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4. Kapitel.
Töten, um glücklich zu werden

Der Abend war gekommen. Nachdem Saranguy hier und da umhergeirrt war und aufmerksam den Gesprächen der Soldaten gelauscht hatte, legte er sich, fünfzig Schritte von der Wohnung, hinter ein dichtes Gebüsch, als wenn er einschlafen wollte. Von Zeit zu Zeit jedoch erhob er vorsichtig den Kopf. Sein Blick schweifte über die Umgebung. Es schien, als ob er etwas suche oder jemand erwarte.

Es verging eine lange Stunde. Der Mond stieg am Horizont auf und erleuchtete die Wälder und den Lauf des Stromes.

Ein scharfer Schrei, das Heulen des Schakals, ließ sich in der Ferne vernehmen, Saranguy erhob sich plötzlich und schaute sich mißtrauisch um.

»Endlich,« murmelte er schaudernd, »werde ich mein Urteil erfahren.«

Zweihundert Schritt entfernt, in einem Gebüsch, erschienen zwei leuchtende Punkte in grünlichem Lichte. Saranguy legte die Finger an die Lippen und pfiff leise.

Bald kamen die beiden leuchtenden Punkte näher. Es waren die Augen eines großen Tigers, der ein leises, dem Katzengeschlechte eigenes Knurren hören ließ.

»Darma!« rief der Indier.

Der Tiger duckte sich, drückte sich gegen den Boden und schlich lautlos heran. Direkt vor ihm blieb er stehen und knurrte abermals.

Der Tiger leckte dem Indier Gesicht und Hände.

»Du hast einer großen Gefahr Trotz geboten, armer Darma,« sagte der Indier herzlich. »Das wird die letzte Probe sein.«

Er streichelte dem Tiger den Hals und bemerkte ein Stück rotes Papier, das, zusammengerollt, an einem dünnen Seidenfaden hing. Er öffnete es mit zitternder Hand und warf einen Blick darüber. Es waren bizarre Zeichen in blauer Tinte und eine Zeile Sanskrit.

»Komm, der Bote ist eingetroffen,« las er.

Ein neuer Schauder ging durch seine Glieder. Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Er überschaute flüchtig den Bengalow, schlich sich, vom Tiger gefolgt, etwa dreihundert Schritte fort und verschwand im Wald.

Zwanzig Minuten eilte er vorwärts, indem er einem kaum sichtbaren Pfad folgte, dann blieb er stehen. Vor ihm hatte sich unverhofft ein Mensch vom Boden erhoben, legte entschlossen das Gewehr an und rief:

»Wer da?«

»Kali!« antwortete Saranguy.

»Bist du vielleicht der, den wir erwarten?« fragte er.

»Ja.«

»Weißt du, wer dich erwartet?«

»Kougli.«

»Wenn du wirklich der bist, folge mir.«

Der Indier warf den Karabiner über die Schulter und schritt lautlos voran. Saranguy und Darma folgten ihm.

»Hast du den Kapitän Macpherson gesehen?« fragte der Führer nach kurzem.

»Ja.«

»Was tut er?«

»Darauf wüßte ich nichts zu antworten.«

»Weißt du nichts von Negapatnan?«

»Doch, ich weiß, daß er Gefangener des Kapitäns ist.«

»Und weißt du, wo er versteckt ist?«

»Im Keller des Bengalow.«

»Du wirst ihn befreien?«

»Ich!« rief Saranguy. »Wer sagte dir das?«

»Schweig und vorwärts!«

Der Indier verstummte und beschleunigte seinen Schritt, indem er sich mitten durch Bambus und stachliges Gestrüpp einen Weg bahnte. In kurzen Zwischenräumen blieb er stehen und musterte die Stämme der Tarapalmen, die er auf seinem Wege traf.

»Was schaust du?« fragte Saranguy überrascht.

»Die Zeichen, die den Weg weisen.«

»Hat Kougli seinen Sitz geändert?«

»Ja, weil sich Engländer vor seiner Hütte gezeigt haben.«

»Schon?«

»Der Kapitän Macpherson hat gute Spürhunde in seinem Dienst. Sei vorsichtig, Saranguy; sie könnten dir einen schlechten Streich spielen, wenn du's am wenigsten erwartest.«

Er hielt an, legte die Hände an die Lippen und brachte einen Schrei hervor, ähnlich wie das Heulen eines Schakals.

Ein anderes Heulen antwortete ihm.

»Der Weg ist frei,« sagte der Indier. »Folge diesem Pfade und du wirst an die Hütte kommen. Ich bleibe als Wächter hier.«

Saranguy gehorchte. Als er sich auf dem Pfade befand, bemerkte er hinter jedem Baume einen Indier mit einem Karabiner in der Hand und einem Lasso um die Hüften.

»Wir sind gut bewacht,« murmelte er. »Da können wir laufen, ohne zu fürchten, von den Engländern überrascht zu werden.«

Bald befand er sich vor einer großen Hütte, die aus festen Baumstämmen hergestellt war, mit vielen Schießscharten für die Karabiner. Das Dach war mit Latanienlaub bedeckt. Auf der Spitze befand sich eine plumpe Statue der Göttin Kali.

»Wer da?« fragte ein Indier, der mit Karabiner, Dolch und Lasso bewaffnet auf der Türschwelle saß.

»Kali,« antwortete Saranguy abermals.

»Vorwärts!«

Der Indier trat in ein dürftiges Zimmer, das von einem harzigen Baumaste erleuchtet wurde.

Auf einer Strohmatte lag ein Indier, groß wie der finstere Suyodhana, mit der geheimnisvollen Tätowierung auf der Brust.

Sein Gesicht war bronzefarben, hart, grausam, mit dichtem, schwarzem Barte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und leuchteten düster.

»Ich grüße dich, Kougli,« sagte der Indier eintretend, indem er die Worte mühsam hervorbrachte.

»Ah! du bist's, Freund,« antwortete Kougli, indem er sich rasch erhob. »Ich begann schon unruhig zu werden. Wie stehen die Dinge?«

»Sehr gut. Darma hat seine Sache gut gemacht. Wenn ich nicht sofort dagewesen wäre, hätte er den Kopf des Kapitäns zermalmt.«

»Hatte er ihn gepackt?«

»Ja.«

»Ein braves Tier, dein Tiger. Also bist du jetzt im Dienste des Kapitäns. Als was?«

»Als Jäger.«

»Hat er keinen Verdacht«

»Nein.«

»Weiß er, daß du dich vom Bengalow entfernt hast?«

»Er hat mir vollständige Freiheit gelassen, in den Wäldern oder der Dschungel auf Jagd zu gehen.«

»Erzähle mir etwas von Negapatnan!«

»Gestern abend ist er im Bengalow angekommen.«

»Ich weiß es. Nichts entgeht meinen Blicken. Wo haben sie ihn versteckt?«

»Im Keller.«

»Kennst du jenen Keller?«

»Noch nicht, aber ich werde ihn kennenlernen. Ich weiß, daß er dicke Mauern hat und daß ein bewaffneter Soldat nachts vor der Türe Wache hält.«

»Weißt du, ob Negapatnan gesprochen hat?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wenn er spricht, sind wir verloren. Aber Negapatnan ist ein großer Häuptling und nicht fähig, uns zu verraten. Wohlan, kommen wir zur Sache.«

Saranguys Stirn runzelte sich, ein leichtes Zittern durchlief seine Glieder.

»Sprich,« sagte er in merkwürdigem Tone.

»Weißt du, warum ich dich gerufen habe?«

»Ich errate es, es handelt sich – –«

»Um Ada Corishant.«

Bei jenem Namen erlosch der düstere Blick Saranguys. Feucht glitzerte es ihm unter den Wimpern, ein tiefer Seufzer kam über seine blutleeren Lippen.

Kougli betrachtete den Indier. Ein grausames Hohnlächeln umzuckte seine Lippen.

»Tremal-Naik,« sagte er mit Grabesstimme. »Erinnerst du dich jener Nacht, als du mit deiner Ada und dem Maharatt aus dem Brunnen entkamst?«

»Ja, ich erinnere mich!« antwortete Saranguy dumpf, oder besser Tremal-Naik, der Schlangenjäger der schwarzen Dschungel.

»Du warst in unserer Hand. Wenn Suyodhana gewollt hätte, würdet ihr jetzt alle drei unter der Erde schlafen.«

»Ich weiß es. Aber warum erinnerst du mich an jene Nacht?«

»Ich muß dir diese Nacht ins Gedächtnis zurückrufen.«

»Dann beeile dich, laß mich nicht so viel leiden. Das Herz blutet mir.«

»Ich werde es kurz machen. – Die Thugs hatten euer Todesurteil ausgesprochen. Du solltest erwürgt werden, die Tempeljungfrau den Scheiterhaufen besteigen und Kammamurri zwischen Schlangen sterben. Suyodhana widersetzte sich dem Urteil. Negapatnan war in die Hände der Engländer gefallen und mußte gerettet werden. Du hattest so viele Beweise deiner Kühnheit gegeben, daß er dich begnadigte, damit du unserer Sekte dienlich wärest. Du aber liebtest Ada. Man mußte sie dir abtreten, um einen treuen Verbündeten zu haben. Unsere Göttin Kali bietet sie dir an.«

»Ah!« rief Tremal-Naik, indem er, ganz verändert, auf die Füße sprang. »Ist das wahr, was du sagst?«

»Ja, es ist wahr,« sagte Kougli, jedes Wort betonend.

»Und sie wird mein Weib sein?«

»Ja, sie wird es sein. Aber die Thugs verlangen etwas von dir.«

»Was es auch sei, ich nehme es an. Für meine Ada würde ich ganz Indien in Brand setzen.«

»Gut, höre mich an.«

Er nahm aus dem Gürtel ein Stück Papier, entfaltete es und betrachtete es aufmerksam.

»Die Thugs,« sagte er, »du weißt es, lieben Negapatnan, weil er mutig, unternehmungslustig und stark ist. Willst du deine Ada, so befreie Negapatnan! Aber auch Suyodhana wünscht etwas von dir.«

»Sprich,« sagte Tremal-Naik, der sich, ohne es zu bemerken, schüttelte. »Ich höre dich an.«

Kougli schwieg. Er schaute den Schlangenjäger scharf und seltsam an.

»Nun?« stammelte Tremal-Naik.

»Suyodhana tritt dir deine Ada ab, wenn du den Kapitän Macpherson tötest.«

»Den Kapitän – –«

»Macpherson,« schloß Kougli, indem er die Lippen mit einem grausamen Lächeln zusammenpreßte.

»Und nur um diesen Preis ist Ada mein?«

»Nur um diesen Preis. Falls du dich jedoch weigerst, besteigt die ›Tempeljungfrau‹ den Scheiterhaufen und Kammamurri stirbt zwischen den Schlangen. Beide haben wir in unserer Hand. Entscheide dich!«

»Mein Leben gehört Ada. Ich nehme es an!«

»Hast du schon einen Plan?«

»Nein, aber ich werde einen finden.«

»Höre auf mich, zuerst befreist du Negapatnan.«

»Ich werde ihn befreien.«

»Wir wachen über dich. Wenn du unsere Hilfe brauchst, komm zu mir!«

»Der Schlangenjäger braucht die Thugs nicht.«

»Wie du willst, du kannst gehen.«

Tremal-Naik bewegte sich nicht.

»Was wünscht du?« fragte Kougli.

»Und darf ich die nicht sehen, die ich liebe?«

»Nein.«

»Seid ihr wirklich unerbittlich?«

»Erfülle deinen Auftrag, dann – wird sie – dein sein.«

Der Indier hob verzweifelt den Kopf und schritt hinaus.


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