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2. Kapitel.
Negapatnan

Die Villa des Kapitäns Harry Macpherson stand am linken Ufer des Hugli, bei einer kleinen Bucht, auf der verschiedene Boote schaukelten. Es war einer jener kleinen Paläste, die man in Indien »Bengalow« nennt, elegant, bequem, einstöckig, auf einer Steinmauer errichtet und mit einem spitz zulaufenden Dach gedeckt. Eine von Säulen gestützte Galerie, »Varanga« genannt, die in eine geräumige Terrasse endigte, ging ringsum und war mit Rohrgeflechten versehen. Links und rechts dehnten sich niedrige Gebäude, die für die Dienerschaft und die Soldaten bestimmt waren. Tarabäume, Latanien, Pipal und Nina, die heute zum großen Teil aus jener Ebene am Gangesdelta verschwunden sind, verbreiteten überall Schatten.

Der Kapitän Macpherson trat in den Bengalow ein, ließ die Soldaten vor der Tür, und stieg auf die Terrasse, an der ein großer Vorhang angebracht war. Bhârata folgte ihm kurz hinterher und brachte den Würger Negapatnan mit.

»Setz dich,« sagte der Kapitän zum Würger, indem er auf ein Bambuskissen wies.

Negapatnan gehorchte und ließ die Ketten rasseln, die ihm die Armgelenke schnürten. Bhârata setzte sich neben ihn und legte ein paar Pistolen vor sich.

»Woher kennst du mich?« begann Macpherson.

»Ich sah dich verschiedene Male in Kalkutta. Eine Nacht folgte ich dir sogar, in der Hoffnung, dich würgen zu können, aber der Anschlag gelang mir nicht.«

»Elender!« schrie der Kapitän, bleich vor Zorn.

»Reg dich wegen dieser Kleinigkeit nicht auf,« sagte der Würger lächelnd.

»Erinnerst du dich der Nacht, in der meine Tochter geraubt wurde?«

»Als wenn es gestern gewesen wäre. Es war in der Nacht vom 24. August 1853. Negapatnan war immer der erste bei allen Unternehmungen der Thugs,« sagte der Indier stolz. »Ich war der, der das Fenster herausnahm und deine Tochter raubte.«

»Aber zitterst du denn nicht, derartige Sachen dem Vater jener Unglücklichen zu erzählen?«

»Negapatnan zitterte nie.«

»Aber ich werde dich wie ein Rohr zerbrechen.«

»Und die Thugs zerbrechen dich wie einen jungen Bambus.«

»Das möchte ich sehen.«

»Kapitän Corishant,« sagte der Würger ernst, »über den Herrschern Indiens steht eine geheime, furchtbare Macht, die nichts fürchtet. Die gekrönten Häupter beugen sich unter dem Hauche der Göttin Kali, unserer Herrin.«

»Wenn Negapatnan nie zitterte, so hatte der Kapitän Macpherson nie Furcht.«

»Du wirst es mir an dem Tage sagen, wenn der Seidenlasso deinen Hals schnürt.«

»Und du mir an jenem, wenn das glühende Eisen dein Fleisch zerfrißt.«

»Hast du mich hierher führen lassen, um mich unter Qualen sterben zu sehen?«

»Ja, wenn du das Geheimnis der Thugs nicht verrätst. Nur um diesen Preis kannst du dein Leben retten.«

»Kapitän Macpherson,« sagte der Würger mit finsterem Gesicht, »Hat dein Regiment kein Banner?«

»Doch, warum diese Frage?«

»Hast du diesem Banner nicht Treue geschworen?«

»Ja.«

»Wärest du fähig, es zu verraten?«

»Oh, nie«

»Wohlan, ich habe meiner Göttin Treue geschworen, die mein Banner ist. Ich werde nicht sprechen!«

Der Kapitän Macpherson war aufgestanden und hatte eine Reitpeitsche vom Boden aufgehoben.

»Widerliches Subjekt!« schrie er wütend.

»Berühr mich nicht mit dieser Peitsche,« schrie der Würger, sich in den Ketten windend.

Statt jeder Antwort erhob der Kapitän Macpherson die Peitsche und brachte dem Gefangenen eine blutige Furche auf dem Gesichte bei.

Wie das Brüllen eines wilden Tieres kam es über die Lippen des Würgers.

»Töte mich,« sagte er mit einem Tone in der Stimme, der nichts Menschliches mehr hatte. »Töte mich, denn wenn du's nicht tust, reiße ich dir das Fleisch Stück für Stück herunter.«

»Ja, Ungeheuer, ich werde dich töten, hab keine Furcht, aber langsam, Tropfen für Tropfen. Bhârata, schleife ihn in den Keller.«

»Soll ich ihn martern?« fragte der Sergeant.

Der Kapitän Macpherson zögerte.

»Noch nicht,« sagte er dann. »Du wirst ihn vierundzwanzig Stunden ohne Speise und Trank lassen, nur, um zu beginnen.«

Bhârata packte den Würger und schleifte ihn weg, ohne daß sich dieser geweigert hätte.

Der Kapitän warf die Peitsche von sich und ging die Terrasse erregt und nachdenklich auf und ab.

»Geduld,« sagte er mit aufeinandergebissenen Zähnen. »Dieser Mensch wird mir alles beichten, und müßte ich ihm jedes Wort mit dem glühenden Eisen herauspressen.«

Plötzlich blieb er stehen und erhob lebhaft den Kopf. Von einem der Ställe her kam ein gewaltiger Trompetenstoß, wie ihn der Elefant ausstößt, wenn er die Nähe eines Feindes wittert. Dreihundert Schritt vom Bengalow sprang fast im selben Moment eine schwarze Masse in die Luft, fiel sofort zurück und verbarg sich im Gebüsch.

Der Kapitän konnte wegen des unbestimmten Lichtes nicht recht erkennen, was es war.

»Holla!« rief er.

Der Soldat, der unten im Schilderhaus auf Wache stand, kam mit dem Karabiner unterm Arm hervor.

»Kapitän,« sagte er, indem er diesem das Gesicht zuwandte.

»Hast du nichts gesehen?«

»Ja, Kapitän.«

»War es ein Mensch oder ein Tier?«

»Ich glaube, ein Tier. Es erhob sich auf dreihundert Meter von hier.«

Die schwarze Masse von vorhin tat abermals einen Sprung. Die Soldaten stießen einen Schreckensschrei aus.

»Der Tiger!«

Der Kapitän griff nach seinem Karabiner, lud ihn und feuerte auf das Tier ab, das in mächtigen Sprüngen nach der Dschungel floh.

»Verdammt!« rief er zornig.

Das Tier war bei dem Schusse stehengeblieben und ließ ein dumpfes Knurren hören. Dann verschwand es schnell zwischen dem Bambus.

»Was ist los?« fragte Bhârata, indem er auf die Terrasse stürzte.

»Wir haben einen Tiger in der Umgebung,« antwortete der Kapitän.

»Einen Tiger! Das ist unmöglich, Kapitän!«

»Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber wir haben sie doch alle ausgerottet!«

»Einer scheint unsern Karabinern entgangen zu sein.«

»Habt ihr ihn wenigstens getroffen?«

»Ich glaube kaum.«

Der Kapitän sah nach der Uhr.

»Es ist um drei. – In einer Stunde glaube ich Bhagavadi besteigen zu können und in zwei Stunden werden wir das Fell des Tigers haben.«


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