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Eines Nachts, knapp vor Tagesanbruch, hatte Faline mit den Kindern gerade ihre Schlafstätte erreicht. Sie standen noch wach und unterhielten sich über das kühl-fremde Gebaren der anderen.

»Am schlimmsten ist Lana«, berichtete Gurri, »sie tut so, als ob ich sie belästigen würde, und sie entschließt sich nur aus Gnade zu einer Antwort ... lange laß ich mir das nicht mehr gefallen.«

»Das letzte, was ich von Boso hörte«, meldete Geno, war: ›Gib mir Ruhe‹, seither antwortet er mir überhaupt nicht mehr.«

»Wir werden den Umgang mit ihnen einstellen! Fertig! Aus!« entschied Gurri.

Faline meinte: »Dann können wir allerdings nicht mehr auf die Wiese.«

»Ich hab die Wiese gern ... und ich will immer hinausgehen, so oft es mir paßt ...«, sprach Gurri.

»Aber ...«, wendete Faline ein, »es wäre doch peinlich ...«

»Wenn es jemandem peinlich ist, dann müssen es diese Herrschaften sein«, rief Gurri, »also sollen sie wegbleiben! Es ist meine Wiese!«

»Deine Wiese?«

»Jawohl! Meine Wiese! Niemand hat so viel Recht daran wie ich!« Gurri dachte, daß ihr Blut diesen Rasen genetzt hatte.

Faline und Geno mochten sich dessen gleichfalls erinnern, denn sie schwiegen.

Eben wollten sie sich niedertun, da stürmte Rolla zu ihnen herein.

»Ist Boso bei euch?«

Sie war außer sich.

»Habt ihr Boso gesehen?«

Lana stand neben ihr und schien wie betäubt.

Teilnehmend erkundigte sich Faline: »Ist er denn nicht bei dir geblieben, dein Boso?«

»Bei mir ...! Bei mir ...!« stammelte Rolla, »gewiß war er bei mir ... aber jetzt ... jetzt ... ist er fort ... jetzt ist er verschwunden, verloren ...!«

Gurri mengte sich ein: »Sage genau, Tante Rolla, wie ihr gegangen seid ... verzweifle nicht ... und besinne dich doch, Tante Rolla ...«

Gurris warmer Ton und daß sie zweimal ›Tante‹ gesagt hatte, stellte das Gefühl enger Zusammengehörigkeit wieder her.

»Sage Gurri alles, Mutter«, flüsterte Lana, »Gurri hat Erfahrung ...«

»Was soll ich ihr denn sagen ...?« Verwirrt gab Rolla einen verworrenen Bericht: »Wir sind ... wie gewöhnlich ... oh, ich danke dir, Gurri ... du willst uns helfen ... Boso macht gewöhnlich ... gewöhnlich macht er kleine Bogen durchs Buschwerk ... man muß ihm das gönnen ... weißt du ... so kleine Bogen..

»Wo hast du gemerkt, daß er fehlt?« erkundigte sich Gurri. Sie ahnte das Schlimmste und war hilfsbereit.

»Wo ich ...? Wo ...? Das ... weiß ich nicht ... nicht ganz ... ich erinnere mich nicht ... auf einmal war er nicht mehr da! Nicht mehr da! Mein Boso! Mein armer Boso!«

»Habt ihr nichts gehört?« forschte Gurri weiter, sie wendete sich auch an Lana, »keinen Sprung, wie wenn ein Fuchs ... kein Aufrauschen des Laubes?«

»Oh, Boso ...!« schluchzte Rolla.

»Nichts war zu hören ...«, sagte Lana.

»Kommt!« Frisch klang Gurris Stimme, »kommt und führt mich eueren Weg! Wir wollen ihn suchen! Wir werden ihn finden! Er muß noch da sein!«

»Er muß noch da sein ...«, wiederholte Rolla mechanisch.

Gurri war vorausgeschritten; später ging Rolla mit Faline an der Spitze.

»Verzage nicht«, tröstete Faline, »ich kenne deinen Schmerz und deine Sorgen ... ich habe das noch weit bitterer durchgelebt ... ich fühle mit dir! Aber verzage nicht. Es bleibt dir ja Hoffnung!«

»Hoffnung bleibt mir ...«, wimmerte Rolla, »... weiter nichts als Hoffnung ...«

»Das ist sehr viel, weißt du«, sagte Faline, »und Gurri meint, er muß noch da sein! Gurri ist klug!«

Sie wanderten die Pfade, die Rolla mit ihren Kindern zum Schlafplatz benutzte.

Dichtestes Gebüsch, hie und da durchkreuzt von Wechseln.

»War er hier noch bei euch?« fragte Gurri von Zeit zu Zeit.

Bald antwortete Rolla, bald Lana: »Ja!«

Auf eine neue Frage Gurris meinte Rolla: »Ja ... nein ... nein ...«

Und Lana meinte bestimmt: »Nein, nein!«

»Gehen wir jetzt nicht hintereinander«, ordnete Gurri an, »jetzt muß jeder von uns auf einem anderen Pfad spüren ...«

Sie zerstreuten sich, schritten langsam, horchten ängstlich, eines Unglücks gewärtig.

Jetzt hörte Gurri etwas.

Sie blieb stehen, einen Lauf erhoben, lauschte angestrengt.

Jetzt wieder!

Ein wildes Rütteln war das.

Der Busch, der gezerrt wurde, rauschte ganz kurz.

Dann eine Pause.

Und dann wieder dieses wilde, gewaltsame Rütteln, dieses kurze Rauschen.

Gurri hatte die Richtung; sie eilte hin.

Dort war ein alter, fast schon überwachsener Wechsel.

Boso hing dort in einer Schlinge.

Als er Gurri erblickte, zog und strampelte er und zappelte wie toll.

Ihm quollen die Augen aus dem Haupt; sein Atem keuchte und pfiff röchelnd.

Denn je heftiger er sich bewegte, desto mehr drosselte ihn die Schlinge.

»Boso!« redete ihm Gurri zu, »lieber, armer Boso ... rühr dich nicht ...«

Aber Boso machte dennoch verzweifelte Anstrengungen. Er konnte kein Wort hervorbringen.

»Halte dich ruhig, du Guter«, bat Gurri, »ganz ruhig halte dich, sonst wird es nur schlimmer ...!«

Als Boso still blieb, sagte sie: »Ich hole deine Mutter.«

Rolla kam mit den anderen auf Gurris Rufen herbei. Sie standen entsetzt um den fast schon Erwürgten.

Bosos Anblick war erschreckend.

Zu matt, zu sehr von Kräften, konnte er kein Glied mehr rühren. Seine Zunge schlappte aus dem Aeser, seine Augen stierten, ohne etwas zu sehen. Er schien in das Todesschicksal ergeben.

Rolla trat zu ihm, wusch ihm mit der Zunge das Gesicht, flüsterte zärtlich Trost und Ermutigung.

Auf Boso machte das keinen Eindruck.

»Was ist das?« fragte Faline erschüttert.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Gurri.

»Hat Er damit zu tun?« Geno stieß die Schwester an.

»Ich glaube kaum«, gab sie zurück, »das Ganze ist rätselhaft ...«

Lana hatte Tränen: »Wird Boso sterben?«

»Ich hoffe nein!« Gurri richtete durch ihre Meinung die Verzagten auf. Sie selber war sehr erregt. »Nur mit der Feuerhand tötet Er! Das hier scheint nicht gar so gefährlich!« Sie sagte das aus Mitleid; selber aber hatte sie Angst, Boso könne jeden Augenblick verscheiden.

Niemand kannte die Tücke der Schlinge; keiner hatte eine Ahnung von dem langsam qualvollen Sterben des Erstickens. Und alle glaubten an Gurri.

Boso zuckte.

Der geschüttelte Zweig neigte sich, rauschte laut.

»Du sollst still sein!« gebot Gurri.

»Still sein, Boso!«

»Still, mein Kind!«

»Hab Geduld!«

Sie redeten durcheinander.

Doch Boso hörte sie nicht mehr.

Da schlug allen plötzlich jene scharfe, aufwühlende Witterung um die Nase; weckte sogar den betäubten Boso.

Also doch Er!

Sie vernahmen das Knicken und Brechen der Aeste, wie Er achtlos durch die Büsche drang. Sie flüchteten.

»Mein Boso ist verloren!« jammerte Rolla, »mein unglückliches Kind ...!«

»Dein Boso wird leben«, sagte Gurri, obwohl sie selbst schwer in Sorge war, »bedenke doch, Tante, wenn Er morden will, gebraucht Er die Feuerhand!«

Aber Rolla jammerte weiter.

Das Rudel blieb nach einer Strecke stehen und hielt sich traurig beisammen. Keines dachte an Schlaf. Niemand sprach eine Silbe.

Nur Rolla wehklagte ununterbrochen um ihren Sohn.

Darauf fand Gurri keine Antwort mehr.

 

* * *

 


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