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XVI.
Enthüllungen

Sanders hielt das schon etwas angekohlte Buch in der Hand.

»Sie erinnern sich doch noch der vorhergehenden Blätter, nicht wahr? Jener geheimnisvollen Fahrt Brandorffs von Paris nach dem Goldenen Horn, deren Beschreibung plötzlich bei dem Liebesabenteuer von Brandorffs ungenanntem Gefährten abbricht. Nun lese ich hier auf den folgenden Seiten, deren Schrift durch die Wärme plötzlich sichtbar geworden ist:

›Stambul.

Die Sache wird durch das Abenteuer mit Madame Signotani so verwickelt, daß ich nicht mehr wage, alles niederzuschreiben, was ich erlebe. Und doch scheint mir die ganze Reise so denkwürdig zu sein, daß ich den Drang in mir fühle, das Wesentliche festzuhalten. Sollte ich einst einen Erben haben, so ist meine Absicht, meinem Kinde vor meinem Tode das Geheimnis der sympathetischen Tinte zu enthüllen, damit es weiß, mit wie vielen Anstrengungen und Wagnissen sein Vater zu dem Gelde gekommen ist, von dem es lebt.

Mein kleines Bankgeschäft in Deutschland war durch Spekulationen ruiniert. Es war ein ehrlicher Bankrott, und als ich den letzten Gläubiger abgefunden hatte, war ich mittellos. Es gelang mir, in einem Bankhause in Paris eine Stellung zu bekommen, und ich nahm sie an, weil mich Paris lockte. Ich war bereits zwei Jahre in dem Hause und arbeitete im Vorzimmer des Chefs als Korrespondent, da kam eines Tages, kurz vor Schluß der Arbeit, ein Herr, dem man trotz seiner Pariser Eleganz sofort den Orientalen ansah. Er hatte im Privatzimmer des Chefs eine lange Unterredung. Dann öffnete sich die Tür, und ich hörte meinen Chef sagen: ›Nein, ich bedaure es unendlich, aber ich kann es nicht machen. Es könnten Komplikationen entstehen, denen ich nicht gewachsen bin!‹ Darauf sagte der andere: ›Aber ich versichere Ihnen, das alles ist ganz gefahrlos. Wir brauchen nur einen zuverlässigen Mann, der arbeitsam ist und die Augen offen behält.‹ Aber mein Chef antwortete: ›Es geht wirklich nicht, meine Mittel sind nicht groß genug.‹

Das ganze Äußere des Besuchers und die paar aufgeschnappten Worte hatten mich erregt. Er brauchte einen zuverlässigen, arbeitsamen Mann? Ich dachte gar nicht daran, daß er einen Geldmann meinen konnte. Ich dachte nur das eine: ›Solch ein Mann war doch ich!‹ Der Besucher konnte unser Haus noch kaum verlassen haben. Meine Arbeit war beendet. Ich ergriff meinen Hut und eilte ihm nach. Wenige Schritte vor mir sah ich den Herrn. Ich ging hinter ihm her und folgte ihm durch die Straßen. So waren wir in einer kleinen, engen Gasse auf dem linken Ufer der Seine angekommen, in einem dunklen, von verworfenem Gesindel bewohnten Viertel. Plötzlich drehte der Verfolgte sich um, sah mich scharf an und kam auf mich zu. Ich blieb stehen mit klopfendem Herzen. Dicht vor mir sagte er mit leiser, scharfer Stimme: ›Warum gehen Sie mir nach? – Was wollen Sie? Machen Sie es kurz!‹

Ich sagte: ›Ich bin Korrespondent des Bankhauses, in dem Sie eben waren. Ich hörte, daß Sie einen zuverlässigen Mann brauchen. Ich bin es!‹ Er lachte kurz: ›Ich brauche einen Bankier!‹

›Ich war früher Bankier!‹ erwiderte ich.

›So, so!‹ nickte er, indem er mich scharf betrachtete. ›Nun erzählen Sie mir von sich, vielleicht entscheidet sich etwas zu Ihren Gunsten!‹

Ich ging neben ihm her und teilte ihm mein Schicksal mit. Er hörte schweigend zu. Als ich zu Ende war, sagte er: ›Gut, ich glaube Ihnen. Vielleicht kann ich Sie gebrauchen, folgen Sie mir!‹

Seine Wohnung lag in einem kleinen, unscheinbaren Hause, und man mußte zu ihr eine knarrende Wendeltreppe emporsteigen. Er schloß auf, und ich trat in einen dunklen Gang. Dann stieß er die Tür auf. Ich fuhr erschrocken zurück, geblendet von dem Glanz vieler Lichter, die ein mit den kostbarsten orientalischen Teppichen ausgeschlagenes Gemach, dessen Vorhandensein in einem Pariser Miethause ich nicht vermutet hatte, strahlend erhellten. Der Bewohner dieses kostbaren Raumes brachte Erfrischungen nach orientalischer Sitte herbei, und nun vernahm ich jene Worte, deren Inhalt mein ganzes Leben ändern sollte.

Ich erfuhr, daß Abdul Assud, so hieß mein Wirt, ein Abgesandter der Partei der Jungtürken war. Damals war die Partei im Aufblühen. Doch brauchte sie, um ein moralisches Übergewicht zu bekommen, zweierlei: Geld und die Sympathie einer europäischen Großmacht.

›Glauben Sie, daß Sie uns nützlich sein können?‹ fragte mich Abdul Assud.

›Ja, ich glaube es!‹ antwortete ich nach kurzem Besinnen. Mir fiel plötzlich ein, daß es für mich seltsamerweise eher möglich war, für die Partei die Verbindung mit einer Gesandtschaft herzustellen, als mit einem Bankhause. Ich kannte nämlich einen jungen Attaché, den ich in Paris wiedergetroffen hatte. Er war stets in Geldverlegenheiten, die mehrmals durch meine Vermittlung behoben wurden, und wir waren recht intim miteinander geworden. An ihn beschloß ich mich zu wenden, vielleicht war es möglich, etwas zu erreichen, natürlich ohne daß die türkische Botschaft in Paris davon Wind bekam.

Ich suchte also den Attaché auf. Er befand sich wieder in ärgster Geldverlegenheit, und, Hilfe witternd, ging er nach einigem Zögern auf alles ein.

Damit mein Kind auch von diesen Einzelheiten weiß, will ich hier endlich den Namen dessen nennen, den ich vorn nur angedeutet habe: Mein Gefährte heißt Anton von Mohl.‹«

Ein heftiger Schlag auf den Tisch unterbrach den Lesenden. Soltau war es, der rief: »Lies es noch einmal, Sanders, noch einmal! Mein Gott, wer hätte das geahnt, daß der Name Mohl hier auftauchen würde!«

Doch Redberg unterbrach ihn und sagte mit ruhiger Stimme: »Anton von Mohl war der Vater Ihres Bekannten Hugo von Mohl. Ich habe nach der Familie geforscht. Aber ich wußte nicht, daß sich Anton von Mohl je an der jungtürkischen Geheimbewegung beteiligt hat!«

Und nun berichtete Sanders dem Kommissar, was ihnen Nured-Bei von der Partei der Jungtürken mitgeteilt hatte.

Soltau ging aufs höchste erregt im Zimmer auf und ab:

»Mohl war ja die Ursache meines Schweigens vor dem Untersuchungsrichter!« rief er lebhaft. »Damals in der Nacht gestand ich Brandorff, daß ich Spielschulden an Mohl hatte. Kaum hatte ich das gesagt, als mein Oheim mich in der heftigsten Weise beschimpfte, mich einen Betrüger nannte und mir vorwarf, ich bewürbe mich um seine Tochter nur aus Berechnung. Die Schulden habe ich, da meine Geldkalamität nur eine vorübergehende war, unterdes längst bezahlt. Aber damals konnte ich natürlich weder von ihnen als Ursache noch vom beleidigenden Inhalt der Worte meines Onkels sprechen. Es wäre zu kompromittierend gewesen!«

»Und doch wußte ich von deinen Schulden!« sagte Sanders.

»Woher?«

»Von Mohl selbst!«

Und Sanders las weiter:

»Anton von Mohl verstand es durch seine Eigenschaft als Attaché, mehrere Geldleute unter Diskretion glauben zu machen, eine europäische Großmacht stände der Bewegung der Jungtürken nicht unfreundlich gegenüber. In Wahrheit durfte natürlich niemand auf der Gesandtschaft etwas davon erfahren, denn die Mächte hüteten sich wohl, in die verworrenen Verhältnisse der Türkei einzugreifen.

So geschickt Anton von Mohl sich im Anknüpfen von Beziehungen erwies, so unzuverlässig ist er. Für ihn ist es dasselbe, ob er Politik mit Staaten oder mit Frauenherzen treibt. Das Abenteuer mit der Signotani, die in den Harem eines vornehmen Türken kam, hätte uns beinahe um den Zweck unserer ganzen Anstrengungen gebracht. Es war das Unglaublichste, was ich je erlebt habe.

Nachdem wir in Stambul diese und jene Mitglieder der Partei kennen gelernt hatten, merkten wir endlich, daß man uns absichtlich vom Oberhaupte fernhielt. Offenbar wollte man uns auf unsere Gesinnungen und Fähigkeiten prüfen. Wir drangen endlich darauf, das Oberhaupt kennen zu lernen, und Mohl, der in solchen Momenten sehr geschickt und energisch ist, drohte, wir würden die Türkei mit allen unsern Mitteln verlassen, falls dies nicht binnen drei Tagen geschehen würde. Das wirkte. Schon am folgenden Tage wurden wir zu Mustapha Fasil-Pascha geführt.

Mustapha Fasil-Pascha, ein schöner, kräftiger Mann mit mutblitzenden Augen, empfing uns mit der kostbarsten Bewirtung, die wohl je Europäer bei einem Türken genossen.

Kaum hat auch wohl je ein Europäerauge die Pracht eines solchen Hauses wie das seine gesehen. Doch so prächtig das Haus Mustapha Fasils war, so einfach ging er selbst einher. Ein weißes Gewand war sein Kleid, als verschmähte er absichtlich jeden Schmuck, den die Orientalen so sehr lieben. Nur eines fiel auf: ein weißer Ledergürtel, an dessen Schnalle zwei grünlich irisierende Opale von ungeheuerlicher Größe saßen. Mohl konnte nicht anders als ihn nach diesen beiden Steinen fragen. Doch da wurde das Gesicht Mustapha Fasils sogleich tiefernst. Mit feierlicher Stimme sprach er: ›Diese Steine sind der Schutz und der Hort unserer Partei. Einst trug sie der Sultan, den wir stürzen wollen. Indien ist ihre Heimat, und der Schweiß, das Geld und das Blut unzähliger Türken klebt an ihnen, mit denen der Herrscher seine Prachtliebe und seine Gesundheit erkaufte. Nun aber haben wir sie erlangt. Mit dem Besitz der Steine sind die Kraft und der Mut des Sultanhauses auf unsere Partei übergegangen. Doch seht‹ – er winkte einem Sklaven, der ein Samtetui herbeibrachte – ›in Damaskus ließ ich nach geheimem Verfahren diese Steine nachmachen. Sie täuschen jeden, der die echten nicht kennt.‹ Und er nahm aus dem Etui zwei Steine, die den beiden Riesenopalen täuschend glichen. Jedem von uns machte er einen zum Geschenk, als geheimes Erkennungszeichen bei den hohen Führern der Partei. Mohl bat mich später, ihm den meinigen zu schenken, und da ich ohne seine Hilfe meinen Plan nie hätte ausführen können, so tat ich ihm den Gefallen.

An Bord. In den nächsten Wochen ging alles gut. Es gelang uns, ein großes Pariser Bankhaus zu bewegen, die Partei zu unterstützen. Das Haus errichtete ein Tochterhaus in Pera unter der Leitung eines französischen Bankiers. Mohl und ich waren durch unsere Bemühungen nunmehr vermögende Männer geworden. Der Tag unserer Abreise kam. Ich sah Mohl in der letzten Zeit selten, und das flößte mir Besorgnisse ein, denn ich fürchtete, daß er Dummheiten machte. Meine Furcht sollte sich am letzten Tage in Entsetzen verwandeln. Vor unserer Abreise wollte Mustapha Fasil-Pascha uns ein großes Fest geben.

Am Morgen des Tages, an dem das Fest stattfinden sollte, kam Mohl plötzlich zu mir. ›Hören Sie, Brandorff, ich habe Ihnen lange etwas verschwiegen. Unsere Abreise steht bevor, ich muß es Ihnen also sagen. Wissen Sie, in wessen Harem Madame Signotani ist?‹ Mich durchzuckte ein tödlicher Schreck. Ich unterbrach ihn: ›Doch nicht etwa‹ – ›Ja, ja‹, nickte er, ›sprechen Sie es ruhig aus: im Harem von Mustapha Fasil-Pascha!‹ ›Um Gottes willen, Unglücksmensch!‹ rief ich aus, ›Sie verderben uns!‹ ›Nein, nein!‹ rief er. ›Seien Sie beruhigt, Ihnen wird nichts geschehen. Madame Signotani, die eigentlich Madame de Tremaine heißt und durch die verdammten Künste des alten Italieners hierher gebracht worden ist, wird uns noch heute abend aufs Schiff folgen!‹

Ich war sprachlos – war Mohl ganz des Teufels? Wollte er durchaus eines grausamen Rachetodes sterben? Aber er blieb auf alle Einwendungen verstockt. ›Nein, nein! Brandorff‹, rief er, ›Sie werden mich nicht von meinem Vorhaben abwendig machen. Noch heute fliehe ich mit ihr, denn ich liebe dieses Weib.‹

Was sollte ich machen? Ich konnte nichts anderes tun, als ihm bei der Flucht helfen. Und so teilte er mir mit, daß die Haremswächter bestochen seien. Am Abend, wenn Mustapha Fasil-Pascha das große Fest vorbereitete und im Hause die Verwirrung der Feststimmung herrschte, sollte Madame de Tremaine in Sklavenkleidung fliehen. Natürlich durften wir zur Stunde, wo man uns erwartete, nicht erscheinen, sondern mußten noch am selben Abend, also einen Tag früher, als eigentlich festgesetzt war, auf einem der gerade abfahrenden Europadampfer das Weite suchen.

In fieberhafter Erregung ging ich nachmittags an Bord der nach England bestimmten ›Morney‹, nachdem ich noch eine Stunde vorher einen Diener an Mustapha Fasil-Pascha mit dem Bescheide geschickt hatte, wir würden uns um 10 Uhr nachts einfinden.

Schon um 9 Uhr sollte unser Schiff abgehen. Ich stand an Bord, die Ankerketten rasselten schon langsam hoch. Mein Gefährte war noch nicht da. Schon setzte sich das Schiff langsam in Bewegung, als ein mit zwei Menschen besetztes Boot hastig auf uns zukam. Es waren Mohl und die Geraubte. Er stieg mit ihr an Bord, kam auf mich zugelaufen, drückte mir ein Päckchen in die Hand und flüsterte:

›Verwahren Sie mir das, bis ich Sie darum bitte! Niemand darf es bei mir finden, falls man uns verfolgt!‹ Und verschwand mit der Dame in der Kajüte, die er bestellt hatte.

Ich drehte das Päckchen, das mir Mohl gegeben hatte, in der Hand hin und her und löste voller Spannung die Umhüllung. Meine Finger fühlten Kaltes, Glattes.

Plötzlich durchzuckte mich ungeheures Entsetzen. In meiner Hand hielt ich die Opale vom Gürtel Mustaphas. Sofort wußte ich: in seiner krankhaften Gier, alles zu begehren, worauf sein Auge wohlgefällig haften blieb, hatte Mohl seine Freundin veranlaßt, die Opale zu rauben.

London. Endlich bin ich auf dem Festland. Nichts von alledem geschah, was ich fürchtete. Niemand verfolgte uns. Mohl ist fort, verschwunden. Eines Morgens stellte sich heraus, daß er sich mit seiner Begleiterin in der Nacht aussetzen und von einem begegnenden Dampfer aufnehmen ließ. Er hinterließ mir nicht eine Silbe der Erklärung oder des Abschiedes. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Die Opale habe ich noch. Was soll ich mit ihnen beginnen? Die ganze Manier von Mohls Verschwinden entspricht ganz seinem sprunghaften, geheimnisliebenden Charakter. Ich erwarte Nachricht von ihm.

London. Drei Monate später. Von Mohl habe ich nichts mehr gehört. Seine Opale, die mir immer wieder von neuem unheimlich sind, bewahre ich immer noch. Die Türken regen sich nicht.

Meine Geschäfte gehen gut. Es scheint, als bringe mir das Geld der Türken Glück. Ich schließe hier das Tagebuch.

Dir, mein Kind, das Du diese Zeilen lesen wirst, schreibe ich zur Warnung vor allzu kühnen Plänen:

Ich vergesse jene Tage der Demütigung, der Erregung, Qual, Verzweiflung und der endlichen Sicherheit nie!«

 

Das Buch war zu Ende. Es schloß mit jenem Wörtchen »nie«, das Sanders in so tiefe Verwirrung gesetzt hatte.

Die drei Männer brachen trotz der späten Stunde – es war mittlerweile neun Uhr geworden – auf, und wieder ging es zu jenem entfernten Vorort im Norden Berlins, in dem das verlassene, unheimliche Häuschen stand.

Sie klopften ans Tor, an die Fensterladen, alles blieb still.

Redberg sagte leise: »So, nun aber keine Zeit verloren! Sanders, ich steige auf Ihre Schulter und klettere über die Mauer!«

Er schwang sich hinauf und saß im nächsten Augenblick rittlings auf der Mauer. Dann glitt er jenseits hinab. Einen Moment standen Sanders und Soltau in einem bangen Dunkel, denn mit Redberg war auch das Licht der Blendlaterne verschwunden. – Plötzlich klirrte es vor ihnen. Das kleine Holztor öffnete sich knarrend, und Redberg erschien schmunzelnd.

»Kommen Sie!« winkte er leise. Der Hof lag still, hinten ragte ein großer Schuppen in die Nacht. Sie folgten Redberg, der mit Hilfe der Blendlaterne vom Hofe aus den Eingang ins Haus fand. Die Haustür war unverschlossen: sie stießen die knarrende Pforte auf und befanden sich in der Moderluft eines vernachlässigten Zimmers. Bisher hatten sie sich so leise wie möglich bewegt. Plötzlich klopfte es gegen die Fensterläden. Alle drei hielten einen Moment erschreckt den Atem an. Redberg blickte vorsichtig durch einen Spalt im Laden und flüsterte: »Eine Frau ist es!« Sekundenlang herrschte Stille. Dann vernahm man von außen eine Stimme: »Machen Sie doch auf! – Ich muß hinein zu Ihnen!«

Soltau fuhr auf: »Das ist ja Cecilys Stimme! Sie ist hier! – Sie kann draußen nicht stehen bleiben!«

Er eilte hinaus und holte die verschleierte Cecily ins Zimmer.

»Ich wollte den Rechtsanwalt trotz der vorgerückten Abendstunde in einer dringenden Angelegenheit aufsuchen«, erklärte Cecily, zitternd vor Erregung. »Da sah ich Sie alle drei fortfahren und bin Ihnen gefolgt. Ich konnte nicht anders.«

Redberg holte eine Kerze hervor und machte Licht.

Jetzt erst sahen sie sich in ihrer Umgebung genauer um. Auf einmal stieß Cecily einen Schrei aus: »O meine Ahnungen! Ich habe mich nicht getäuscht – dies ist dasselbe kleine Zimmer, das mir wie eine Vision erschien, als mein Vater begraben wurde. Und niemand sollte hier sein? Nein, das glaube ich nicht! Sicher, hier oder nirgends sind die Mörder meines Vaters verborgen.«

Und ohne auf die Worte der Männer zu hören, stürzte sie aus dem Zimmer hinaus auf den Hof. Redberg und Sanders waren noch unschlüssig, ob sie dem erregten jungen Mädchen sogleich folgen oder sich zunächst an die Untersuchung des Hauses machen sollten. Plötzlich hörten sie vom Hofe her einen fürchterlichen Aufschrei!

»Cecily!« rief Soltau entsetzt, und die drei liefen hinaus. Im Schatten vor dem Schuppen sahen sie eine sich hin und her wälzende dunkle Masse. Redberg ließ aus seiner Laterne einen Lichtstrahl darauf fallen, und im gleichen Augenblick stürzten auch die Männer auf die Kämpfenden und rissen sie auseinander. Hell klirrte es durch die Nacht, und eine Stimme brüllte: »O die Hunde – gefesselt!« Das Licht fiel grell auf das Gesicht des Gefangenen, der sich, die Hände in den Handschellen, die ihm Redberg blitzschnell angelegt hatte, auf dem Rücken, wehrlos unter den Fäusten der drei Männer krümmte. Es war der Diener John!

Halb entseelt vor Erschöpfung, berichtete Cecily, wie auf dem Hofe, als sie den Schuppen untersuchen wollte, plötzlich aus der Dunkelheit ein Mann auf sie zugesprungen sei und mit dem Ruf: »Hier kommt niemand weiter!« sie an der Kehle gepackt habe. Mit übermenschlicher Anstrengung hatte sie sich verteidigt.

Doch nun lag John an Händen und Füßen gefesselt auf dem Bett drinnen im Zimmer. Redberg stand vor ihm. »Es nützt Ihnen nichts, wenn Sie schweigen!« sagte er. »Wir wissen jetzt doch, daß es Mohl war!«

Wut und Hohn lag auf Johns wildem Gesicht, als er erwiderte: »Einmal mußt' es so kommen. Ich merkte es wohl, daß ihr Verdacht hattet. Wir wären längst in Sicherheit, wenn der verwünschte Mensch, der Mohl, nicht wäre! Ja, ja, junges Fräulein, gucken Sie nur, auf diesem Bett, grad' wie ich, hat auch, Gott verdamm' mich, Ihr Vater gelegen!«

Ein Aufstöhnen Cecilys begleitete seine Worte.

»Sprechen Sie«, sagte Redberg, »wenn Sie alles gestehen, kommen Sie vielleicht vor Gericht besser weg!«

»Ich spreche schon«, erwiderte der Gefesselte mit trotzigem Ton, »aber nicht, weil ihr Polizisten dann milder mit mir seid, sondern weil ich den Wahnsinn satt habe bis hier oben hin.« Er machte, da ihm seine gefesselten Hände keine Freiheit dazu ließen, eine pantomimische Bewegung mit dem Kinn.

»Ich war schon etwa ein halbes Jahr bei Brandorff im Dienst«, begann er zu erzählen, »da trat eines Tages auf der Straße ein vornehmer Herr an mich heran und fragte mich auf englisch nach einer entfernten Gegend. Es war Herr von Mohl. Die Anrede in meiner Landessprache machte mir die Zunge locker; wir kamen ins Reden, ich erzählte ihm, daß ich früher Jockey war; er sagte darauf: ›Ich verlege ohnehin meinen Wohnsitz nach England. Sie gefallen mir; wenn Sie im Stallwesen so tüchtig sind, wie Sie angeben, so könnte vielleicht aus einem Engagement etwas werden. Ich würde Ihnen mehr bezahlen als Ihr jetziger Herr!‹ Mohl gab mir seine Adresse, und ich ging am anderen Tage, ohne Herrn Brandorff Mitteilung davon zu machen, zu ihm hin. Mohl verstand es, nach und nach mich den Zweck seines Kommens vergessen zu machen und mich zu bewegen, ihm von den Gewohnheiten, dem Hause und dem Besitz des alten Brandorff zu erzählen. Und als seine Schwester erschien« –

»Seine Schwester?« unterbrachen ihn die Anwesenden verwundert.

»Ja, Frau von Zemlinska!« erwiderte der Diener.

»Das ist seine Schwester?« fragte in tiefem Erstaunen Sanders, während Cecily bleich wurde.

»Ja, sie ist seine Schwester aus der ersten Ehe, die sein Vater im Auslande mit einer Frau von Trémaine schloß!«

Die Männer tauschten Blicke des Erstaunens über diese seltsame Enthüllung, die sie jetzt erst aus dem Inhalt des Tagebuchs recht verstehen konnten. Der Diener fuhr müde fort:

»Allmählich verstand es Mohl, mir beizubringen, daß das Engagement nach England gar nicht die Hauptsache bei der Anknüpfung unserer Bekanntschaft gewesen sei, sondern daß es in meiner Macht stände, ein reicher und bedeutender Mann zu werden. Er hatte ein paar Aufzeichnungen seines Vaters gefunden, aus denen er ersehen wollte, daß er dazu berufen wäre, eine ungeheure Rolle in der europäischen Politik zu spielen. Er behauptete, damit könne man die größten Verwicklungen unter den europäischen Großmächten anrichten.

Ich ließ mich von den großen Worten Mohls und seiner Schwester berauschen, und erst viel später, als schon alles geschehen war, merkte ich, daß es bei den beiden im Kopf nicht recht richtig sein mußte. Aber ich bin ein einfacher Mann, und damals rissen sie mich mit. Mohl brachte mich dazu, ihm in allem gefügig zu sein und ihm alles zu glauben. Zuerst, so sagte er mir, müsse er zwei indische Opale in seinen Besitz bringen, die mein Herr, der alte Brandorff, vor Jahren seinem Vater geraubt habe und in denen ein ganz eigener Zauber stecken sollte. Es zeigte sich dabei, daß Mohl schon seit langer Zeit mich beobachtet und den Plan gefaßt hatte, mich anzusprechen und seinen Wünschen gefügig zu machen.

Ich wurde immer mehr sein Werkzeug, schließlich ging ich blindlings auf seinen Plan ein, Brandorff die Opale zu rauben.

Mohl verabredete mit mir, daß eines Nachts, wenn der Alte schliefe, ich mit einem falschen Schlüssel, den Mohl nach einem von mir gelieferten Wachsabdruck sich verschafft hatte, den Behälter der Steine öffnen sollte. Ich sollte die Opale herausnehmen und an ihre Stelle zwei Imitationen legen, die er mir zeigte. Niemand würde so den Raub bemerken, und noch in derselben Nacht würden wir abreisen ins Glück!

Mohl wollte die Opale gleich in Empfang nehmen und war am Abend ins Haus und in den Garten geschlüpft, ohne daß jemand etwas davon bemerkte. Dafür hatte ich gesorgt, indem ich den Pförtner des Hauses und seine Frau im Gespräch festhielt. Damit ich nicht über die knarrende Treppe zu gehen brauchte, hatte ich mir eine Strickleiter und Stricke besorgt, mit denen ich vom Fenster direkt in den Garten hinunter gelangen wollte.

Endlich hörte ich aus Brandorffs Zimmer kein Geräusch mehr. Ich suchte den falschen Schlüssel zu dem Glaskasten; er war nicht da, ich hatte ihn bei Mohl vergessen. Da wäre nun guter Rat teuer gewesen, wenn ich nicht, durch das ewige Anstiften Mohls schon an ein fortwährendes Belauern meines Herrn gewöhnt, vor kurzem entdeckt hätte, daß der alte Brandorff, wohl einer wunderlichen Marotte folgend, die ihm das unscheinbarste Versteck als das sicherste erscheinen ließ, den Schlüssel zu dem Kästchen mit den Opalen in einem kleinen Schächtelchen verwahrte, das in der Lade eines Tisches im Bibliothekzimmer stand. Ich schlich also ins Bibliothekzimmer, wo ich den Schlüssel an seinem Platz auch fand, kehrte vorsichtig ins Arbeitszimmer zurück, schloß den Kasten auf, vertauschte die echten Opale mit den Imitationen und schloß wieder zu. Den Schlüssel steckte ich einstweilen zu mir, um ihn so bald als möglich an seinen gewohnten Ort zu bringen.«

»Was Sie nachher aber vermutlich vergaßen«, schaltete Sanders ein. »Der Schlüssel fand sich nirgends, und wir mußten den Kasten mit den Opalen aufbrechen.«

Über Johns Gesicht flog ein Grinsen.

»Gut, daß Sie's so lange hinterher erst taten«, erwiderte er, »sonst hätten Sie jedenfalls früher erfahren, daß die Steine falsch waren, und würden vielleicht nicht so lange im dunkeln getappt haben. Den Schlüssel konnte ich nicht an seinen Platz zurücklegen, weil ich ihn bei dem, was später geschah, verloren haben muß. Es war soweit alles gut gegangen«, fuhr John nun in seiner Erzählung fort, »und der Weg zum Glück lag offen vor mir. Ich wandte mich, um zum Fenster zu gelangen, als ich plötzlich hinter mir leichenblaß Brandorff stehen sehe. Mit gebrochener, zitternder Stimme fragt er: ›Was tun Sie hier?‹ Dabei fällt sein Blick voller Schrecken auf die Opale in meiner Hand. Er oder ich – fuhr es mir durch den Kopf. Für einen von uns bedeutete diese Stunde das Verderben.

Fast besinnungslos stürzte ich mich auf ihn, packte ihn bei der Kehle, riß mein Taschentuch heraus und stopfte es ihm als Knebel in den Mund. Dann warf ich ihn zu Boden und band ihn mit den Stricken, die da lagen. Die Sache stand schlimm. Was tun? Ich eilte zum Fenster, winkte Mohl zu und warf ihm die Strickleiter hinab. Dann schloß ich schnell die Türen ab, um jeden Lärm unhörbar zu machen. Mohl kam herauf, sah, was geschehen war, und machte mit dem Daumen eine unzweifelhafte Bewegung, die er mit grausamem Lächeln begleitete. Ich schüttelte heftig den Kopf: Einen Mord wollte ich nicht begehen! Kurz entschlossen schlug ich vor, Brandorff mitzunehmen, denn verraten durften wir uns nicht lassen, wenn nicht alles vereitelt sein sollte. Wir ließen ihn gebunden aus dem Fenster hinab. Der Morgen dämmerte schon. Ich kletterte über den Gartenzaun, der die Straße abschließt, um zu sehen, ob niemand in der Nähe war. Hinten an der Platane bei der Straßenkreuzung sah ich einen Schutzmann stehen, aber er drehte unserem Hause den Rücken zu. Ich kletterte wieder zurück, und nun kam das Gefährlichste: den Gebundenen aus dem Hause zu schaffen, ohne daß der Schutzmann aufmerksam wurde. Die Aufgabe schien unmöglich. Aber als ob der Satan mit uns im Bunde wäre, kam in diesem Moment von der Matthäikirchstraße her ein Automobil angesaust, das seinen Weg über den Kemperplatz nach dem Tiergarten zu nahm. Mit mißbilligendem Kopfschütteln spähte der Beamte hinter dem Übeltäter her, vermutlich, um dessen Nummer zu entziffern, und zog die Uhr, um die Überschreitung der Fahrgeschwindigkeit festzustellen. Als er dann sehr umständlich und gewissenhaft in seinem Notizbuch zu schreiben begann, paßte ich den günstigen Moment ab. Mit dem ohnmächtigen Brandorff, der meinen muskulösen Armen leicht wie eine Feder schien, schlüpfte ich auf meinen lautlosen Gummisohlen aus dem Hause und glitt, gedeckt durch den hinter mir folgenden Mohl, in eine Seitenstraße, wo ein Wagen Mohls, den dieser selbst lenkte, schon bereit stand. Da hinein luden wir Brandorff, und Mohl fuhr mit ihm ab.

Vorläufig war unser Fluchtplan vereitelt.

Als Herr Soltau verhaftet wurde, atmeten wir erleichtert auf; nur Mohls Schwester schien plötzlich mit dieser Wendung der Dinge nicht zufrieden. Als dann aber die Freilassung Soltaus erfolgte, gestaltete sich die Sache für uns immer bedenklicher. Nun, nachträglich hatte niemand mehr den Mut, Brandorff kaltblütig zu ermorden. Er war schon fast dem Tode nahe, als wir beschlossen, um keine Schuld auf uns zu laden, ihn zurückzuschicken. Sie wissen, daß das geschehen ist. Aber diese Handlung war mein Verderben. Es war, als ob Mohl unwiderstehlich durch etwas an Brandorffs Haus und Familie gefesselt sei. Er war nicht dazu zu bewegen, abzureisen. Immer wieder strich er mit seiner Schwester um das Heim Brandorffs, suchte er dessen Freunde und Verwandte zu sprechen oder zu sehen, ja sogar bei seinem Begräbnis mußte er dabei sein.

Und seit dem Tage, als Brandorff begraben wurde, ist alles vorbei. Mohl geht in einem tollen Aufzuge wie ein Narr herum, und selbst seine Schwester hat keine Macht mehr über ihn. Seit diesem Tage weiß ich, daß ich mich in die Hand eines Wahnsinnigen gegeben habe und daß alle meine Hoffnungen zunichte geworden sind. Jetzt ist mir alles gleich. Machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

Endlich brach Soltau das Schweigen: »Ist Mohl hier im Haus?«

»Ja: der Schuppen im Hofe versteckt einen geheimen Eingang!«

»Ich will ihn sehen!« sagte Soltau.

»Gehen Sie nicht allein!« rief Redberg.

»Bleibe, Erich«, bat Cecily.

»Doch«, erwiderte Soltau, »ich werde allein gehen – keiner hat ein größeres Recht dazu als ich. Seid unbesorgt, mir wird nichts geschehen!« Und er verließ tief aufatmend das Haus.

Als er beim Schuppen angelangt war, machte er die Blendlaterne, die er sich von Redberg hatte geben lassen, hell. In diesem Augenblick begann der erste heftige Regen zu fallen, den man in der drückenden Schwüle der Nacht schon lange erwartet hatte. Weit hinten begann ein Gewitter in den Wolken zu kämpfen.

Soltau sah am Ende des Schuppens eine kleine Tür, stieß sie auf und fand, daß er Stufen hinabgehen mußte, die in einen langen Gang führten. Eine Eisentür schloß ihn vor zwei Nischen rechts und links in der Wand ab. Soltau blieb stehen. Hinter der Eisentür vernahm er Stimmen. Er erkannte eine Männerstimme, die langsam, in seltsam feierlichen Tönen halb sprach, halb sang. Es war wie ein exotisches Gebet. Von Zeit zu Zeit wurde der Mann durch das schrille, erregte Sprechen einer Frauenstimme unterbrochen. Dann näherte sich die Frauenstimme der Tür, und Soltau zog sich in eine Wandnische zurück. Plötzlich öffnete sich die Tür, hinter der ein Lichtschein herausstrahlte, und Soltau konnte sehen, daß ein Weib hervorkam, das die Türe wieder hinter sich zuschlug und den Gang heruntereilte. Er hatte sie erkannt: es war Frau von Zemlinska. Als sie an ihm vorbei wollte, ließ Soltau die Blendlaterne aufblitzen und packte das Weib am Arm. Sie stieß einen leichten Schreckensschrei aus, drehte sich um und erkannte sofort ihren Angreifer.

Doch in diesem Moment entriß ihm das Weib blitzschnell den Revolver. Soltau löschte sofort die Laterne, er erwartete den ersten Schuß. Aber die Frau lief wild zur Eisentür zurück und riß sie auf. Soltau folgte ihr mutig. Ohne die Gefahr zu achten, blieb er an der offenen Tür stehen, starr, in höchster Überraschung. Heller Lichtschein von vielen Kandelabern quoll ihm entgegen. Der Raum, in den er hineinsah, war mit farbensprühenden Teppichen ausgeschlagen, wie die Wohnung eines orientalischen Fürsten. Mitten im Gemach stand ein silbernes Kohlenbecken, in das ein in wallende, reiche orientalische Gewänder gekleideter Mann, unablässig Gebete psalmodierend, Räucherwerk warf. Soltau erkannte in dem Manne Hugo von Mohl. Er sah mit Entsetzen, wie der Wahnsinn in seinen Augen loderte.

Mohl bemerkte ihn gar nicht. Mit wiegenden Biegungen des Körpers schritt er auf und ab, schlug die Arme über die Brust und verneigte sich in die Luft. Soltau konnte sich vor Entsetzen kaum rühren. Wäre er jetzt überfallen worden, die Angreifer hätten leichtes Spiel mit ihm gehabt. Doch niemand beachtete ihn in diesem Moment. Frau von Zemlinska stürzte auf ihren Bruder zu und rief ihm ins Gesicht: »Du wahnsinniger Schwächling! Du hast uns ins Verderben gestürzt, nur um dieser verwünschten Opale willen!« Soltaus Blick fiel bei diesen Worten auf den weißen Ledergurt, der Mohl schmückte und aus dem glühend wie zwei Tigeraugen die geraubten Opale bunte Feuer sprühten.

In diesem Moment erhob das Weib die Hand und schrie: »Du Schurke, nimm das für deinen Wahnsinn!«

Ein Schuß knallte, und Mohl sank getroffen, lautlos zu Boden. Da kam Soltau zu sich. Er stürzte auf die Rasende zu und wollte ihr die Waffe entreißen. Doch als hätte sie das geahnt, entging sie ihm mit einem Seitensprung. Schon glaubte er ihr im Zweikampf gegenüberzustehen, da ließ sie zu seinem grenzenlosen Erstaunen den Revolver plötzlich sinken. Sie trat vor ihn hin, und ihr Mund sprudelte wilde Worte hervor:

»Ich weiß – alles ist aus, alles ist verloren! Durch diesen Menschen da, der jetzt tot ist, diesen Schwächling, den ich haßte! Aber Sie hasse ich nicht, Soltau. Nein, ich liebe Sie, so wie ich den andern haßte! – Oh, sehen Sie mich nicht so starr an, ich liebe Sie ja! Ich will weit fort von hier – kommen Sie, fliehen Sie mit mir, retten Sie mich, lassen Sie mich ein neues Leben anfangen! Oh, ich bin ein starkes Weib, ich kann viel erreichen mit einem Mann, den ich liebe! Hören Sie mich, Soltau?«

Erich Soltau stand bei dieser unerwarteten wilden Liebeserklärung sprachlos da. Er vermochte nicht eine Silbe zu antworten. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf. Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Er wandte sich um und erblickte Redberg und Sanders, die ihm zu seiner Sicherheit nachgegangen waren. Sie waren zu spät gekommen, um den Mord des rasenden Weibes zu verhindern, aber seine stammelnden Liebesworte hatten sie mit angehört. Auch Cecily, die, von Sanders' breiter Gestalt verdeckt, in der Tür gestanden, hatte sie vernommen. Mit einem bangen Laut drängte sie jetzt an den beiden Männern vorbei und stand im nächsten Augenblick neben Soltau.

»Erich«, flüsterte sie und schmiegte sich dicht an ihn.

Da richtete sich Soltau hoch auf. Mit einer innigen Bewegung legte er seinen Arm um das zitternde Mädchen.

»Nein!« rief er Frau von Zemlinska entgegen, die ihn mit ihren brennenden Augen so unverwandt anstarrte, als sähe sie außer ihm keinen anderen Menschen im Raume. »Nein, das wird nie sein!«

Das Weib vor ihm schrie laut auf: »So bin ich nichts mehr auf der Welt! Alles ist zu Ende!« Und ehe Soltau und die anderen einen Schritt tun konnten, knallte die Schußwaffe in ihrer Hand zum zweiten Male dröhnend auf, und mit zerschmetterter Schläfe fiel das schöne Weib zu Boden.

*

Fast ein Jahr war seit diesen Ereignissen vergangen. Der Überlebende der Verbrecher, der Diener John, büßte seine Beihilfe zu der Tat im Gefängnis. Bei seiner Bestrafung war ihm die Fürsprache für Brandorffs Leben als mildernder Umstand angerechnet worden.

Vom Falle Brandorff, der soviel Aufsehen erregt hatte, war es still geworden.

Rechtsanwalt Sanders saß in seinem Bureau und arbeitete. Er war etwas älter geworden, einige Haare wurden schon leise grau, Fältchen spielten um seinen Mund. Es klopfte an die Tür.

»Darf man eintreten?« fragte eine Stimme.

»Ah, du bist es, Erich!« rief Sanders, ohne den Kopf zu wenden. »Komm nur herein!«

»Aber ich bin nicht allein, Sanders!« rief Soltau.

Sanders wandte sich schnell um: In der Tür stand in reizender Verwirrung Cecily Brandorff.

»Lieber Sanders«, sagte Soltau, »darf ich dir meine Braut vorstellen? Wir haben soeben das Aufgebot besorgt, und ich hielt es für unsere Pflicht, unseren ersten Besuch dir abzustatten!« Und mit komischer Feierlichkeit stellte er vor: »Herr Rechtsanwalt Sanders – Fräulein Cecily Brandorff – bald Cecily Soltau!«

Doch Cecily unterbrach ihn: »Nein, lieber Sanders, wir sind nicht nur gekommen, um Scherze zu machen, sondern auch, um etwas sehr Ernstes zu erledigen. Sie sollen nämlich nicht nur unser Trauzeuge, sondern auch unser Notar werden.«

»Was ich hiermit feierlich annehme«, erwiderte Sanders lächelnd.

»Schön«, sagte Cecily ernst. »Wir möchten Sie um etwas bitten. Sehen Sie, ich möchte Erich nicht heiraten, ehe ich nicht weiß, daß diese Unglückssteine, die Opale, die meinem armen Vater das Leben gekostet haben, ganz aus unserer Nähe verschwunden sind. Ich würde sonst als Erichs Frau nicht eine ruhige Stunde mehr haben. Hier nehmen Sie sie und stellen Sie die Steine dem rechtmäßigen Eigentümer zu!«

Und im Bureau des Rechtsanwalts strahlten die indischen Riesenopale zum letzten Male vor Europäeraugen auf in ihrem mächtigen Glanze, der mit seinem schillernden Funkeln von den bunten Leidenschaften der Menschenseele, ihrem Glück und ihrem Unheil zu sagen schien.


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