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Basis

Solche letzte Gleichbewertung, weit entfernt, den Außencharakter der Dinge zu unterschätzen, betont ihn vielmehr noch einmal neu in seiner Unabhängigkeit zwischen den ihm sonst zukommenden Ergänzungen. Sie erst lehrt ganz die vorurteilslose Einsicht in alle Verhältnisse des »Stofflichsten«, des Leiblichsten noch, – die sachliche Ehrfurcht ihnen gegenüber. Ehrfurcht in einer Bedeutung, für die wir immer noch längst nicht einfach und hingebend genug geworden sind: ohne alle Seitenblicke auf ethische, ästhetische, religiöse oder sonstige Nebenbedeutungen, – allein gerichtet auf den Sinn des Physischen selbst. Auf ihn gerichtet als auf die für uns anschaulich gewordene Seite unausdenkbar langer Erfahrungen, gleichsam Auskundschaftungen im Bereich des für uns Daseienden, die überall noch davon ablesbar ist, wie an Kampfesnarben oder Siegeszeichen. Als ob an solchem uralt, praktisch urweise Gewordenen, das unserer Prüfung ganz anders als das Geistige standhält, stillhält, die Lebensbewegung uns zu erstarren scheine zu festeren Zügen und Formen, so daß unser Intellekt selbst, dieser zuspätest Nachgeborene in der Welt des Physischen, als ein kleines, zartes und noch törichtes Knäblein mit tastenden Fingern an ihm herumklettern darf wie auf Urahns Schoß.

In bezug auf die Basis des Erotischen, die Geschlechtlichkeit, bedeutet dies deren immer eingehendere Feststellung im physiologischen Sinn. Die Sexualität als eine Form der Notdurft gleich Hunger, Durst oder sonstigen Äußerungen unsres Körperlebens, wird auch für die Einsicht in ihr weiteres Wesen und Wirken erst zugänglich auf solcher Grundlage. Und wie über unsre Nahrungs- oder andern Leibesbedürfnisse nur sorgsame Einzelerforschung und Tatsachenprüfung orientieren kann, so hat auch hier keine andre Richtschnur Gültigkeit als nur die eine, die wir auf ethischem Gebiet gern als die höchste zu feiern pflegen: der das Kleinste, Geringste, am niedrigsten Befundene, um nichts weniger beachtenswürdig erscheint als das mit allen menschlichen Würden Ausgestattete.

Ausschlaggebend dafür erscheint die, durch keinerlei unsachliche Rücksichten voreingenommene Abschätzung überhaupt, der sexuellen Betätigung wie Abstinenz. Wenn sie nach manchen Seiten immer noch unter die offenen Fragen gehört, so mag es unter anderm damit zusammenhängen, daß uns über die innern Sekretionen der Blutdrüsen sowie deren Verwandtschaft untereinander (die möglicherweise stellvertretender wirken kann als wir wissen) nicht im entferntesten so Genaues bekannt ist wie über die geschlechtlichen Außensekretionen; so daß wir nicht wirklich übersehn können, welchen Einflüssen von ihnen her wir unterstellt sein mögen auch da, wo die sexuelle Betätigung nach außen fortfällt (wie, im üblichsten Beispiel, bei Entfernung nur von Mutter oder Glied, nicht auch von Eierstöcken und Hodensäcken, die sekundären Geschlechtscharaktere nicht beeinflußt werden). Denkbar bliebe es ja, daß von diesem oder jenem andern ähnlichen Punkt aus, sich für die sexuelle Enthaltsamkeit einmal Schlüsse ergeben, die sie nicht bloß gesundheitlich statthaft, sondern wertvoll, – im Sinne des kraftsteigernden, weil kraftresorbierenden und -umsetzenden Wertes, – erscheinen lassen. Und viele Frauen werden es dann sein, die mit einem heimlichen Lächeln fühlen werden, daß sie davon längst etwas wußten, – sie, in denen die zwingende sexuelle Zucht aller christlichen Jahrhunderte, in manchen Schichten wenigstens, zu einer natürlichen Unabhängigkeit gegenüber der nackten Notdurft des Triebhaften geworden ist, – sie, die es sich heute deshalb noch dreimal, nein: zehntausendmal überlegen sollten, ehe sie eine ihnen persönlich schon fast mühelos in den Schoß fallende Frucht langen, harten Kulturringens, sich wieder entgleiten lassen für modernere Liebesfreiheit, denn sehr viel wenigere Generationen genügen zur Beraubung als zur Erwerbung.

Jedoch ganz gleicher Weise unbefangen gilt es, sich zu den andern Möglichkeiten zu stellen, die vor zu sorgloser Hintenansetzung des Geschlechtlichen warnen können. Zu den Fällen, die den Geschlechtsreiz erkennen lassen als den naturgemäßen Ersatz für die ungeheuren Stimulanzen, über die der wachsende kindliche Körper durch die ihm noch so neuen starken Außenreize im gesamten übrigen Sinnenleben verfügte. Zu den Fällen, die von jungen krankenden Menschen erzählen, denen das Erleben des Sexuellen, sogar ohne jeden eignen Antrieb dazu, zur Genesung wurde, oder von anämischen Mädchen, die selbst in unbegehrter Ehe aufblühten und erstarkten unter dem Einflusse des veränderten Gewebstonus und Stoffwechsels. Zu allen Fällen, wo die Gefahr evident wird, daß die innerste Lebenskraft zwischen Jugend und Alter durch ihre Aufstauung nicht wirksam würde zu fruchtbaren Umsetzungen, sondern, Leben hemmend und aufhaltend, sich zu einer Art von Giftwirkung konzentrierte. Und lassen sich selbst solchen Anzeichen auch andersgeartete gegenüberstellen, so muß man doch dran festhalten, wie oft die leibliche Hemmung den Menschen an seiner geistigen Leistungsfähigkeit, ja an seinem individuellsten Menschenwert Einbußen erleiden läßt.

Aus diesen Gründen muß jegliches, was zur nüchternsten Prüfung solcher Fragen beitragen kann, willkommen sein und muß sie behandeln können als ein Problem ganz für sich, ohne sich dabei dreinreden zu lassen, sei es von einem Vorwegidealisieren der leiblichen Notstände, wie es manchmal als modernisiertes »Griechentum« auf den Plan tritt, sei es von Ansprüchen der Erotik im engern Sinne. Denn auch dies ist zu betonen, wie wenig das heutige Streben nach Verfeinerung und Individualisierung der Liebesgefühle derartige Fragen durch sich selbst lösen kann. Darum bleibt es doch nicht minder anerkennenswert, und jede reine Kraft, die es fördern hilft, ein hoher Gewinn. Allein das steigend Subtile der Liebeswahl steigert zunächst natürlich nur noch die Schwierigkeiten ihrer eigenen Erfüllung. Unsere physiologische Reife wird ja nur höchst selten mit so ausnahmsweisen Seelenverfassungen zusammenfallen, und alle beide übrigens auch wieder fast ebenso selten mit der Geistes- und Charakterreife eines sich dauernd binden sollenden Menschen.

Überhaupt erweist sich die Vermischung aller möglichen praktischen Gesichtspunkte – hygienisch-romantisch-pädagogisch-utilitaristischer Art – insofern mißlich, als das rein Sachliche dabei stets vom einen an den andern ausgeliefert erscheint, ehe es noch recht zu Wort kommen konnte. So sieht sich etwa die physiologische Angelegenheit verfrüht spruchreif durch robuste Körperkultur-Ideale, oder umgekehrt durch zarte diskreditiert, diese wiederum, aus Furcht mit ihren robustem Kollegen verwechselt zu werden, sehn sich schnell in ein beschleunigtes Eheverfahren hineingeduckt, das nun seinerseits mit so vielen erleichternden Konzessionen bedacht werden muß, bis es selber sich recht verdächtig physiologisch begründet ausnimmt: womit es dann am Ausgangspunkt wieder glücklich angelangt wäre. Und so wird, um weder in einen frivolen noch in einen traditionellen Ton zu verfallen, wechselweise ein freier, schwärmerischer oder etwas muffig-philiströser angeschlagen; ungefähr wie in Vorzeiten abgesetzte Gottheiten zu Dämonen degradiert werden und niemand auf den Einfall kommen kann, soeben noch habe man an sie geglaubt: bis skeptischere Forschung herausfindet, daß auch in ihren Nachfolgern nur sie wieder auflebten. – Weshalb vielleicht einiges Absehn von ihrem jeweiligen Rang, sowie von sämtlichen Reformausblicken oder Kampfesrückblicken für eine unbefangene Betrachtung der Dinge ersprießlich ist.


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