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3. Kapitel.
Der Rächer Hurtis

Die Bananen, auch Feigen der Götzentempel genannt, sind die seltsamsten und riesenhaftesten Bäume, die man sich denken kann. An Stärke und Höhe übertreffen sie unsere größten Eichen. Von den unzähligen, horizontal gerichteten Ästen fallen ganz feine Luftwurzeln herab, die in die Erde dringen und so dem Baume immer neue Nahrung zuführen. So kommt es, daß sich das Geäst immer mehr ausdehnt, indem es neue Wurzeln treibt, die sich immer weiter vom Hauptstamme entfernen.

Die Banane, unter der die beiden Indier die Nacht verbrachten, war eine der gewaltigsten. Sie hatte mehr als sechshundert solcher Luftwurzeln, die riesige, mit kleinen roten Früchten beladene Äste trugen. Der mächtige Stamm war in gewisser Höhe abgebrochen.

Nachdem Tremal-Naik und Kammamurri Kolonnade für Kolonnade aufs gewissenhafteste durchsucht und sich davon überzeugt hatten, daß sich niemand dahinter versteckt hielt, setzten sie sich nebeneinander in die Nähe des Hauptstammes und legten die Karabiner quer über die Knie.

»Glaubst du, daß jene geheimnisvollen Wesen, die Hurti ermordeten, hierherkommen werden?« fragte Kammamurri.

»Bevor noch der Morgen anbricht, werden wir es wissen.«

Zwei langsame Stunden vergingen, doch kein Geräusch störte das Schweigen, das unter dem dichten Schatten des riesenhaften Baumes herrschte.

Es mußte kurz vor Mitternacht sein, als Tremal-Naik, der scharf aufmerkte, ein eigenartiges Geräusch zu hören glaubte.

Es war wie das Summen, das zuweilen den Erdbeben vorausgeht, aber viel gedämpfter.

Tremal-Naik wurde unruhig.

»Kammamurri!« flüsterte er ganz leise. »Sei auf der Hut!«

»Was hast du gesehen?« fragte der Maharatt erschrocken.

»Nichts, aber ein Geräusch habe ich gehört, das aus der Erde zu kommen schien.«

»Was glaubst du, daß es sein könne?«

»Ich weiß es nicht, aber wir werden es bald erfahren.«

»Herr, hier herrscht ein furchtbares Geheimnis.«

»Hast du Furcht?«

»Nein, ich bin Maharatt!«

»Dann werden wir alles entschleiern.«

In jenem Augenblicke ertönte abermals das geheimnisvolle Summen unter der Erde. Die beiden Indier blickten sich überrascht an.

»Es klingt, als wenn man dort unten eine mächtige Trommel spiele, wie z. B. das Ahuk,« Riesige indische Trommel, die man nicht ohne Erlaubnis des »Semidar« des betreffenden Gebietes spielen darf. Man rührt sie nur zu gewissen Festen und zahlt dafür eine festgesetzte Summe. sagte Tremal-Naik. »Aber wie kann es aus der Erde hervorkommen? Ob jene geheimnisvollen Wesen ihren Zufluchtsort unter der Dschungel haben?«

»Es muß so sein, Kammamurri.«

»Was tun wir, Herr?«

»Wir bleiben hier, irgend jemand wird erscheinen.«

»Tykora!« rief eine Stimme.

Die beiden Indier sprangen gleichzeitig empor.

Seltsam, unglaublich, jene Stimme war so nahe, direkt hinter den Indiern.

»Tykora!« flüsterte Tremal-Naik. »Wer sprach diesen Namen aus?«

Er schaute umher, sah aber niemand. Er spähte in die Höhe, entdeckte aber nichts als die in Dunkelheit verschwommenen Äste der Banane.

»Ob sich jemand in den Ästen versteckt hält?«

»Ich glaube nicht, Kammamurri. Die Stimme ließ sich hinter uns hören.«

»Seltsam!«

»Tykora!« rief dieselbe geheimnisvolle Stimme.

Die beiden Indier schauten sich abermals um.

Eine Täuschung war nicht mehr möglich. Irgend jemand war in der Nähe, aber zu ihrer großen Überraschung war niemand zu sehen.

»Herr,« murmelte Kammamurri, »wir haben es mit einem Geist zu tun.«

»Ich glaube nicht an Geister,« antwortete Tremal-Naik. »Jenes Wesen, das uns Furcht einflößen will, werden wir schon entdecken.«

»O!« stieß der Maharatt hervor und taumelte wie ein Trunkener etwa vier Schritte zurück.

»Was siehst du, Kammamurri?«

»Sieh dort oben – – Herr! Schau!« – –

Tremal-Naik erhob die Augen zur Banane und bemerkte einen Lichtschein, der aus dem Baumstumpf kam. Trotz seines außergewöhnlichen Mutes fühlte er das Blut in den Adern erstarren.

»Licht!« brachte Kammamurri bestürzt hervor. »Laß uns fliehen, Herr!«

Zum dritten Male hörte man jenes geheimnisvolle Donnern unter der Erde, und vom Stamme der Banane drang der hellklingende Ton des Ramsinga. In der Ferne hallten andere ähnliche Töne wieder.

»Laß uns fliehen, Herr!« wiederholte Kammamurri, außer sich vor Schrecken.

»Nie!« antwortete Tremal-Naik entschlossen.

Er hatte das Messer zwischen die Zähne genommen und den Karabiner am Lauf gepackt, um ihn wie einen Stock zu brauchen. Doch augenblicklich änderte er seinen Plan.

»Komm, Kammamurri!« sagte er. »Bevor wir den Kampf eröffnen, wird es besser sein, sich erst zu vergewissern, mit wem wir zu ringen haben.«

Er führte den Maharatt etwa zweihundert Schritte vom Stamme der Banane weg. Dann versteckten sie sich hinter vier zusammengewachsenen Wurzeln und hatten so einen Ausblick, ohne selbst gesehen zu werden.

»Kein Wort jetzt,« sagte Tremal-Naik. »Im günstigsten Augenblick werden wir handeln.«

Vom mächtigen Stamme der Banane ließ sich abermals ein schriller Ton vernehmen, der alle Echos der Sunderbunds weckte. Das Licht, das aus dem Gipfel des Baumstammes drang, erlosch. Ein Menschenkopf, mit einer Art gelben Turban bedeckt, erschien an seiner Stelle.

Er schaute sich mehrmals um, um sich zu versichern, daß sich niemand unter dem Baume befände, dann erhob er sich. Ein Mensch, der Gesichtsfarbe nach ein Indier, kam hervor und klammerte sich an einen der Äste an. Hinter ihm kamen vierzig andere Indier, die sich an den Luftwurzeln bis zur Erde herabgleiten ließen.

Sie waren alle fast nackt. Nur ein »dubgah«, eine Art Unterrock von schmutzigem Gelb, bedeckte ihre Lenden. Ihre Brust hatte seltsame Tätowierungen, die Schriftzeichen aus dem Sanskrit Tote Sprache, in der der größte Teil der heiligen Bücher der Indier geschrieben ist. Sie ähnelt in Wort und Form dem persischen, griechischen, lateinischen, teutonischen, gotischen und sogar dem isländischen. sein mußten, und direkt in der Mitte befand sich eine Schlange mit Frauenkopf. Eine feine Seidenschnur, ein Lasso mit einer Bleikugel am Ende, umspann mehrmals das »dubgah«, und durch diesen eigenartigen Gürtel war ein Dolch gesteckt.

Jene geheimnisvollen Wesen setzten sich schweigsam zur Erde, indem sie um einen alten Indier mit langen Armen und katzenartig funkelndem Blick einen Kreis bildeten.

»Meine Söhne!« sagte er mit ernster Stimme. »Unsere mächtige Hand hat den Ruchlosen getötet, der es wagte, diesen uns Thugs geheiligten Boden zu betreten. Wieder ein Opfer, das durch unseren Dolch fiel, aber unsere Göttin ist noch nicht befriedigt.«

»Wir wissen es,« antworteten die Indier im Chore.

»Ja, freie Söhne Indiens, unsere Göttin verlangt mehr Opfer.«

»Unser großer Anführer möge befehlen!«

»Eine große Gefahr bedroht uns, Söhne! Ein Mensch hat ein Auge auf die Jungfrau geworfen, die den Tempel der Göttin bewacht!«

»Entsetzlich!« riefen die Indier durcheinander.

»Ja, meine Söhne, ein kühner Mensch wagte, der lieblichen Jungfrau ins Antlitz zu schauen. Aber wenn dieser Mensch nicht unter dem Blitzstrahle unserer Göttin fällt, so wird er durch unser unfehlbares Lasso enden.«

»Wer ist es?«

»Zu rechter Zeit sollt ihr es erfahren. Bringt mir das Opfer!«

Zwei Indier erhoben sich und liefen zu dem Ort, wo der Leichnam des armen Hurti lag. Sie schleiften ihn in den Kreis und ließen ihn zu den Füßen des Alten nieder.

»Kali!« rief dieser, die Augen zum Himmel erhoben, riß den Dolch vom Gürtel und stieß ihn in Hurtis Brust.

»Elender!« schrie Tremal-Naik. »Das ist zuviel!«

Er war aus seinem Versteck hervorgestürzt Ein Blitz, gefolgt von einem krachenden Knall, zerriß die Finsternis, und der alte Indier fiel, von der Kugel des Schlangenjägers mitten durch die Brust geschossen, auf Hurtis Körper.


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