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Wertmaße und Grenzen

Was sich so an einem Einzelteil herausstellen kann: daß grade das Lebendigste, die Lebensspitze dran, nicht eindeutig fixiert werden konnte, sondern der scheinbar widersprechenden Nachtragungen bedarf, das macht sich auch fortwährend hinter der Gesamterörterung einer Sache geltend. Es macht beinah den Anspruch, die Maßstäbe und Abgrenzungen für sie von Zeit zu Zeit auch wieder zusammengeschoben und auf den Kopf gestellt zu sehn, das ursprüngliche Durcheinander hergestellt, worin sie noch nicht schön klar und übersichtlich war, aber dafür wirklichkeitsbunter. Insbesondre erscheint es notwendig, sich zu erinnern, wie sehr es sich speziell bei dem vorliegenden Thema um eine unlösbare Gesamtheit von Phänomenen handelt, von denen jeder einzelne Zug auf alle übrigen mitbezogen ist und auch die obersten Resultate immer wieder an das unterste anknüpfen müssen.

So darf man auch nicht vor dem Letzten, Höchsten stehn, was sich daran schildern läßt, ohne ihm ein sehr heiliges Recht zuzugestehn: sich niederzuneigen bis immer wieder zum Anfänglichsten noch zurück, – und um so tiefer nur, je höher es selber stieg. Als gliche es dem indischen Feigenbaum darin, der Erde Wunderbaum, dessen Astwerk seine hängenden Zweige zu Luftwurzeln umbildet, damit er, stets von neuem in ihnen den Boden berührend, lebende Tempel auf Tempel auf einanderzugliedern vermag, an denen jede einzelne Abzweigung wieder das nächsthöhere Astwerk säulenartig stützen muß, während über allem die Krone des Mutterstammes, des Stammes aus Einer Wurzel, im Sonnenlicht rauscht.

Schon in der Tierwelt durchschauen wir fast nichts an den Erscheinungen, die sich uns auch in ihren seelischen Äußerungen nur so physisch darbieten, und doch waltet im tiefen, kaum belichteten Dunkel dieser für uns untersten Naturtempel ein Leben, dem unsern vergleichbar. Nicht zufällig stoßen wir ja dort schon auf Entzückungen der Geschlechtsliebe bis zu den zartesten ästhetischen Äußerungen neben den brutalsten, nicht zufällig auf die opfermutigste Fürsorge füreinander und für die Brut. Sind uns doch sogar Papageien- und Affenarten (leider sollen es gerade die weniger menschenähnlichen sein!) in ihrer monogamischen Veranlagung ganz gründlich »über«, und müssen uns doch sowohl Bienen wie Ameisen ebenso verdrießend wie beschämend zu Musterbildern sozialen Instinkts werden, die wir nie auch nur im entferntesten erreichen können.

Einigermaßen ähnlich verhält es sich auch schon mit den stehngebliebenen Rassen, die zeitweise als Paradiesesmenschen angesehn, dann wieder als Antikulturelle mißachtet, trotz Roheit oder Grausamkeit ihrer oft ritual bedingten Sitten, uns daneben dennoch an mancher natürlichen Reinheit, Güte oder Treue übertreffen mögen. Wandelt doch gerade das sexuelle Erleben im wesentlichen das ab, was das primitive Geschöpf gleich uns ausmacht; ist doch, was am Menschen geliebt werden kann, Tiermaterial unter dem Einfluß sich steigernden Intellekts, und äußert dieser sich doch überall in zwei sehr verschieden wirkenden Richtungen: das gegebene Triebleben sublimierend oder – ruinierend.

Es ruinieren, würde hier heißen, das Sexuale unter hirnbegabten Wesen nicht ihnen entsprechend erleben, – nicht so, daß das Hirn der schließliche unwillkürliche Empfänger immer zusammenfassenderer Erregung ist, sondern selber ein künstlich mißbrauchender Erreger körperlicher Teilgenüsse. Die immer freiere Beweglichkeit des Instinktlebens, endlich die Sprengung der noch tierisch geregelten Brunstzeiten, würde von ihm benutzt, um es desto beliebiger zu zerstücken, zu vereinzelnen, es sozusagen wieder dem minder Belebten, oder Leblosen, anzuähnlichen, das sich zu Stückwerk aufbrauchen läßt anstatt immer voller empfundener Lebenseinheit, verstärkten, vermählenden Mitfühlens, erhöhter Gesamtbeteiligung. Der raffiniert gewordene Verstand, mit des Lebens Leben hantierend wie mit ihm unterstelltem totem Material, illustriert den Triebruin und die Geschlechtssünde.

Das Entgegengesetzte geschieht dem Intellekt im Sublimieren des Sexuellen: da übertreibt er die Steigerung des immer Belebtem vor sich selbst, indem er ihm bereits seine eignen geistigen Maßstäbe aufdrückt, die noch nirgends hin passen und ihn ins Illusionäre verführen. Für das praktische Verhalten entwickelt sich daraus ein beträchtlicher Leichtsinn. Denn in Wirklichkeit sind ja die Sexualtriebe den selben Gesetzen des Begehrens und der Sättigung, der abnehmenden Reizstärke durch Wiederholung, des draus folgenden Verlangens nach Wechsel, unterworfen, wie der ganze Bereich des Animalischen überhaupt. Man wende nicht ein, daß Individualisieren und Verfeinern der Triebe dies ändere: es individualisiert und verfeinert lediglich den Ablauf. Wo etwa vor Zeiten ein Eheherr auf Reisen ohne weiteres ein Ersatzweib für das seine schon dadurch fand, daß es der gleichen Sorte von Braunen oder Blonden, Dünnen oder Dicken glich, da unterscheiden wir jetzt oft bis auf das haarspaltend Äußerste: aber dafür sind wir so viel ständiger mit irgend etwas von uns »auf Reisen«, abwesend, einsam, suchend! Grade die Differenzierung erhöht das Bedürfnis nach so Verschiedenem in verschiedenen Zeiten und Menschen, und läßt den Variabilitätsdrang dadurch ebensowohl an- wie absteigen. Man soll deshalb der Erotik ruhig zugestehn, was sie schön und gefahrvoll macht! Ihr rasch ablaufendes, rasch erfüllbares Wunschleben hat mit Dauer selbst da nicht naturnotwendig zu tun, wo es von Intellekt und Seele noch so reich, stark und fein zu einem Fest des ganzen Menschen ausgestaltet worden ist: wohl aber geht ihre eigene Meinung naturnotwendig jedesmal dahin, daß es von diesem Fest nie ein Erwachen geben werde. Und hierin allein liegt, was ihren Leichtsinn erhebt, ja ihn unter Umständen jeder Größe beigesellen kann.

Zuständen, die hoch über das Mittelmaß hinausreichen, entschwindet das Zeitbewußtsein, die Vorstellung eines noch möglichen Nacheinander, infolge ihrer alles einheitlich und ungeheuer konzentrierenden Kraft; grade solche, sich an ihrer eignen Heftigkeit am allerraschesten verbrauchenden, deshalb vergänglichsten, Zustände sind infolgedessen wie von tiefer Ewigkeit umgeben, – und erst dieser von ihnen unabtrennbare, fast mystisch unter all dem übrigen wirkende, Akzent läßt ihr Glück selig, ihr Weh tragisch erscheinen. Zwei Menschen, die vollen Ernst machen mit diesem Vergänglich-Ewigsten, es als einzigen Maßstab an ihr Tun anlegen, keine Treue wollen als die ihres Seligseins aneinander, leben einer anbetungswürdigen Tollheit: wenn auch menschlich-schöner oft, als manche lange, echte Treue aussieht, die, unbewußt vielleicht, doch nur einer Verlustfurcht oder Lebensfurcht, einer Habgier oder Schwäche, entstammte. Sie bringen es mit allem Aufwand ihrer glühenden Farben zu einer halbfertigen Liebesskizze nur, aber mehr tiefstes Können und Vollenden kann sich darin aussprechen als in manchem ausgeführten Lebensgemälde. In solchen Fällen ist es geradezu, als sammle sich um den echten Liebesleichtsinn, angezogen von seinem kühnen Glauben, oft alles Große auch, jede Gesinnung der Zartheit und der Aufrichtigkeit, – die nur mehr eins noch fürchtet: ihre ureigene Ethik zu verletzen, weil alles, was außer ihr ist, unter ihr ist.

Die Tragik aber, daß der erotische Affekt sich wahnhaft überlebensgroßen Gesetzen unterstellt, äußert sich nicht bloß an seinem Vergänglichsein, sondern auch, sozusagen, am Zerrbild seines Ewigseinwollens. Denn wo sein Affekt- und Illusionscharakter nicht nachläßt, – oder vielmehr, wo es zu spät geschieht, – da wandelt er sich zu einer Krankheit der Überspannung dessen, was dem Wesen nach auf das nur Temporäre eingerichtet ist. Zu einer Art von Giftwirkung kondensiert, in den treibenden Kräften des Organismus isoliert, mit seinen Exzitantien gleichsam mechanisch, nicht mehr lebendig steigernd, wird er ein Gewaltstoff, Fremdstoff, den der Gesunde auszuscheiden sich bemüht, und sei es in dauerndem Fieber des Kampfes. Für das Affektive des Erotischen heißt die natürliche Fortentwicklung eben nicht: sich erhalten und retten quand même, vielmehr sich aufgeben, sich zurückgeben an den Kreislauf und Wechsel fließenden Lebens, dem es entstammt, – an das, wodurch es bis zum letzten Unkenntlichwerden aufgelöst wird, anonym mitverarbeitet zu souveränen Zwecken.

Wie das erotische Einanderbedürfen nur ins Seelisch-Sterile gesteigert würde durch weitere gegenseitige Vergottung, während es durch das Kind, im Dienst am ganz Primitiven, erst zum wirklichen Eingehn in das »andere« gelangen muß, und damit in das Leben: so verhält es sich auch dem Ganzen nach. Von den Höhen des Affekts aus, muß die Entwicklung, um weiterzugehen, wieder ganz unten einsetzen: in dem ihm scheinbar Entgegengesetztesten, von ihm Ablenkendsten, Absteigendsten, – im gemeinsamen Werktag am alltäglichen Leben.


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