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2. Kapitel.
Die geheimnisvolle Insel

Ein tiefes Schweigen folgte der traurigen Erzählung des Indiers. Tremal-Naik war plötzlich still geworden. Den Kopf auf die Brust gebeugt, die Stirn gerunzelt, die Arme verschränkt, so schritt er erregt am Fenster auf und nieder. Kammamurri, sprachlos vor Schrecken, war ganz in sich versunken. Sogar der Hund lag schweigsam neben Darma.

Da rissen die schrillen Töne des Ramsinga den Schlangenjäger aus seinem Nachdenken. Er erhob den Kopf wie ein Schlachtroß, das das Signal zum Angriff hört, warf einen Blick auf die einsame Dschungel, auf der jetzt ein dichter, mit giftigen Ausdünstungen geschwängerter Nebel lag, wandte sich um und fragte barsch, indem er sich Aghur näherte:

»Hast du nie das Ramsinga gehört?«

»Doch, Herr!« antwortete der Indier, »aber nur ein einziges Mal – vor sechs Monaten, in der Nacht, in der Tamul verschwand!«

»Glaubst auch du wie Kammamurri, daß es ein Unglück verkünde?«

»Ja, Herr!«

»Weißt du, wer es bläst?«

»Ich habe es nie gewußt!«

»Glaubst du, daß der Bläser Beziehungen mit jenen geheimnisvollen Einwohnern Raimangals habe?«

»Ich glaube es.«

»Was hältst du von diesen Menschen?«

»Sind es denn Menschen?«

»Daß es die Seelen Toter seien, glaube ich nicht!«

»Dann werden es Seeräuber sein,« meinte Aghur.

»Und welches Interesse können sie haben, meine Leute zu morden?«

»Wer weiß, vielleicht, um uns abzuschrecken und von sich fern zu halten!«

»Wo vermutest du ihre Hütten?«

»Das kann ich nicht sagen. Aber ich glaube, daß sie jede Nacht unter dem düsteren Schatten der heiligen Banane zusammenkommen.«

»Gut,« sagte Tremal-Naik, »Kammamurri, nimm die Ruder!«

»Was willst du tun, Herr?« fragte der Maharatt.

»Mich zur Banane begeben!«

»O, tu das nicht, Herr!« schrien die beiden Indier gleichzeitig. »Sie werden dich morden, wie sie den armen Hurti ermordet haben!«

Tremal-Naik betrachtete sie mit flammenden Augen.

»Der Schlangenjäger zitterte nie in seinem Leben, noch wird er heute abend zittern. Zum Boot, Kammamurri!« rief er, mit einem Ton in der Stimme, der keinen Widerspruch zuließ.

»Aber Herr!«

»Hast du vielleicht Furcht?« fragte Tremal-Naik verächtlich.

»Ich bin Maharatt!« sagte der Indier verwegen.

»Dann geh! Diese Nacht werde ich erfahren, wer jene geheimnisvollen Wesen sind, die mir den Krieg erklären, und wer die ist, die mich verhexte!«

Kammamurri ergriff ein paar Ruder und wandte sich zum Ufer. Tremal-Naik ging in die Hütte und nahm einen langen Karabiner mit verziertem Lauf vom Nagel. Er versah sich mit einer großen Flasche Pulver und befestigte am Gürtel ein langes Messer.

»Aghur, du bleibst hier!« sagte er, sich zur Tür wendend. – »Wenn wir in zwei Tagen nicht zurück sind, folgst du uns mit dem Tiger oder Punthy nach Raimangal.«

»Ach, Herr, du tust unrecht, nach jener verwünschten Insel zu gehen.«

»Tremal-Naik läßt sich nicht morden, Aghur!«

»Nimm Darma mit, er könnte dir nützlich sein.«

»Er würde nur meine Gegenwart verraten, und ich will ungesehen und ungestört dort landen. Leb wohl, Aghur!«

Er warf den Karabiner über die Schulter und folgte Kammamurri, der ihn neben einem kleinen Gonga, einem plumpen, aus einem Baumstumpf gefertigten Schiff, erwartete.

»Fahren wir!« sagte er.

Sie sprangen ins Boot und fuhren langsam rudernd, schweigsam davon.

Tiefe Finsternis lag auf den Sunderbunds und dem Mangalstrome. Ein düsteres, geheimnisvolles Schweigen herrschte überall, kaum von dem Gemurmel des gelben Wassers unterbrochen, das herabhängende Äste streifte und die Blätter der Lotusblume bespülte.

Tremal-Naik lag am Hinterschiff der Barke. Schweigend hielt er die Flinte in der Hand. Gespannten Auges prüfte er die beiden Ufer, wo sich fortwährend rauhes Knurren und lautes Gezisch hören ließ. Kammamurri, der die Ruder führte, hielt fast jeden Augenblick inne und fragte den Schlangenjäger, ob er nichts gehört noch gesehen hätte.

Schon eine halbe Stunde waren sie gerudert, als das Schweigen vom Ramsinga unterbrochen wurde. Es kam vom rechten Ufer, so nah, als wenn derjenige, der es blies, nur hundert Schritte entfernt wäre.

»Halt!« murmelte Tremal-Naik.

Kaum war ihm das Wort entschlüpft, als ein anderes Ramsinga dem ersten antwortete, aber in größerer Entfernung. Es spielte eine schwermütige Melodie, während die andere lustig und lebhaft war.

Warum spielten diese beiden Instrumente so verschieden? War es vielleicht ein Signal? Kammamurri befürchtete es.

»Herr!« sagte er. »Wir sind entdeckt! Ob wir umkehren?«

»Tremal-Naik kehrt nie um! Beeile dich und laß die Ramsinga nach ihrem Vergnügen spielen!«

Der Maharatt griff wieder zu den Rudern. Das Gonga flog vorwärts und kam bald an eine Stelle, wo sich der Fluß verengte.

Ein lauwarmer, schwüler, mit verpesteten Ausdünstungen gefüllter Windstoß kam zu den beiden Indiern herüber.

Vor ihnen, etwa drei- bis vierhundert Schritte, erschienen unzählige Flämmchen, die launisch auf der schwarzen Wasseroberfläche umherirrten. Einige, wie von geheimnisvoller Kraft angezogen, tanzten vor dem Bug des Gonga und entfernten sich plötzlich mit fantastischer Schnelligkeit.

»Hier sind wir am schwimmenden Friedhof,« sagte Tremal-Naik. »In zehn Minuten werden wir die Banane erreichen.«

»Werden wir mit dem Gonga hindurch können?« fragte Kammamurri.

»Mit etwas Geduld wird es uns schon gelingen.«

»Es ist unrecht, Herr, die Toten zu beschädigen!«

»Brahma und Wischnu werden uns vergeben. Vorwärts, Kammamurri!«

Mit einigen Ruderschlägen kam das Gonga an der Flußenge vorüber und erreichte eine Art Becken. Die langen Äste der riesigen Tamarinden verflochten sich und bildeten so ein dichtes, grünes Gewölbe.

Da schwammen auch mehrere Leichen, die die Kanäle des Ganges bis zum Mangal getrieben hatten.

»Vorwärts!« sagte der Schlangenjäger.

Eben wollte Kammamurri die Ruder wieder ergreifen, als sich das grüne Gewölbe öffnete, das den schwimmenden Friedhof Jene schwimmenden Friedhöfe trifft man sehr häufig in den Sunderbunds des Ganges. Die Indier, die den Ganges für einen heiligen Strom halten, geben die Leichen dem Flusse preis, überzeugt, daß sie so direkt in den Himmel kommen. bedeckte, um einem Schwarm seltsamer Wesen mit schwarzen Flügeln, langen Stelzen und spitzen, kräftigen Schnäbeln Durchgang zu verschaffen.

»Was ist das?« rief Kammamurri überrascht.

»Marabus!« sagte Tremal-Naik.

In der Tat fielen ungefähr hundert dieser Vögel flügelschlagend auf die Leichen nieder.

»Vorwärts, Kammamurri!« wiederholte Tremal-Naik.

Das Gonga trieb vorwärts. Nach einer guten halben Stunde war der Friedhof durchkreuzt und das Boot befand sich in einem großen, geräumigen Becken, das von einer spitzen Landzunge in zwei Arme geteilt wurde. Auf dieser Landzunge erhob sich ein gewaltiger, einzelstehender Baum.

»Die Banane!« sagte Tremal-Naik.

Kammamurri zitterte bei diesem Namen.

»Herr!« murmelte er mit zusammengepreßten Zähnen.

»Fürchte dich nicht, Maharatt! Leg die Ruder nieder und laß das Gonga allein der Insel zusteuern! Vielleicht ist jemand in der Nähe.«

Der Maharatt gehorchte. Er legte sich auf den Boden des Gonga. Tremal-Naik tat desgleichen und bewaffnete sich vorsichtshalber mit dem Karabiner.

Das Boot, von der starken Strömung erfaßt, trieb, sich langsam wendend, gegen die nördliche Spitze der Insel Raimangal, dem Sitz der geheimnisvollen Wesen, die den armen Hurti ermordet hatten.

Tiefes Schweigen herrschte an jenem Orte. Auch das Ramsinga schwieg, sogar der Fluß war ruhiger.

Tremal-Naik erhob zeitweise vorsichtig den Kopf. Aufmerksam spähte er nach dem Ufer, da er dem Schweigen nicht traute. Das Gonga war kaum hundert Schritte von der Banane und scheuerte schon leicht den Grund. Die beiden Indier bewegten sich nicht.

Es vergingen zehn Minuten ängstlicher Spannung, dann wagte es Tremal-Naik, sich zu erheben. Das erste, was ihm in die Augen fiel, war eine schwarze, verschwommene Masse, die sich ungefähr zwanzig Meter vom Ufer im Grase befand.

»Kammamurri!« murmelte er. »Erheb dich und lade die beiden Pistolen!«

Der Maharatt ließ sich dies nicht zweimal sagen.

»Was siehst du, Herr?« fragte er leise.

»Sieh dorthin!«

»Eh!« stieß der Maharatt hervor, indem er die Augen aufriß. – »Ein Mensch!«

»Still!«

Tremal-Naik erhob den Karabiner und zielte auf jene schwarze, menschenähnliche Masse. Ohne zu feuern, setzte er aber wieder ab.

»Laß uns untersuchen, was es ist, Kammamurri!« sagte er. »Jener Mensch scheint tot zu sein.«

»Und wenn er sich nur verstellt?«

»Um so schlimmer für ihn!«

Die beiden Indier stiegen ans Land und schlichen sich gebückt an jenes Wesen, das kein Lebenszeichen gab. Auf zehn Schritte waren sie herangekommen, als sich ein Marabu erhob und gegen den Fluß flog.

»Ein Toter!« murmelte Tremal-Naik. »Wenn es – –«

Den Satz beendete er nicht. Mit vier Sprüngen war er neben der Leiche. Ein dumpfes Stöhnen entschlüpfte seinen vor Zorn verzerrten Lippen.

»Hurti!« stieß er aus.

In der Tat, jene Leiche war Hurti, der Gefährte Aghurs. Der Unglückliche lag auf dem Rücken. Beine und Arme waren durch die Todeszuckungen runzlig, das Gesicht schrecklich verzerrt, die Augen traten weit aus ihren Höhlen. Die Beine waren gebrochen und mit Blut überströmt, ebenso die Füße. Jedenfalls war er eine Strecke lang geschleift worden, während er vielleicht noch mit dem Tode rang. Aus dem Munde hing ihm die Zunge.

Tremal-Naik richtete den unglücklichen Indier ein wenig auf, um zu sehen, wo er verwundet war. Aber keine einzige Wunde war zu finden. Bei genauer Prüfung sah er jedoch um den Hals herum eine starke Quetschung. Auch am Schädel befand sich eine Verletzung, die von einer großen Kugel oder einem abgerundeten Steine herzurühren schien.

»Erst haben sie ihn betäubt und dann erwürgt,« sagte er mit dumpfer Stimme.

»Armer Hurti,« flüsterte der Maharatt. »Warum mordete man ihn in dieser Weise?«

»Das werden wir erfahren, Kammamurri! Ich schwöre dir, dies Verbrechen läßt Tremal-Naik nicht unbestraft!«

»Herr, ich fürchte, daß die Mörder sehr mächtig sind!«

»Mächtiger als sie wird Tremal-Naik sein. Wohlan, kehre zum Boote zurück!«

»Und Hurti? Sollen wir ihn hier lassen?«

»Morgen früh werde ich ihn in die heiligen Wasser des Ganges werfen!«

»Aber die Tiger werden ihn nachts zerfleischen!«

»Über den Leichnam Hurtis wacht der Schlangenjäger!«

»Wie? Kehrst du nicht zurück?«

»Nein, Kammamurri, ich bleibe hier. Wenn alles erledigt ist, werde ich die Insel verlassen.«

»Aber willst du dich denn morden lassen?«

Ein verächtliches Lächeln zuckte um die Lippen des stolzen Indiers.

»Tremal-Naik ist ein Sohn der Dschungel! Steig ins Boot, Kammamurri!«

»Nie, Herr!«

»Warum?«

»Wenn dir ein Unglück zustieße, wer soll dir helfen? Ich begleite dich und schwöre dir, daß ich dir folgen werde, wohin du gehst.«

»Auch wenn ich die Vision suchen würde?«

»Ja, Herr!«

»So folge mir, kühner Maharatt!«

Tremal-Naik ging zum Ufer, packte das Gonga am Steuerbord, stülpte es mit einem heftigen Rucke um und bohrte es in den Grund.

»Was tust du?« fragte Kammamurri überrascht.

»Niemand darf erfahren, daß wir hier gelandet sind. Und jetzt vorwärts, das Geheimnis zu entschleiern!«

Sie erneuerten das Pulver des Karabiners und der Pistolen, um sicher zu sein, daß kein Schuß versage, und gingen zur Banane, deren ungeheures Geäst stolz von der dichten Finsternis abstach.


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