kleiner Geno«, sprach Bambi, »es ist recht von dir, wenn du vorsichtig, wenn du furchtsam bist. Das gehört zu unserer Art. Einstweilen bin ich zufrieden mit dir. Du wirst jedoch lernen müssen, Achtsamkeit mit Frohsinn zu vereinen. Du wirst es später von mir lernen. Dann wird sich deine Furcht vermindern, deine Laune wird sich aufhellen, und du wirst allen Waldgenossen so liebenswürdig begegnen, wie es sich für unsereinen geziemt. Bis dahin vertraue deiner Mutter.«

»Ich bin zu allen im Walde sehr nett«, pries Gurri sich naiv an, »ich verlasse mich auf die Mutter, und ich habe immer frohe Laune.«

Bambi antwortete ihr nicht. »Faline«, ermahnte er, »die Kleine ist leichten Sinnes, du mußt sie sehr hüten.«

»Vater«, bat Gurri, »Vater!«

Nichts regte sich.

»Vater!« flehte Gurri noch einmal, scheu und leise.

»Er ist fort«, sagte Faline.

Die drei, Mutter und Kinder, horchten, angespannt mit regen Lauschern in das Dickicht.

»Fort«, wiederholte Faline nach einer Weile abschließend.

»Wann kommt er zu uns?« Gurri begehrte Auskunft.

»Bald«, tröstete die Mutter, »schlafen wir jetzt.« Sie tat sich nieder.

Gurri legte sich an ihre Seite und versank sofort in Schlummer.

Nur Geno blieb noch stehen, eifrig horchend. »Unbegreiflich!« bewunderte er den Verschwundenen, »unbegreiflich! Nichts war zu hören! Nichts! So lautlos ist der Vater weg! Von ihm kann man lernen. Von keinem als von ihm!«

Aber Faline und Gurri vernahmen Geno nicht mehr. Da streckte auch er sich hin, doch er fand lange keinen Schlaf.

 

* * *

 


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