Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der sexuelle Vorgang

In der Welt der – sehr verhältnismäßig – undifferenziertesten Lebewesen vollzieht sich der Begattungsakt durch eine an sich selber so ungegliederte, runde kleine Ganzheit, daß sie fast ein Sinnbild für diesen Tatbestand abgeben kann. In der Konjugation der Einzeller (die auch deren Selbstvermehrung noch von Zeit zu Zeit zugrunde zu liegen scheint) verschmelzen die beiden Zellkerne, das Neuwesen bildend, total miteinander, und nur Unwesentliches an der Peripherie der alten Zelle löst sich absterbend dabei auf: Zeugung, Kind, Tod und Unsterblichkeit fallen noch in eins zusammen. Noch läßt sich das Kind für sein Elterntier nehmen, das Nächstfolgende für das Vorhergehende, ungefähr wie ein Stück für ein anderes im Bereich dessen, was wir das »Unbelebte« nennen. Sobald mit dem Fortschritt der Organgliederung die Konjugation ihre Totalität einbüßt und nur noch partiell zustande kommen kann, klafft der Widerspruch aber in seiner ganzen Schärfe auf: was das Leben erhält, bedingt zugleich den Tod. Öfters so unmittelbar, daß beide Vorgänge doch noch wie ein und derselbe erscheinen, wenn auch sich vollziehend an zwei Wesen als an zwei Generationen. Wo endlich die Differenzierung im Einzelwesen noch unwiederholbarer weit geht, und die Erzeuger also keineswegs in ihrem Zeugungsprodukt tatsächlich überleben, scheidet der Tod aus dem unmittelbaren Bunde aus, indem das Tier sich nur noch indirekt mit seiner eigenen entwickelten Leiblichkeit am Geschlechtsvorgang beteiligt. Das heißt, indem es nur dasjenige von sich drangibt, was es selber schon erblich empfangen und nicht in seine Einzelentwicklung aufgesogen hat: das Geschlecht wird sozusagen unter dem Tisch weitergegeben.

Damit wäre der Prozeß am möglichst entgegengesetzten Ende seines Ausgangs angelangt, und der ganze Selbsterhaltungstrieb, der ursprünglich das Zellkernchen so zeugerisch-erfinderisch erscheinen läßt, hätte sich, gewissermaßen fast pervers, emanzipiert aus dem, was, ursprünglich ein anspruchlos Unwesentliches geblieben, an der Zellperipherie wegstarb. Aber von den Geschlechtszellen selber werden all diese großen Umwälzungen von Urzeiten her einfach ignoriert, grade als beherrschten sie nach wie vor das gesamte Lebensreich und nicht nur eine kleinste und immer noch mehr verkleinerte Einzelprovinz darin. Denn indem sich in ihnen alles zusammenfindet, woraus auch ein Individuum von dieser großen Differenziertheit sich wieder aufbauen kann, tragen sie nicht nur an sich selber noch unverändert den gleichen Totalitätcharakter, sondern prägen ihn auch ihrer temporären Einwirkung auf den Körper auf, der sie in sich beherbergt.

Aus solchen Einflüssen mag es wohl stammen, wenn grade die primitivste Verbindungsart zwischen Lebewesen, die Totalverschmelzung der Einzelligen, so wunderlich gleichnishaft dem entspricht, was sich in den höchsten Liebesträumen der Geist unter vollem Liebesglück vorstellen möchte. Und deshalb wohl fühlt Liebe sich so leicht umschwebt von einem Sehnen und Todesbangen, die sich voneinander kaum ganz klar unterscheiden lassen, – von etwas, wie einem Ur-Traum gleichsam: darin das eigene Selbst, der geliebte Mensch, und beider Kind noch eins sein können, und drei Namen nur für dieselbe Unsterblichkeit.

Andrerseits liegt hier der Grund für den Kontrast zwischen dem Gröbsten und dem Verklärtesten, der den Liebesdingen eignet, und bereits an Tieren humoristisch auffallen kann, wenn sie ihre sexuelle Notdurft zu verbinden imstande sind mit der empfindsamsten Hypnose. In der Menschenwelt bleibt es nicht immer beim Humor der Sache in diesen Schwankungen von derb zu übergefühlvoll. Ein dunkles Begreifen hiervon bedingt auch die spontane, tief instinktive Scham, die ganz junge unschuldige Menschen der geschlechtlichen Verbindung gegenüber fühlen können: eine Scham, die weder ihrer Unerfahrenheit noch gut gemeinten Moralreden verdankt wird, sondern dem Umstand, daß sie mit ihrem Liebesdrang die Ganzheit ihrer selbst meinten, und der Übergang von da zu einer körperlichen Teilhandlung sie verwirrt, – fast wie vor der heimlichen Anwesenheit eines Dritten, Fremden: eben des Körpers als einer Teilperson für sich, – so, als seien sie einander kurz zuvor noch, in der hilflosen Sprache ihrer Sehnsucht noch, beinahe näher, totaler, unvermittelter, nahe gewesen.

Das Sexuelle selbst strebt indessen Kontraste und Widersprüche möglichst in sich aufzulösen, mit denen es durch die Arbeitsteilung der Funktionen beirrt wird. Rastlos vergesellschaftet es sich allen Trieben, deren es irgend habhaft werden kann. Anfänglich vielleicht dem Freßtrieb am verwandtesten, der als ein frühest herausgebildeter sich ebenfalls noch auf alles bezog, läßt es ihn bald als schon zu spezialisierten hinter sich. Wenn heute noch Liebende versichern, daß sie einander vor Liebe auffressen möchten, oder wenn arge weibliche Spinnen es mit ihrem bedauernswerten kleinen Spinnerich noch wirklich tun, so findet ein so beängstigender Übergriff nicht vom Fressen aufs Lieben, sondern umgekehrt statt: das geschlechtliche Verlangen als die Totalkundgebung ist es, die alle gesonderten Organe in seine Aufregung mit hineinreißt. Das gelingt ihm auch ganz leicht. Stammen sie doch sämtlich, sozusagen, aus der gleichen Kinderstube wie die Bewohner der Sexualorgane, hätte doch schließlich jedes von ihnen »Geschlechtszellchen« spielen können, wenn nicht der Hochmutsteufel sie in eine so weitgehende Differenzierung hinein verstrickt hätte. Drum klingt die Erinnerung, womit das Sexuelle sich ihnen aufzudrängen weiß, mächtig in ihnen an, sie vergessen, wie herrlich weit sie es inzwischen gebracht, und hängen, mehr als es für ein richtiges, gebildetes Organ der höhern Tiergattungen statthaft ist, einer unvermuteten Sehnsucht nach der guten alten Zeit der ersten Bildungen und Scheidungen im Mutterei nach.

Auf einer solchen – auf menschlichem Gebiet würde man sagen: sentimentalen – Anwandlung von Rückständigkeit beruht die unendliche Allgemein-Erregung des Geschöpfes, die der geschlechtliche Vorgang auslöst. Und je mehr er selber im Laufe der Entwicklung gleichsam in die Ecke gedrückt, zu einem Sondervorgang wird, desto stärker nur wächst im selben Grade die Bedeutung seines Gesamteinflusses auf das übrige, denn was da stattfindet: das Ineinanderfließen zweier Wesen im erotischen Rausch, das ist nicht die einzige, und vielleicht nicht einmal die eigentliche Vereinigung dabei. Vor allem sind wir es selber, in denen alle Sonderleben Leibes und der Seele wieder einmal in gemeinsam empfundener Sehnsucht ineinanderflammen, anstatt so interesselos, gegenseitig kaum Notiz nehmend, für sich hinzuleben, wie Glieder einer großen Familie, die nur an Gedenktagen noch wissen, daß sie »Ein Fleisch und Blut« sind. Zu je komplizierter geartetem Organismen wir aufsteigen, desto größere Fest- und Jubeltage werden solche Erlebnisse naturgemäß sein, die unter dem Einfluß und Aufwand des Keimplasma, wie eines Großonkels aus Amerika, auf einmal alles alarmieren bis in die verborgensten Extrawinkel unseres Seins, zu einer prunkvollen Herkunfts- und Geschlechterfeier.

So sagt man auch mit gewissem Recht: Liebe beglücke immer, auch die unglückliche – wenn man nur diesen Ausspruch genügend unsentimental faßt, nämlich ohne Berücksichtigung des Partners. Denn obgleich wir von ihm sehr erfüllt zu sein scheinen, sind wir es doch namentlich von unserm eignen Zustand, der uns, als ein typisch berauschter, gar nicht recht fähig macht, uns, mit was es auch sei, sachlich zu befassen. Nur erregender Anlaß ist der geliebte Gegenstand dabei: nur so, wie ein Klang oder Duft von außen, ganze Welten wirkend, sich in einen nächtlichen Traum verfangen kann. Liebende schätzen ihre Zusammengehörigkeit auch ganz instinktiv nach diesem Einen ab: dem gegenseitigen geistig-leiblichen Produktivwerden in sich selbst, das sie aneinander konzentriert und entlastet in gleicher Weise, wie es im Liebesakt von Körper zu Körper geschieht. Werden sie statt dessen den verdächtigen Lobpreisungen des andern allzu sachlich zugänglich, so gibt es schnell den bekannten unsanften Sturz aus den Wolken der Verhimmelung, den jeder erfahrenere Mensch für alle Verliebten kopfschüttelnd vorauszusagen pflegt, und wobei die arme Liebestorheit, soeben noch mit Goldflittern zur Prinzessin herausgeschmückt, sich als Aschenbrödel wiederfindet. Im Flitterkleid vergaß sie, daß nur die Dankbarkeit für des andern eigene Wesensbeseligung es ihr umhing, ja daß vielleicht, unbewußt, sogar immer etwas dran hängt von überreichlichem Gutmachenwollen jener erotischen Selbstsucht, die nur sich selbst darin feierte. Und die dazu zwischen sich und den andern, wie einen goldnen Schatten, das unfaßbare Geistergebilde stellte, das erst den Mittler darstellt von ihr zu ihm.


 << zurück weiter >>