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9. Kapitel.
Belagert

Er war mit dem Verhör noch nicht zu Ende, als einen Stock tiefer zwei Schüsse krachten, kurz darauf folgte der Schrei eines Sterbenden. Ohne auf die Gefahr zu achten, der er sich aussetzte, stürzte er an die Tür und rief:

»Nagor! Nagor!«

Niemand antwortete. Der Würger, der vor kurzem noch vor der Türe wachte, war nicht mehr da. Wo war er? Was hatte sich ereignet?

Tremal-Naik begab sich, unruhig, aber entschlossen, seinen Gefährten zu retten, zur Treppe. Ein Mann, ein Soldat, lag im letzten Todeskampfe mitten auf dem Gange. Aus der Brust drang ihm Blut, das auf dem Boden eine Lache bildete, die immer größer wurde.

»Nagor!« wiederholte Tremal-Naik.

Drei Männer erschienen auf dem Gange und rannten gegen die Tür eines Zimmers. Fast in demselben Augenblick hörte man Nagor rufen:

»Hilfe! Sie zertrümmern die Tür!«

Tremal-Naik sprang die Treppe hinunter und schoß nacheinander zwei Revolverschüsse ab. Die drei Indier flohen.

»Nagor, wo bist du?« fragte der Schlangenjäger.

»Hier im Zimmer,« antwortete der Thug. »Schlage die Tür ein, sie haben mich eingeschlossen.«

Tremal-Naik drückte mit den Schultern kräftig dagegen und sprengte die Tür. Der Würger sprang mit Blut besudelt aus seinem Gefängnis heraus.

»Was hast du getan?« fragte Tremal-Naik.

»Flieh! flieh!« rief Nagor. »Die Soldaten verfolgen uns.«

Die beiden Indier erstiegen die Treppe, eilten durch den Gang und schlossen sich im Sergeantenzimmer ein. Drei Flintenschüsse krachten.

»Springen wir aus dem Fenster,« schrie Nagor.

»Viel zu spät,« sagte Tremal-Naik, indem er sich aus dem Fenster bog.

Zweihundert Schritt vom Bengalow hatten sich zwei Soldaten aufgestellt. Als sie die beiden Indier sahen, legten sie die Karabiner an und gaben Feuer. Die Kugeln trafen aber nur die Jalousie.

»Wir sind gefangen,« sagte Tremal-Naik. »Verrammeln wir die Tür.«

Zum Glück war diese stark und mit eisernen Riegeln versehen. Die beiden Indier rückten sämtliche Zimmermöbel vor die Tür und verbargen sich dahinter.

»Lade deine Pistolen,« sagte Tremal-Naik zu Nagor. »Bald werden sie das Zimmer stürmen. Sie wissen, daß wir nur zwei sind. Aber was hast du getan?«

»Deine Befehle ausgeführt,« sagte der Würger. »Als ich zwei Soldaten den Gang heraufkommen sah, drückte ich ab, und einer fiel. Dem anderen folgte ich in ein Zimmer, stürzte aber und als ich mich wieder erhob, war ich eingeschlossen. Ohne dich wäre ich noch Gefangener.«

»Du hast unrecht getan, so schnell zu schießen. Jetzt weiß ich nicht, wie die Sache enden wird.«

»Wir bleiben hier.«

»Und indessen fällt Raimangal. Die Engländer haben unser Versteck entdeckt. Kapitän Macpherson befindet sich in der Festung William und bereitet sich vor, Raimangal zu stürmen.«

»Dann befinden wir uns in großer Gefahr! Was ist zu tun?«

»Erst weg von hier, dann zur Festung William.«

»Wir sind belagert.«

»Das sehe ich. Aber wir werden fliehen.«

»Wann?«

»Heute nacht.«

»Wie?«

»Das ist meine Sache.«

»Wieviel Leute sind im Bengalow?«

»Etwa achtzehn. Aber –«

Ein Karabinerschuß krachte draußen.

»Der Tiger! – Der Tiger!« schrie man.

Tremal-Naik stürzte ans Fenster und schaute hinaus.

Die beiden Soldaten, die sich hinter einem Gebäude verborgen hielten, waren mit den Karabinern in der Hand aufgesprungen und stießen Schreckensschreie aus.

Zweihundert Schritt von ihnen knurrte ein großer Tiger.

»Darma!« rief Tremal-Naik.

Der Tiger machte einen gewaltigen Sprung und drohte die Soldaten anzugreifen, die auf ihn zielten.

»Flieh, Darma!« befahl der Schlangenjäger, als er sah, daß andere Soldaten ihren Gefährten zu Hilfe kamen.

Das kluge Tier zögerte, als wenn es verstünde, daß sich sein Herr in Gefahr befinde, und entfernte sich dann schnell.

»Braves Tier,« sagte Nagor.

»Ja, brav und treu,« fügte Tremal-Naik hinzu. »Heute abend wird es uns zur Flucht verhelfen.«

Sie verbargen sich wieder hinter den Möbeln und erwarteten geduldig die Nacht. Während des Tages näherten sich Soldaten öfters der Tür und versuchten, sie einzuschlagen. Aber ein Revolverschuß genügte, um sie zurückzuschrecken.

Um acht ging die Sonne unter. Nach kurzer Dämmerung wurde es schnell finster. Der Mond mußte erst in einigen Stunden aufgehen.

Gegen elf näherte sich Tremal-Naik dem Fenster und entdeckte die beiden Soldaten. Er suchte den Tiger, sah ihn aber nicht.

»Gehen wir jetzt?« fragte Nagor.

»Ja.«

»Von welcher Seite?«

»Durchs Fenster. Es ist nur vier Meter hoch, und der Boden ist nicht hart.«

»Und die Soldaten?« sagte er. »Sobald wir hinunterspringen, werden sie auf uns schießen.«

»Wir warten, bis sie ihre Waffen abgefeuert haben.«

»Wieso?«

»Das wirst du sehen.«

Tremal-Naik nahm den Teppich, alle Kleidungsstücke, die er finden konnte, die Kopfkissen vom Bett und machte eine Puppe, in der Größe eines Menschen.

»Achtung jetzt, die beiden Soldaten sind fünfzig Schritte vor uns,« sagte er. »Ich lasse die Puppe hinunter. Die beiden Soldaten werden sie sicher mit einem von uns verwechseln und ihre Karabiner abfeuern. Das nützen wir aus, springen hinunter und fliehen. Verstehst du jetzt?«

»Du bist mutig und schlau,« sagte Nagor. »Mit einem solchen Menschen kann man alles wagen. Wie schade, daß du kein Thug bist!«

»Bereite dich zum Sprunge vor.«

Er nahm den Lasso und ließ die Puppe schaukelnd zum Fenster hinunter. Die beiden Soldaten gaben Feuer. Mit dem Revolver in der Faust sprangen Tremal-Naik und Nagor zum Fenster heraus. Sie fielen, standen wieder auf und eilten davon.

»Folge mir!« sagte Tremal-Naik, indem er zu immer größerer Eile antrieb. Hinter sich hörten sie, wie die Wachen Alarm gaben. Schüsse krachten, aber ohne zu treffen.

Tremal-Naik sprang wie eine Bombe in eine Palisade. Ein Pferd lag am Boden. Ein Faustschlag, und es sprang auf.

»Hinter mich,« schrie er dem Thug zu.

Die beiden Flüchtlinge stiegen auf den Rücken des Pferdes, hielten sich an die Mähne an und trieben das Tier vorwärts.

»Wohin reiten wir?« fragte Nagor.

»Zu Kougli,« antwortete Tremal-Naik, indem er die Flanken des Pferdes mit dem Revolver schlug.

»Als ich ihn verließ, waren Soldaten im Walde.«

»Also vorsichtig! Halt die Waffen bereit.«

Das Pferd, ein schönes, schwarzes Tier, raste vorwärts trotz der doppelten Ladung und sprang über Gräben und Büsche.

Schon war der Bengalow in der Dunkelheit verschwunden und der Wald nahe, als aus einem Bambusdickicht eine Stimme rief:

»Hollah! – Halt!«

Die beiden Flüchtlinge drehten sich um und erhoben die Waffen.

Der Mond, der eben aufgegangen war, ließ etwa zehn Mann erkennen, die am Boden lagen und ihre Karabiner aufs Pferd anlegten.

Ein Blitzen zerriß die Finsternis, dann krachten Schüsse. Das Pferd machte einen Sprung, wieherte, stürzte zu Boden und schleifte seine Reiter mit sich. Die Soldaten sprangen aus dem Gestrüpp hervor und brachen in ein Freudengeschrei aus, das sich aber bald in Schreckensrufe umwandelte.

Ein mächtiger Schatten war brüllend aus einer Bambusgruppe gesprungen. Der Kommandant der Soldaten wurde von einem Prankenschlage zu Boden gerissen.

»Darma!« rief Tremal-Naik, der sich rasch erhob.

»Der Tiger! – Der Tiger!« schrien die Soldaten, indem sie nach allen Richtungen flohen.

Mit wenigen Sprüngen erreichte das kluge Tier seinen Herrn.

»Braver Darma,« sagte er, indem er den Tiger streichelte. »Du verläßt mich nie.«

»Beeilen wir uns, Tremal-Naik,« riet Nagor. »Die Soldaten werden bald zurückkommen.«

Die beiden Indier warfen sich mitten in den Wald. Nach einem halbstündigen, ungestümen Lauf erreichten sie die Hütten der Thugs.

Nagor blieb mit dem Tiger draußen, und Tremal-Naik trat ein. Kougli lag auf der Erde und war damit beschäftigt, einige Sanskritbriefe zu entziffern. Als er ihn sah, sprang er auf und ging ihm entgegen.

»Frei!« rief er, ohne seine Überraschung und Freude zu verbergen.

»Du siehst es,« sagte Tremal-Naik.

»Und Nagor?«

»Ist draußen geblieben.«

»Gib mir den Kopf.«

»Welchen Kopf?«

»Den Kopf Macphersons.«

»Ich habe den Kapitän nicht töten können. Er hat den Bengalow verlassen, ohne daß ich es wußte.«

»Und wo ist er hingegangen?«

»Nach Kalkutta. Er bereitet sich vor, die Thugs in ihrem Versteck anzugreifen. Denn er weiß, daß Raimangal euer Sitz ist.«

Kougli sah ihn erschrocken an.

»Und wer verriet uns?«

»Ich.«

»Du! – du! Weißt du denn nicht, daß sich deine Ada immer noch in unserer Hand befindet? Weißt du nicht, daß die Flammen sie erwarten?«

»Gegen meinen Willen habe ich euch verraten. Sie hatten mir Youma zu trinken gegeben.«

»Youma! Und du hast gesprochen?«

»Wer widersteht der Youma?«

»Erzähle mir, was vorgefallen ist.«

Tremal-Naik erzählte ihm kurz, was sich im Bengalow ereignet hatte.

»Du hast viel ausgerichtet,« sagte Kougli, »aber deine Mission ist noch nicht zu Ende.«

»Ich weiß,« sagte Tremal-Naik seufzend.

»Warum seufzest du?«

»Warum? – Und du fragst noch? – Bin ich geboren, um in niederträchtiger Weise Leute zu morden? Das ist furchtbar, weißt du, was ich ausführen soll, furchtbar!« –

Kougli zuckte mit den Achseln. »Du weißt nicht, was Haß ist,« sagte er.

»Das weiß ich, hab' keine Furcht, Kougli!« rief Tremal-Naik wild. »Wenn du wüßtest, wie ich euch hasse.«

»Gib acht, Tremal-Naik. Deine Geliebte ist immer in unserer Hand.«

Der Unglückliche beugte den Kopf auf die Brust und seufzte abermals. »Sprich, was soll ich tun?«

»Man muß vor allem verhindern, daß der Elende nach Raimangal geht. Wenn er unser Versteck erreicht, ist deine Ada verloren.«

»Was soll ich tun?«

»Der Kapitän wird sicher den Wasserweg nach Raimangal wählen. In Kalkutta und in der Festung William haben wir Verbündete, im Heer und auch auf den englischen Kriegsschiffen. Einige haben sogar hohe Ämter.«

»Nun?«

»Du begibst dich zur Festung William und läßt dich mit Hilfe unserer Mitglieder auf seinem Schiffe unterbringen.«

»Aber der Kapitän würde mich wiedererkennen!«

Ein Lächeln zuckte um Kouglis Lippen. »Ein Indier kann Malaie oder Birmane werden.«

»Das genügt. Wann soll ich aufbrechen?«

»Sofort, sonst kämst du zu spät.«

»Ist der Fluß weg frei?«

»Die Soldaten, die ihn besetzt hielten, sind vertrieben worden.«

Kougli legte die Finger an den Mund und pfiff. Ein Thug kam herbei.

»Sechs Freiwillige von erprobtem Mute mögen sich reisefertig machen. Ist das Boot noch am Ufer?«

»Ja,« antwortete der Thug.

»Geh!«

Kougli zog einen merkwürdig geformten, goldnen Ring, der auf einem kleinen Schilde die geheimnisvolle Schlange trug, vom Finger und reichte ihn Tremal-Naik.

»Es genügt, wenn du diesen Ring einem unserer Mitglieder vorzeigst,« sagte er. »Alle Thugs Kalkuttas werden zu deiner Verfügung sein.«

Tremal-Naik steckte ihn auf einen Finger der rechten Hand.

»Hast du mir noch etwas zu sagen?« fragte er.

»Daß wir über Ada wachen. Wenn du uns verrätst, geben wir sie den Flammen preis.«

Tremal-Naik blickte ihn finster an. »Leb wohl,« sagte er barsch.

Er trat heraus und näherte sich Darma, der ihn unruhig anschaute, als wenn er schon erraten hätte, daß sein Herr ihn wieder verlassen wollte.

»Armer Freund,« sagte er traurig und bewegt. »Hab' keine Furcht, wir werden uns wiedersehen, Darma. Nagor wird dich versorgen.«

Er wandte sich ab und erreichte die Thugs.

»Führt mich zum Boot,« befahl er.


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