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10. Kapitel.
Die Fregatte

Als das Boot vom Ufer abstieß, waren nur wenige Barken auf dem Fluß, die fast alle vom Süden, also vom Meere herkamen. Im Norden dagegen schwammen unzählige Leichen, die launenhaft gegen das Ufer trieben, an den zahlreichen Inseln und Inselchen hängen blieben, um dann ein Fraß der Tiger und Schakale zu werden. Die Thugs, stramme Burschen, mit allem vertraut und seit ihrer Kindheit ans Rudern gewöhnt, begannen taktmäßig mit kräftigen Schlägen zu rudern. Das Boot, ein schönes, festes Fahrzeug, eigens zum Wettlauf gebaut, schoß schnell dahin, indem es kaum das Wasser berührte.

Die Nacht war klar, von prächtigem Mondschein erleuchtet. Von Norden her wehte von Zeit zu Zeit eine frische Brise. Die Ufer, die wie am hellen Tage sichtbar waren, boten von Zeit zu Zeit prächtige Bilder. Einmal kamen stattliche Palmenwälder, majestätische Kokospalmen und Manghibäume. Dann Indigopflanzungen, Safran, Kunschutpflanzen und Jalappen. Dort wilde Büffelherden, gewaltige Tiere, die mehr als die Tiger gefürchtet werden und nicht zögern, auch ein Regiment bewaffneter Leute anzugreifen. Hier erschienen arme Flecken mit elenden Hütten, dort Dörfer mit eleganten Bengalows.

Eine halbe Stunde war schon vergangen, seitdem das Boot die kleine Bucht verlassen hatte, als auf dem rechten Flußufer eine Stimme rief: »Hollah! – Halt!«

Bei dieser barschen Aufforderung, die niemand erwartet hatte, da der Fluß leer war, erhob sich Tremal-Naik.

»Wer befiehlt uns, anzuhalten?« fragte er, um sich blickend. »Vielleicht ein Bruder?«

»Schau, da unten,« sagte einer der Ruderer, indem er nach dem Ufer wies. »Wir kommen am Bengalow des Kapitäns Macpherson vorüber.«

»Ob sie uns entdeckt haben?«

»Es scheint so. Die Schurken haben Verdacht geschöpft und bewachen den Fluß. Siehst du die Leute nicht auf der Terrasse?«

Tremal-Naik blickte zum Bengalow. Auf der Terrasse, von wo aus man den Fluß überblicken konnte, entdeckte er eine Schar Leute. Ihre Flintenrohre blitzten im Mondlicht.

»Hollah! – Halt an!« wiederholte dieselbe Stimme.

»Vorwärts,« sagte Tremal-Naik. »Wenn sie uns angreifen wollen, werden sie uns verfolgen.«

Das Boot, das langsamer gefahren war, schoß wieder dahin. Ein betäubendes Geräusch entstand auf der Terrasse.

»Donner und Blitz!« schrie eine Stimme. »Gebt Feuer!«

Drei Flintenschüsse donnerten. Die Thugs, die etwa schon sechshundert Armlängen entfernt waren, hörten die Kugeln über ihrem Boote pfeifen.

»Ah! Banditen!« rief Tremal-Naik, indem er nach dem Karabiner griff.

»Achtung!« rief einer der Thugs. »Sie bereiten sich zur Verfolgung vor.«

»Ich werde sie schon fernhalten. Richtet das Boot gegen jene ›Grab‹, die den Fluß herunterkommt. Vielleicht kommt sie von Kalkutta und kann uns Nachrichten über den Kapitän geben.«

»Achtung, Tremal-Naik!« rief einer der Ruderer.

Der Indier wandte sich nach der kleinen Reede des Bengalow und entdeckte ein »Mur-punky« mit etwa sechs Soldaten, das von sechs Leuten gerudert wurde.

»Vorwärts!« befahl er, indem er den Karabiner lud.

Das Boot ging immer schneller. Trotzdem gewann das »Mur-punky«, das vielleicht leichter war und von geschickten Leuten geführt wurde, immer mehr Raum.

Am Vorderteil war eine Verschanzung angebracht, dahinter verbargen sich die Soldaten mit aufgelegten Karabinern.

»Halt an!« donnerte eine Stimme.

»Immer vorwärts!« befahl Tremal-Naik.

Ein Soldat hob den Kopf. Jener Moment genügte. Tremal-Naik zielte und drückte ab. Der Soldat stieß einen Schrei aus, schlug um sich und fiel auf den Boden des Schiffes.

»Wer kommt jetzt daran!« schrie Tremal-Naik, indem er einen andern Karabiner nahm.

Ein Kugelregen war die Antwort. Die Kugeln schlugen in die Flanken des Bootes.

Ein anderer Soldat zeigte sich und fiel wie der erste.

Vor dieser mathematischen Genauigkeit schraken die Soldaten zurück. Nachdem sie sich kurz beraten hatten, steuerten sie ans andere Ufer.

»Vorsicht, Tremal-Naik,« sagte einer der Thugs. »Hier gibt's englische Bengalows an den Ufern.«

»Ob sie ihnen Leute und Barken geben werden?« fügte ein zweiter hinzu.

»Wir werden ihnen keine Zeit lassen,« sagte der Indier, der am Bug des »Grab« stand.

Das Schiff, das vom Meere herkam, war nicht weiter als eine halbe Meile.

Es war eines jener indischen Fahrzeuge, die man in Bombay baut, wo die Schiffahrt bis zu den ältesten Zeiten zurück mit größerer Vollkommenheit betrieben wurde als in andern Orten Indiens. Dort befinden sich auch die »Tek«-Bäume, die wegen ihrer außerordentlichen Härte bekannt sind, und Weiden, die dem Wasser jahrhundertelang widerstehen.

Das Vorderteil dieser »Grab« war ebenfalls in indischem Stile gehalten. Es war schmal und spitz, mit Göttern und Elefantenköpfen geschmückt, die mit seltener Fertigkeit ausgehauen waren. Die drei Segel bogen sich unter der frischen nördlichen Brise.

In fünfzehn Minuten legte das Boot an Steuerbord an. Der Kapitän der »Grab« bog sich zu Tremal-Naik hinab, um zu wissen, was er wünschte.

»Woher kommt ihr?« fragte Tremal-Naik.

»Von der ›Weißen Stadt‹,« antwortete der Seewolf.

»Wann seit ihr an der Festung William vorbeigekommen?«

»Vor fünf Stunden.«

»Habt ihr Kriegsschiffe gesehen?«

»Ja, eine Fregatte: den ›Cornwall‹.«

»Lud er?«

»Er schiffte Soldaten ein.«

»Das sind die, die nach Raimangal gehen,« sagten die Thugs.

»Kennt ihr den Bestimmungsort des ›Cornwall‹?« fragte Tremal-Naik mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich kenne ihn nicht,« antwortete der Kapitän.

»War er unter Dampf?«

»Ja.«

»Danke, Kapitän.«

Das Boot stieß von der »Grab« ab.

»Habt ihr gehört?« fragte Tremal-Naik zornig.

»Ja,« antworteten die Thugs, indem sie sich in die Ruder legten.

»Wir müssen vor Abfahrt der Fregatte dort sein, sonst ist alles verloren. Vorwärts! Vorwärts!«

In diesem Moment stieß einer der Thugs einen Triumphschrei aus.

»Hört!« rief er.

Alle lauschten und hielten den Atem zurück. Von Süden her kam ein Brausen, wie beim Herannahen eines Gewitters.

»Die Flut!« riefen die Thugs.

Die Strömung des Hugli war plötzlich stehengeblieben. Im Süden erschienen schäumende Wogen, die mit Windeseile daherkamen. Das Getöse kam näher, das Boot wurde hoch gehoben, dann raste die Flut weiter nach Kalkutta, indem sie Sträucher und Baumstämme mit sich riß.

»Zum rechten Ufer!« befahl einer der Thugs. »In einer Stunde werden wir an der Festung sein.«

Das Boot erreichte das rechte Ufer, wo die Flut stärker strömte, als auf dem linken, und nahm die eilige Fahrt wieder auf.

Der Morgen dämmerte. Im Osten leuchtete es erst weiß, dann gelb, zuletzt rötlich. Die Sterne, die vor kurzem noch glitzerten, wurden nach und nach blässer und verschwanden, auch das Geschrei der Raubtiere verstummte.

Die Ufer des prächtigen Stromes verloren, je mehr sich das Boot Kalkutta näherte, ihren wilden Eindruck. Die großen Wälder, in denen die Tiger, wilden Büffel, Schakale und Schlangen hausten, und die riesigen Bambusflächen verloren sich nach und nach, um in fruchtbare, sorgfältig gepflegte Felder überzugehen, Indigopflanzungen, Baumwolle, Zimmet, Fruchtbäume jeder Art. Dann kamen elegante Villen und große Dörfer.

Schwarze, braune, graue Affen, mit fast menschlichem Gesicht, erschienen auf den Bäumen, schaukelten sich in den Ästen, machten gewaltige Sprünge von zehn und fünfzehn Metern; dann zeigten sich Rudel Axishirsche und endlich zahme Büffel. Auf den Dächern der Hütten, auf den Bäumen saßen Vögel jeder Gattung und jeder Größe, Hühnergeier, braune Ibis, Taucher, Wasserhühner mit roten und blauen Federn, Enten, riesige Argila und freche Raben, die andern die Beute zu entreißen suchten.

Das Boot beschleunigte seinen Lauf. Der Verkehr auf dem Flusse wurde lebhaft. Barken, Briggs, Brigantinen, Goeletten und Dampfer kreuzten in großer Zahl. Große »Grab« und »Pariah«, leichte »Ponlar« von Dacca, »Baugle« und »Fylt'-scharra«, die reich vergoldet und länger als fünfzig Fuß waren und von mehr als dreißig Ruderern getrieben werden, fuhren nach allen Richtungen oder waren an den Ufern vor Bengalows und Dörfern verankert.

Tremal-Naik mußte seine ganze Geschicklichkeit aufwenden, um nicht gegen die ungeheure Menge von Schiffen und Barken zu stoßen, die fortwährend wuchs und zuweilen den ganzen Fluß ausfüllte.

Um neun Uhr passierte das Boot Kiddepur, ein großes Dorf am linken Flußufer, und erblickte nach wenigen Minuten Kalkutta, die Königin Bengalens, die Hauptstadt der englischen Kolonialbesitzungen, mit der gewaltigen Reihe von Palästen, Tempeln, Kuppeln, Glockentürmen, Squares und der Festung William, der größten und stärksten Festung der Halbinsel.

Tremal-Naik war betroffen aufgesprungen und betrachtete die gewaltige Anhäufung von Häusern, Gärten und Schiffen.

»Die Fregatte?« fragte er ungestüm. »Wo ist die Fregatte?«

»Dort! – Dort! – Schau!« – rief ein Thug.

Tremal-Naik blickte nach der angegebenen Richtung und bemerkte in der Nähe der Schleusen, die den Gräben der Festung William Wasser zuführen, eine leichte, mit zahlreichen Kanonen bewaffnete Fregatte, die gewaltige Rauchwolken aus dem Schornstein warf.

Auf der Brücke kamen und gingen Infanterie- und Marinesoldaten, damit beschäftigt, Fässer zu verstauen und die Schiffsseile von den Ankerbojen zu lösen. Man sah auf den ersten Blick, daß das Schiff dabei war, die Anker zu lichten.

Tremal-Naik fühlte einen Stich durchs Herz. »Schnell, Jungens! – Schnell!« rief er verzweifelt.

Die Thugs verdoppelten ihre Kräfte. Das Boot, das von sechs Rudern mit übermenschlicher Kraft vorwärtsgetrieben wurde, fuhr nicht mehr, es flog. Die Seitenteile ächzten unter den kräftigen Schlägen, und Wasser spritzte ins Boot.

Plötzlich stieß Tremal-Naik einen markerschütternden Schrei aus. »Ada! – Ada! – Verloren! – Alles ist verloren!«

Die Fregatte hatte die Hafenmauer verlassen und fuhr majestätisch den Fluß hinunter. Rauchwolken stiegen auf, und lange Pfiffe erschallten.

Die Thugs, erschöpft, unfähig, weiter zu rudern, hielten inne und betrachteten mit wilden Augen das Schiff, das zweihundert Schritte vor ihnen dampfte.

»Alles ist verloren!« schrie einer von ihnen, indem er die Faust ballte.

»Nein, nein!« rief Tremal-Naik.

Er bückte sich, hob den Karabiner auf, lud ihn und richtete den Lauf auf die Fregatte. Auf der Kommandobrücke hatte er einen Mann gesehen und sofort erkannt; es war der Kapitän Macpherson.

Schon hatte er die Waffe angelegt und wollte abdrücken, als ein Thug ihn zurückhielt.

»Laß das, Tremal-Naik! Es gibt hier noch andere Schiffe, die nach den Sunderbunds fahren. Schau das Kanonenboot dort! Es lädt Kanonen und Pulverfässer. Siehst du die englische Flagge?«

Tremal-Naik sah in der Tat ein großes Kanonenboot, das am Strand verankert lag und sich zur Abfahrt vorbereitete. Ein leichter Rauch stieg aus dem Kamin.

»Wenn es wahr wäre!« murmelte er zitternd. »Zur Hafenmauer! Zur Hafenmauer!«

Das Boot erreichte mit wenigen Schlägen »Kuti-Bazar«. In demselben Augenblicke kam ein Kanoe mit einem Quartiermeister der königlichen Marine vorbei.

»Hollah! Hider!« rief ein Thug.

Der Quartiermeister, auch Indier, wandte sich um.

»Hollah, Freunde, wo geht ihr hin?« fragte er, indem er ans Ufer stieß.

»Wer ist dieser Marinesoldat?« fragte Tremal-Naik.

»Ein Mitbruder,« war die Antwort.

Hider war ausgestiegen. Es war ein schöner, stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren, mit langem, schwarzem Bart, leuchtenden Augen und muskulösen Gliedern. Zwischen den Lippen hielt er eine kurze Pfeife und rauchte kräftig.

»Meine Freunde,« sagte er, indem er sich näherte, »hier geschehen ernste Sachen.«

»Wir wissen es,« sagte Tremal-Naik.

»Wer bist du?« fragte der Quartiermeister mißtrauisch.

Tremal-Naik zeigte ihm den Ring, den er am Finger trug. Der Soldat fiel auf die Kniee.

»Befehle, Gesandter Kalis,« sagte er zitternd.

»Kennst du den Kapitän Macpherson?«

»Vielleicht besser als du.«

»Weißt du, wo er die Fregatte hinführt?«

»Keiner weiß, wo der ›Cornwall‹ hinfährt. Aber ich habe einen Verdacht.«

»Er führt ihn nach Raimangal, er will Suyodhana angreifen.«

»Ich vermutete es. Ich habe zwei Mitglieder auf dem ›Cornwall‹ eingeschifft.«

»Welche Befehle haben sie?«

»Zu wachen und uns von dem zu unterrichten, was vorfällt, sobald sie entkommen können.«

»Dann sind wir verloren.«

Der Quartiermeister antwortete nicht. Er fand keine Worte.

»Was macht jenes Kanonenboot, das Waffen auflädt?« fragte Tremal-Naik.

»Es fährt nach Colombo.«

»Es muß in unsere Hand fallen.«

»Was willst du mit dem ›Devonshire‹ beginnen?«

»Den ›Cornwall‹ einholen, bevor er vor Raimangal Anker wirft.«

»Und ihn zum Sinken bringen?«

»Das ist meine Sache,« sagte Tremal-Naik.

»Befehle!«

»Wieviel Mitbrüder haben wir an Bord des ›Devonshire‹?«

»Sechs.«

»Die Besatzung beläuft sich auf?«

»Zweiunddreißig Mann.«

»Wir müssen wenigstens zehn Mitglieder einschiffen.«

»Das ist unmöglich!« rief Hider.

»Mit sechs Mitgliedern bringen wir das Kanonenboot nicht in unsere Gewalt.«

»Ich weiß.«

»Was laden sie jetzt?«

»Kanonen.«

»Und dann?«

»Proviant.«

»Ich nehme an, daß sie auch Fässer mit Zwieback und Wasser laden.«

»Natürlich.«

»Gut. Statt der Zwiebackfässer werden wir Fässer mit Thugs laden. Kannst du die Sache übernehmen?«

»Ich leite die Bewaffnung des ›Devonshire‹.«

»Ein Wort noch. Wann fährt er?«

»Mitternacht, sagte mir der Kapitän.«

»Glaubst du, daß man den ›Cornwall‹ einholen kann?«

»Wenn man die Maschine tüchtig heizt, könnte man ihn erreichen.«

»Das genügt mir. Auf heute Abend, Hider.«


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